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PSYCHO/012: ... und tief ist sein Schein (12) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Alexander Kalwin sah in Jeans und T-Shirt bedeutend jünger aus als in seinem Arztkittel, zumal er auch seinem dichten blonden Haar gestattet hatte, ein wenig über Streichholzlänge hinauszuwachsen. Mit einem gönnerhaften Lächeln drückte er Viola ein großes Stofftier in den Arm, das einer undefinierbaren, aber in seiner Widerborstigkeit ungemein putzig dreinblickenden Spezies angehörte. "Ich glaube, dieser Bursche hat ungfähr dieselbe Wellenlänge wie Sie", kommentierte er sein Mitbringsel. "Ich dachte, es ist Ihnen angenehm, wenn Sie ein wenig Verstärkung bekommen."

"Ich fühle mich eigentlich schon wieder ganz kräftig", entgegnete Viola trocken. "Davon abgesehen ist meine Mutter in ihrem Arbeitszimmer, und wenn ich nach ihr rufe, kommt sie her und redet Sie mausetot." Sie führte ihn durch das gemütliche, helle Wohnzimmer hinaus auf den Balkon, wo der Tisch bereits gedeckt war und eine Flasche italienischer Rotwein verheißungsvoll in der Abendsonne funkelte, die durch die Zweige der alten Alleebäumen schien.

"Setzen Sie sich und harren Sie der Dinge, die da kommen werden", deutete Viola einladend auf einen der bequemen Gartenstühle, bevor sie in Richtung Küche entschwand. Dr. Kalwin hörte sie dort eifrig hantieren. Hätte sie nicht die Anwesenheit ihrer Mutter erwähnt, dann könnte dies der perfekte Rahmen für ein romantisches Tête-à-tête sein, dachte er. Normalerweise war er bei Treffen mit seinen Mitarbeiterinnen darauf bedacht, eine allzu private Atmosphäre zu meiden. Doch bei Viola Jochimsen brauchte er keinerlei Bedenken zu hegen. Und gerade ihre nüchterne Freundlichkeit ihm gegenüber war es, die ihn reizte, sie näher kennenzulernen, als es für eine reibungslose Zusammenarbeit unbedingt nötig war.

Er steckte sich gerade eine Zigarette an, als eine ältere Dame vorsichtig durch die Balkontür lugte.

"Guten Abend", sagte Dr. Kalwin etwas überrascht, aber als er sich ihr vorstellen wollte, winkte sie hastig ab und legte beschwörend den Finger auf die Lippen.

"Seien Sie bloß still", flüsterte sie ihm zu, "meine Tochter kann es nämlich nicht leiden, wenn ich mich mit ihren Gästen unterhalte. Sie sagt immer, ich sei klatschsüchtig und könne nichts für mich behalten. Na ja", seufzte Frau Jochimsen senior in komischer Verzweiflung, "vermutlich hat sie sogar recht. Aber schließlich will eine Mutter doch wissen, wie ihr künftiger Schwiegersohn aussieht", schloß sie mit einem Anflug von Trotz.

Dr. Kalwin hielt den letzten Satz für einen nicht sonderlich geistreichen Scherz der alten Dame und musterte sie amüsiert. Gewisse Ähnlichkeiten mit der Tochter waren unverkennbar, vor allem die Augen stimmten auffällig überein. "Ich will Viola nicht loben, aber sie hat einen guten Geschmack", konnte Frau Jochimsen sich offenbar nicht verkneifen zu bemerken. "Stimmt es, daß Sie nicht nur Arzt, sondern sogar Stationschef sind?"

"Wenn Ihre Tochter das gesagt hat, wird es wohl stimmen", wurde Dr. Kalwins Stimme eine Nuance kühler. Er haßte es, wenn bewundernd auf seinen gesellschaftlichen Status angespielt wurde.

"Dann will ich mal wieder gehen", meinte Frau Jochimsen nun offenbar fürs erste zufriedengestellt. "Und im übrigen glaube ich meiner Tochter nicht, daß ein Mannsbild wie Sie gleich das Weite sucht, wenn vom Heiraten die Rede ist", flüsterte sie ihm noch verschwörerisch zu, bevor sie eilig durch das Wohnzimmer entschwand.

