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PSYCHO/031: ... und tief ist sein Schein (31) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Viola verhielt einen Augenblick den Schritt, als sie seine Stimme erkannte. Sie hatte mit seiner Rückkehr erst in ein paar Tagen gerechnet. Nun befand sie sich gerade mit einem Stapel Krankenakten unter dem Arm auf dem Weg zu Dr. Beck. "Das mag ja bisher ausgereicht haben, Schwester Monika. Aber ab heute werden Sie es ändern müssen." Seine befehlsgewohnte Stimme klang souverän und gelassen wie immer, und Schwester Monika versicherte sogleich beflissen, die gewünschte Änderung vorzunehmen.

Ausgerechnet als Viola an dem Raum vorüberging, aus dem sie die Stimmen gehört hatte, trat Dr. Kalwin auf den Flur hinaus. Wenn Dr. Beck die Station in seiner Abwesenheit auch gewissenhaft geleitet hatte, so machte die Rückkehr Dr. Kalwins deutlich, wie wenig sein Stellvertreter ihn tatsächlich zu ersetzen vermochte. Die selbstverständliche Autorität, die ihn wie ein Fluidum umgab, konnte Dr. Beck weder durch seine unbestrittene Sachkenntnis noch durch Freundlichkeit und Fairneß gegenüber seinen Untergebenen wettmachen. Dr. Beck, der hinter Dr. Kalwin auf den Flur hinaus getreten war, verblaßte neben dessen kraftvoller, charismatischer Erscheinung fast bis zur Farblosigkeit.

Als Dr. Kalwin Viola sah, unterbrach er sofort das Gespräch mit seinem Stellvertreter und wandte sich ihr zu, wobei der Blick seiner stahlgrauen Augen für einen Sekundenbruchteil seine strenge Sachlichkeit verlor. Nie war Viola bewußter gewesen -vielleicht, weil ihr selbst die Klarheit gefehlt hatte -, daß er trotz seines berüchtigten Scharfblicks nicht erkannte: Sie war ein Fremdkörper in seiner Welt, ein Virus, sie war sein Feind.

"Guten Morgen, Frau Jochimsen", sagte er in herzlichem Ton, der bei ihm Seltenheitswert hatte, doch zu Violas Erleichterung jeder plumpen Vertraulichkeit entbehrte. "Es trifft sich gut, daß Sie mir über den Weg laufen. Ich wollte Sie ohnehin für heute nachmittag um eine Unterredung bitten. Ließe sich das eventuell einrichten?"

"Guten Morgen, Dr. Kalwin. Bestimmt kann ich mich nachher eine Viertelstunde frei machen", gab Viola sich Mühe, gleichmütig-erfreut zu wirken. In ihrem Innern jedoch verspürte sie den unwiderstehlichen Drang, sich ihm als Gegnerin zu erkennen zu geben, ihm auf unmißverständliche Weise den Krieg zu erklären. Gleichzeitig wußte sie, daß er ihren Gesinnungswandel nicht mitvollziehen konnte, denn ihr waren auch erst bei ihrem letzten gemeinsamen Abendessen die Augen über seine Einstellung aufgegangen. Wenn sie also weiterhin in Preachers Nähe bleiben wollte, konnte sie sich Offenheit nicht leisten. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, sich jemanden wie Dr. Kalwin zum Feind zu machen. Daher galt es, sich nichts anmerken zu lassen und einer Konfrontation aus dem Wege zu gehen, so lange es eben ging.

Dr. Kalwin nickte ihr wohlwollend zu und nahm dann sein Gespräch mit Dr. Beck wieder auf, der über den respektvollen Umgang des Stationschefs mit seiner MTA ehrlich verwundert schien. Letzterer bat gewöhnlich nicht um eine Unterredung, sondern ließ den betreffenden Mitarbeiter von seiner Sekretärin kurzerhand herbeizitieren.

