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PSYCHO/029: ... und tief ist sein Schein (29) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Als Preacher das Labor betrat, die schmächtige Gestalt flankiert von den beiden hünenhaften Pflegern, und sein blasses Gesicht bei Violas Anblick unwillkürlich vom Anflug eines Lächelns erhellt wurde, spürte sie, wie ihr ungewollt die Tränen in die Augen stiegen, so sehr überwältigte sie die Präsenz all dessen, was sie verband.

Nachdem die Pfleger Preacher routinemäßig festgeschnallt und den Raum wieder verlassen hatten, wandte er sich ihr mit der gleichen selbstverständlichen Leichtigkeit zu, als hätte er erst gestern vertraulich mit ihr gesprochen, und sagte:

"Da hegt, Viola, ein Mensch seinem Anliegen gegenüber Schwanken und Zweifel; er kommt nicht zum Vertrauen, kommt nicht zur Sicherheit. Wer aber seinem Anliegen gegenüber schwankt und zweifelt, nicht zum Vertrauen, nicht zur Sicherheit kommt, der ist nicht geneigt zur steten Bemühung, zur Hingabe, zur Ausdauer, zum Kämpfen."

Der Klang von Preachers Stimme bestärkte Viola in der Gewißheit, dorthin zurückgekehrt zu sein, wo sie immer hatte sein wollen. Alle Beklemmung, von der sie noch vor wenigen Tagen beim bloßen Gedanken an ihn niedergedrückt worden war, hatte einer tiefen Verbundenheit und vorbehaltlosen Zuneigung Platz gemacht. Die Probleme, die ihr das eigene Leben so trostlos erscheinen ließen, waren nebensächlich geworden. Sie war nicht mehr allein.

Jetzt, wo Preacher von der steten Bemühung und vom Kämpfen sprach, wurde ihr jählings klar, daß sie sich eingebildet hatte, er würde ihr ähnlich einer Formel sein Wissen vermitteln, wodurch es unmittelbar in ihren Besitz überging. Nun erkannte sie, daß die Dynamik, die Preacher freizusetzen in der Lage war, niemals auf diese Art vereinnahmt oder konserviert werden konnte.

"Es erschreckt mich immer mehr", erwiderte sie daher ernst, "wie schnell und nachhaltig ich vergessen konnte."

"Ebensowenig, wie ein einziges Foto eine Bewegung zu bewahren vermag, bleibt eine Unterweisung demjenigen erhalten, der in Reglosigkeit verharrt, der die Bemühung aufgibt, die Hingabe, die Ausdauer, das Kämpfen", setzte Preacher ihr auseinander. Dabei wirkte er jedoch so unbeschwert, als würde er mit ihr über Belanglosigkeiten plaudern.

Viola machte diesmal keinerlei Anstalten, die Elektroden an Preachers Kopf zu befestigen, um ein EEG aufzuzeichnen. Sie mochte sich einfach nicht dazu überwinden, auch nur eine Minute der kostbaren Zeit zu verschwenden, die sie mit ihm verbringen konnte. Für Dr. Kalwin würde sie später immer noch eine passende Begründung finden.

Preacher schien nicht darüber verwundert, daß sie sich ihm gegenüber auf einem Drehstuhl niederließ und ihn forschend ansah. Sie hatte bisher noch keinen Anhaltspunkt dafür entdeckt, daß er ihr in irgendeiner Weise nachtrug, wie weit sie sich in den vergangenen Wochen von ihm entfernt hatte. Daran, daß er es wußte, hegte sie keinen Zweifel, denn für jemanden wie ihn mußten ihre Fluchtbestrebungen so durchschaubar gewesen sein wie die einer Maus, über die der Schatten eines Vogels hinweggleitet.

Davon abgesehen hatte sie inzwischen gelernt, in seinen haselnußbraunen Augen mehr zu erkennen als aufrichtiges Wohlwollen, nämlich ein unbestechliches, stocknüchternes und ungemein präzises Einschätzungsvermögen. Preacher wußte zweifellos ganz genau, woran er bei ihr war.

Obwohl Viola sein Wissen nicht mehr in Zweifel zog, kam sie doch von einer Frage nicht los, die sie schon lange beschäftigte, ohne daß sie zu einem Ergebnis gekommen war. Als Preacher jetzt vom Zweifel sprach, kam sie nicht umhin zu fragen:

"Was wäre aber, wenn ein guter Freund, mit dem man sich immer in bestem Einvernehmen befunden hat, auf einmal Dinge tut, die mit dem ursprünglich gemeinsamen Kurs nicht mehr vereinbar sind? Ist es dann nicht sogar im Sinne der alten Freundschaft, sich von ihm zu trennen?"

"Nein, nur im Sinne der Bequemlichkeit", erwiderte Preacher und schüttelte sich mit einer spielerischen Kopfbewegung das lange Haar aus dem Gesicht.

"Dann bliebe doch nur, den Freund zu begleiten, auch auf die Gefahr hin, daß man darüber selbst vergißt, was man eigentlich wollte." Preacher Äußerung schien Viola allzu sehr im Gegensatz zu seiner sonstigen Auffassung zu stehen, sich durch nichts von seiner Absicht abbringen zu lassen.