Dr. Kalwin sah ihr nachdenklich nach und konnte sich eines leichten Unbehagens nicht erwehren, obgleich er eigentlich nicht daran zweifelte, daß Viola Jochimsen zwar an einer angenehmen Arbeitsatmosphäre, aber nicht an einer privaten Beziehung zu ihm gelegen war. Sicherlich war ihrer Mutter beim Gedanken daran, daß der Chef ihrer Tochter zum Essen kam, die Phantasie durchgegangen, was für ihn wirklich nichts Neues war. Er nahm sich vor, die Begebenheit einfach zu vergessen.

Gerade erschien Viola mit zwei köstlich duftenden Pizzastücken von beachtlicher Größe. Ohne viel Aufhebens stellte sie eines vor sich und eines vor ihn hin. "Sie müssen entschuldigen, aber ich gebe nichts auf Gastgeber-Rituale", sagte sie, füllte ihr Glas mit Rotwein und reichte ihm die Flasche. "Essen und trinken Sie, soviel Sie mögen, fühlen Sie sich wie zu Hause und erwarten Sie nicht von mir, daß ich mich als Gastgeberin aufführe, nur weil ich Sie eingeladen habe. Es erschien mir einfach ein geeigneter Rahmen, um mit Ihnen so eine Art Waffenstillstand auszuhandeln."

"Wie ein Friedensangebot klingt das nicht gerade", entgegnete Dr. Kalwin lächelnd.

"Und doch kann man mit etwas gutem Willen Hund und Katze dazu bringen, aus einem Napf zu fressen", konterte Viola und schob sich demonstrativ ein Stück Pizza in den Mund.

"Eigentlich schade, denn ich hatte insgeheim auf eine weitere Lektion in Sachen weiblichen Listenreichtums gehofft", versuchte er sie zu provozieren.

"Ohne männliche Überheblichkeit wäre wohl auch die weibliche List kaum erwähnenswert", ging Viola scheinbar darauf ein. "Vielleicht ist damit ihrem Wissensdurst in dieser Angelegenheit für heute Genüge getan und sie nehmen fortan mit dem schlichten Landwein vorlieb."

"Meinen Sie nicht, daß Überheblichkeit einfach nur eine wenig populäre Form der Ehrlichkeit ist?"

Viola sah in seinen Augen wieder jenes raubvogelhafte Glitzern, das seinen Willen verriet, sie in die Enge zu treiben, und sei es nur verbal. Es wird Zeit, den Spieß umzudrehen, dachte sie, sagte aber mit einem feinen Lächeln, das für ihn nicht zu deuten war:

"Man merkt sofort, daß Sie ein Mann von hohen Wertbegriffen sind."

"Viola, kommst du bitte einmal", hörten sie in diesem Moment Violas Mutter schüchtern vom Flur aus rufen.

"Ich komme schon", erhob Viola sich und eilte ohne weitere Erklärung davon, um jedoch bald mit einem etwas ratlosen Gesichtsausdruck wieder auf dem Balkon zu erscheinen.

"Meine Mutter hat vergessen, ihre Herztropfen bei der Apotheke abzuholen", zuckte Viola hilflos die Schultern. "Und sie hat keine Ruhe, wenn ihre Tropfen nachts nicht ständig zur Hand sind. Es sieht also ganz so aus, als müßte ich in die Stadt zur nächsten Apotheke fahren, die heute Notdienst hat."

"Den Umstand kann ich Ihnen sicherlich ersparen", erbot Dr. Kalwin sich, wie sie insgeheim gehofft hatte. "Ich rufe in der Klinikapotheke an und lasse Ihnen die Tropfen vorbeibringen."

"Wenn das möglich wäre, täten Sie meiner Mutter damit sicherlich einen großen Gefallen", lachte Viola ihn harmlos an. "Sie stirbt nämlich fast bei dem Gedanken, mir den Abend verdorben zu haben."