Sicherlich hätte Viola sich noch vor einigen Wochen durch diese bevorzugte Behandlung geschmeichelt gefühlt, denn da hatte sie noch verzeifelt Halt bei jenen gesellschaftlichen Kräften gesucht, die Dr. Kalwin so nonchalant repräsentierte. Jetzt aber, wo es für sie keinen Zweifel mehr gab, daß sie den Werten, denen er huldigte, mehr als ablehnend gegenüberstand, wuchs in ihr die Gewißheit, daß sie nicht mehr lange um eine eindeutige Stellungnahme herumkommen würde.

Beunruhigt dachte Viola darüber nach, was er wohl mit ihr Dringliches zu besprechen hatte, da er sich gleich an seinem ersten Arbeitstag Zeit dafür nahm. Hatte Dr. Beck ihm erzählt, daß vorübergehend ein Assistenzarzt Preachers EEGs übernehmen mußte? Wollte er sie vielleicht endgültig von dieser Aufgabe entbinden in dem Glauben, ihr einen Gefallen zu tun? Viola mußte ihren bedrückenden Gedanken gewaltsam Einhalt gebieten, denn wenn sie Dr. Kalwin gegenübersaß, durfte sie nicht von Befürchtungen bestimmt werden. Nicht nur Aggressivität verriet, daß man jemanden als Feind betrachtete, sondern auch Ängstlichkeit. Und Dr. Kalwin besaß immerhin Menschenkenntnis genug, das zu wissen. Wenn sein Instinkt ihm erst einmal sagte, daß mit ihr etwas nicht stimmte, würde er nicht locker lassen, dieser Ahnung auf den Grund zu gehen.


*


Dr. Kalwins Sekretärin übermittelte mit deutlichem Widerstreben den Wunsch ihres Chefs an Viola, sie möge gleich zum Sprechzimmer durchgehen, er würde sie bereits erwarten. Viola registrierte sehr wohl den abschätzenden Blick, der ihr zugeworfen wurde. Die Sekretärin des Stationschefs, die sich sehr vornehm gebärdete, hatte den Ruf, ihren Chef mit unnachsichtiger Strenge vor Belästigungen durch liebesselige Krankenschwestern oder anderes weibliche Personal zu schützen, indem sie die Anlehnungsbedürftigen mit verachtungsvollen Blicken und nadelspitzen Bemerkungen derart traktierte, daß sie zumindest vorläufig von dem Versuch absahen, ihr Idol mit einem Besuch zu beehren.

Viola konnte die Pflichtbewußte mit dem vielgeübten, stechenden Blick nur ein Lächeln abringen. Sie hatte nach der Begegnung am Morgen längst ihre Sicherheit wiedergefunden und glaubte, nichts könne sie heute mehr so leicht aus der Bahn werfen. Gleich nachdem sie kurz und energisch an die Tür geklopft hatte, wurde ihr schwungvoll geöffnet.

"Kommen Sie herein, Frau Jochimsen", lächelte Dr. Kalwin mit einem Anflug von Unsicherheit auf sie herab, weshalb Viola sofort vermutete, daß es bei dieser Unterredung eher um eine private als eine berufliche Angelegenheit ging. Denn auf letzterem Gebiet war seine Selbstsicherheit kaum zu erschüttern. Die Tatsache, daß ihr Vorgesetzter keinen Arztkittel trug, sondern ein schlichtes schwarzes Polohemd - wohl wissend, wie gut es ihm stand -bestätigte Violas Vermutung. Ich darf mich zu keiner Unachtsamkeit hinreißen lassen, dachte sie, während sie das betont funktional-gediegen ausgestattete Sprechzimmer betrat.