"Unversöhnlichkeit und Freundschaft sind nicht immer ein Widerspruch", sagte Preacher und sein Blick war dabei für einen kurzen Moment ernst und eindringlich. Trotz der unverhohlenen Wärme, mit der er sie ansah, gewahrte Viola darin ebenso jene Kompromißlosigkeit, die einerseits beängstigend, andererseits aber verläßlicher war als jeder Treueschwur. Und auf einmal begann sie zu verstehen, was er ihr sagen wollte.

"Solange jemand, der mir verbunden ist, sich nicht entzieht, meine Nähe nicht meidet, würde ich dem Streit nicht aus dem Wege gehen, bis wir wieder zu einem gemeinsamen Kurs gekommen sind. Ob ich oder er dabei seine Richtung ändert, ist allein eine Frage der Ernsthaftigkeit."

"Aber solch eine Auseinandersetzung kann Jahre dauern", entfuhr es Viola.

"Möglicherweise", gab Preacher freimütig zu. "Doch auf die Dauer kommt es dabei nicht an. Wichtig ist allein, daß man nicht aufhört. Doch das ist, wie du selbst erfahren hast, meist sehr schnell der Fall."

"Bist du denn gar nicht an einer Einigung interessiert?" bemühte sich Viola, seine Denkweise zu begreifen.

"Ich suche keine Kompromisse", entgegnete Preacher mit seiner sanften, schönen Stimme, die besonders in diesem Moment im Widerspruch zu seinen Worten zu stehen schien, "ich bringe Dinge zu Ende." Er lehnte sich zurück und lächelte entwaffnend. "Ich suche nicht die Ruhe, Viola, ich suche den Streit."


*


Über Violas Gesicht war bei diesen Worten ein sorgenvoller Schatten geglitten. Erst heute morgen hatte sie erfahren, daß Dr. Kalwin in wenigen Tagen wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehren würde. Dr. Beck, der mit ihm telefoniert hatte, war darüber nicht sonderlich erfreut gewesen. Schulterzuckend hatte er zu Viola gesagt, der Stationschef strotze offenbar vor Tatendrang und habe davon gesprochen, daß er sich in Zukunft der Behandlung der psychotischen Straftäter verstärkt widmen wolle.

Inzwischen kannte Viola Dr. Kalwin gut genug, um voraussagen zu können, daß er Preacher die Weigerung, ihn zu heilen, nicht ohne weiteres nachsehen würde. Und es war so einfach für einen Stationschef, sich an einem Patienten zu rächen, der als verurteilter Straftäter dem Arzt gegenüber so gut wie keine Rechte besaß.

Davon abgesehen machte Viola sich nichts darüber vor, was Dr. Kalwin mit "Behandlung" der psychotischen Straftäter meinte. Ganz gewiß würde er mit den einzelnen Patienten keine therapeutischen Gespräche führen. Bei ihm waren in solchen Fällen schwere Psychopharmaka und Elektroschocks die Mittel der Wahl. Eine eisige Faust umklammerte ihren Magen bei dem Gedanken an die Berichte von Patienten, die nach einer Schockbehandlung nur noch lallen und vor sich hinstarren konnten. Wenn Dr. Kalwin Preacher noch einmal einer Elektroschockbehandlung unterziehen sollte, würde er sicherlich dafür sorgen, daß der nunmehr verhaßte Patient nicht wieder so glimpflich davonkam.


*


"Wir werden uns nicht immer weiter treffen können", sprach Viola nach einer Weile den Gedanken aus, der sie am meisten beschäftigte. "Die Reihenuntersuchung ist bald beendet und Dr. Kalwin wird niemals dulden, daß ich mich mit einem Patienten von Station E treffe, am allerwenigsten mit dir."

"Das wird auch bald nicht mehr nötig sein", entgegnete Preacher mit der ihm eigenen, unbekümmerten Gewißheit, die Viola beim besten Willen nicht teilen konnte.

"Was ist schon wirklich nötig", zuckte sie niedergeschlagen die Schultern. "Es ist wohl nicht sonderlich phantasievoll, aber trotzdem wünsche ich mir, wir würden auf einer einsamen Südseeinsel leben. Da hätten wir genügend Kokosnüsse zu essen, ein Bett aus Palmwedeln und ich könnte dich in Ruhe alles fragen, was ich wissen will."

Preacher aber schüttelte energisch den Kopf, so daß ihm eine braune Haarsträhne ins Gesicht fiel, und sagte dann:

"Denk dir, Viola, du hättest zur Genüge, bis zur Füllung gegessen und weiltest nun dem Behagen des Lagers, dem Behagen der Ruhe hingegeben. Du könntest, sollte ich zu dir sprechen, den Sinn meiner Worte dennoch nicht begreifen. Denn ein Mensch, wenn er zur Genüge, bis zur Füllung gegessen hat, dem Behagen des Lagers, dem Behagen der Ruhe hingegeben weilt, dessen Geist ist nicht geneigt zur steten Bemühung, zur Hingabe, zur Ausdauer, zum Kämpfen."

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 12. Januar 1998

23. März 2007