"Wenn Sie mir den Namen des Medikaments sagen und mir zeigen, wo das Telefon steht, kann ich die Sache gleich erledigen", erhob er sich und nutzte die Gelegenheit, ihr gegenüber seine körperliche Überlegenheit zu demonstrieren, indem er nicht gleich an ihr vorüber ins Wohnzimmer trat, sondern einen kurzen Augenblick wie überlegend auf sie herabsah.

"Dort links bitte", deutete Viola unbeeindruckt auf den Apparat, der auf einem zierlichen Sekretär stand. Als er zum Telefon ging, verschwand sie mit den leeren Tellern und dem Besteck in der Küche.

Während Dr. Kalwin darauf wartete, daß in der Klinikapotheke jemand den Hörer abnahm, glitt sein Blick über die Zeitschriften, die in bunter Unordnung teilweise geöffnet auf dem Sekretär verstreut lagen. Unwillkürlich blieb sein Blick an einer Kugelschreibernotiz hängen, die aus dem Wirrwarr herausragte. Die Buchstaben A.K. waren eingekreist und mit der Ziffer 2 versehen. Nur weil es sich zufällig um seine Initialen handelte, zog er das Heft hervor. Es war die letzte Ausgabe eines Ärztemagazins und jemand hatte sich auf der Seite mit den Heiratsanzeigen Notizen gemacht.

Ein gewisser Prof. Dr. Bittner war eingekreist und mit der Ziffer 1 versehen, ein Chirurg namens Feldmark trug die Nummer 3. Beide waren angeblich sportlich, kultiviert, etwa in seinem Alter und suchten eine Lebensgefährtin. Im ersten Moment wußte Dr. Kalwin nicht, ob er über sich selbst lachen oder sich ärgern sollte. Wenn A. K. tatsächlich seine Initialen waren, dann hatte die alte Frau Jochimsen doch nicht phantasiert. Ihre Tochter befand sich offenbar auf der Suche nach einem Ehemann. Und ein Arzt sollte es sein.

Dann war ihre angebliche Abneigung gegen ihn also nur ein raffinierter Versuch, sein Interesse zu wecken. Und dabei war er noch nicht einmal die Nummer 1. Dr. Kalwin entschied sich schließlich dafür, sich nicht zu ärgern. Er hatte sich als Jäger gefühlt, und war doch als Opfer ausersehen gewesen. Wie gut, daß die alte Dame ihn heimlich aufgesucht hatte, sonst würde er wie ein Trottel in die gestellte Falle tappen und sich dabei womöglich noch als Eroberer vorkommen. So war es Viola Jochimsen ungewollt doch noch gelungen, ihm eine weitere Lektion in weiblicher List zu erteilen. Zum Glück hatte er sie noch rechtzeitig begriffen.

Als die Klinikapotheke sich endlich meldete, schob Dr. Kalwin die Zeitungen wieder übereinander und bestellte das gewünschte Medikament. Dann trat er äußerlich gelassen wieder hinaus auf den Balkon, wo Viola ihn bereits erwartete.

"Ich hätte lieber nicht anrufen sollen", sagte er und zuckte in gespielter Resignation die Schultern."

"Warum nicht?" fragte Viola verwundert.

"Mein Stellvertreter braucht meine Hilfe auf Station E", log er völlig ungeniert. "Ich soll so schnell wie möglich hinkommen. Das Medikament wird Ihnen selbstverständlich von einem Boten vorbeigebracht."

"Ach, das ist ja wirklich ärgerlich", gab Viola sich nun so enttäuscht, wie es eigentlich nicht zu ihrem bisherigen Gebaren paßte. "Aber da ist wohl nichts zu machen."

Während sie Dr. Kalwin kurz darauf zur Tür begleitete, machte sie ein Gesicht, als hätte ihr jemand soeben die Wurst vom Brot gestohlen.

"Vielen Dank für den netten Abend, und grüßen Sie bitte Ihre Mutter von mir", sagte Dr. Kalwin noch, als er schon die ersten Treppenstufen hinuntergeeilt war.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 15. Mai 1997

19. Januar 2007