"Ich muß gestehen, ich freue mich schon lange darauf, Sie wiederzusehen", fing Dr. Kalwin ohne Umschweife an zu sprechen. "Daher müssen Sie mir nachsehen, daß ich Sie jetzt mit einem Anliegen überfalle, das eigentlich nach einem anderen Rahmen verlangt." Er deutete mit einer entschuldigenden Gebärde auf die farbigen Abbildungen menschlicher Gehirnanomalien, die nachlässig an eine Pinnwand geheftet waren.

Viola mußte unwillkürlich erbleicht sein, denn Dr. Kalwin hob in beschwichtigender Gebärde seine kräftigen, gepflegten Hände. "Keine Angst, ich will Ihnen nicht die Pistole auf die Brust setzen, ich bin selbst kein Freund übereilter Entschlüsse. Hören Sie mich also erst einmal an." Er setzte sich neben Sie in einen der wuchtigen Sessel, die vor dem Schreibtisch standen. Für ihn gab es keinen Grund, sich darin klein und schmächtig vorzukommen. "Mögen Sie vielleicht einen Becher Kaffee?" fragte er beinahe fürsorglich. Viola schüttelte den Kopf. Es ärgerte sie, daß Sie dazu verdammt war, sich wie ein Kaninchen in der Falle vorzukommen, anstatt ihm kühl und klar ihre Abneigung zu zeigen. Aber Sie durfte sich jetzt nicht gehenlassen.

"Daß Sie mir sehr sympathisch sind, wissen Sie sicherlich", steuerte Dr. Kalwin nun unumwunden auf sein Anliegen zu. "Und daß ich es seit einiger Zeit satt habe, allein zu leben, können Sie sich vielleicht auch denken. Was Sie aber nicht wissen ist, daß ich vor Ihnen noch niemals einem Menschen begegnet bin, den ich vollkommen respektieren konnte, ohne ihn auch nur im Ansatz zu begreifen." Er sah sie an wie eine rätselhafte und gleichzeitig faszinierende Erscheinung. "Ich empfinde Achtung für Sie, ohne eigentlich zu wissen, weshalb."

"Vielleicht wäre es damit vorbei, sobald Sie das Dickicht meiner Seele ergründet haben", wandte Viola in scherzhaftem Ton ein.

"Ich glaube nicht, daß mir das gelingen könnte", sagte er und sah sie dabei so eindringlich an, daß sie bereits fürchtete, zuviel von ihren wahren Gedanken preisgegeben zu haben. "Aber ich würde es gern versuchen. Könnten Sie sich daher mit dem Gedanken anfreunden, mehr für mich zu sein als eine liebenswerte Mitarbeiterin?"

"Fürchten Sie gar nicht, einer ganz gefährlichen Männerjägerin ins Netz gegangen zu sein, der es sogar gelungen ist, dem Dolchblick Ihrer unerbittlichen Sekretärin zu trotzen?" versuchte Viola durch einen Scherz die ernste Atmosphäre aufzulockern.

"Ich habe mich nach langem Zögern entschlossen, dieses Risiko in Kauf zu nehmen", zuckte es amüsiert um seine Mundwinkel. Doch dann wurde sein Gesicht tiefernst.

"Überlegen Sie es sich in Ruhe. Ich werde Sie nicht bedrängen. Und Sie können sich darauf verlassen, daß ich mir Ihnen gegenüber bei der Arbeit keinerlei Vertraulichkeiten herausnehmen werde. Doch legen Sie mir das bitte nicht als mangelndes Interesse aus. Sie bedeuten mir mehr, als mir lieb ist, denn es widerstrebt mir im Grunde, nicht vollkommen Herr meiner Gefühle zu sein, wenn ich das einmal so ausdrücken darf. Daher möchte ich Sie noch um eines bitten, und das ist mir sehr ernst." In seine Augen trat ein undefinierbarer Ausdruck, bevor er schließlich mit leicht gedämpfter Stimme weitersprach: "Spielen Sie nicht mit mir, davor muß ich Sie ernstlich warnen. Spielen Sie nicht mit mir."

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 26. Januar 1998

30. März 2007