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BERICHT/084: Der Wanderer (ver.di PUBLIK)


ver.di PUBLIK - 03/2010
Solidarität im neuen Format

Der Wanderer

Rainer Brämer befasst sich wissenschaftlich mit dem Wandern.
Mit dem deutschen Wanderinstitut e.V. hat er das deutsche Wandernetz
modernisiert, ausgebaut und bereichert

Von Edith Kresta


Lohra liegt in der Mitte Deutschlands. "Es hat genau die Landschaft, die Naturpsychologen zu den weltweit gefälligsten Landschaftstypen zählen", sagt Rainer Brämer. Er weiß es: Brämer ist studierter Physiker und widmet sich seit 1991 wissenschaftlich dem Thema Natur, Jugend, Landschaft, speziell dem Wandern. Der Wanderpapst wird er deshalb genannt. Er wohnt seit 30 Jahren im hessischen Lohra mit seiner Frau Christa, die als ehemalige Lehrerin Jugendliche aus dem Ort in Englisch unterstützt. Mit Hilfe des Riesenhundes Bella. "Sit down!" Der riesige Schmusehund hört sofort.

"Vom Physiker habe ich den gesunden Skeptizismus", sagt Brämer bei alkoholfreiem Weizenbier in der rustikalen Vollholzküche in seinem Haus. "Aber die Soziologie hat mich immer viel mehr interessiert. Und gewandert bin ich schon immer. Heute als Scout für neue Wege, früher als Hobbywanderer. Wandern ist meine Leidenschaft." Und diese aktive Leidenschaft fürs Gehen im deutschen Mittelgebirge hat der Wissenschaftler Brämer mehr und mehr erforscht, erkundet und zum Beruf gemacht. Fast jeden Tag treibt er ihn vor die Tür.


Er liebt die Landschaft, sie inspiriert ihn

In den siebziger Jahren verabschiedet sich Brämer von der experimentellen Physik. Fortan beschäftigt ihn der naturwissenschaftliche Unterricht an Schulen und Hochschulen in beiden deutschen Staaten. Seine Gedanken kreisen dabei immer mehr um die Naturpädagogik und die Natursoziologie. Seit 1992 untersucht er an der Universität Marburg vor allem das Verhältnis von Jugendlichen zur Natur. Dazu hält der 1943 in Brandenburg geborene und in der Lüneburger Heide aufgewachsene Brämer noch heute ein Seminar in Marburg. "Die Arbeit mit den Studenten bereichert mich sehr", sagt er. Auch ansonsten ist er seit seinem Ruhestand als Unidozent aktiv: als Gründungsmitglied und mittlerweile Ehrenvorsitzender des Deutschen Wanderinstituts e.V. sowie als Leiter von dessen "Forschungsgruppe Wandern und Natur". Rainer Brämer winkt in sein Arbeitszimmer und zeigt durchs Fenster auf die offene Feld- und Wiesenlandschaft mit leichten Hügeln. "Ich liebe die Landschaft. Sie inspiriert mich." Heute, sagt er, sei das Hauptthema seiner Forschung Naturentfremdung in der hoch technisierten Welt. Gerade sitzt er an dem fünften Jugendreport Natur. "Wir befragen 3 500 Jugendliche in Deutschland zu ihrem Verhältnis zur Natur." Schon 1997 hat er dieses Verhältnis in Aufsätzen als "Bambi-Syndrom" definiert. Als ein süßliches Bild von einer schutzbedürftigen Natur.

"Ich will der Natur helfen", sagen drei Viertel der Jugendlichen einfach so. "Wir alle kranken am Bambi-Syndrom", sagt Brämer. Mit seinem "gesunden Skeptizismus" schreibt und lehrt er dagegen an: "Das süßliche Bild von der Natur ist fatal, weil wir ja alle von der Natur leben. Weil dadurch der Nachhaltigkeitsbegriff nicht verstanden wird. Nachhaltigkeit geht vom ausgewogenen Nutzen der Natur aus. Das wird verdrängt." Er nennt es den Störenfried-Komplex.

Die Studien sagen auch, dass seit Anfang dieses Jahrzehnts Kinder und Jugendliche die Natur langweilig finden. Spiele im Internet sind interessanter. "Im Alter von Mitte 20 beobachten wir bei Studenten eine Rückwendung zur Natur. Unter Wanderern gibt es generell eine sehr hohe Quote von Hochschulabsolventen. Das hat mit der sitzenden Tätigkeit zu tun, mit dem Drang nach draußen." Irgendwann schaffe man es nicht mehr, die Reize abzuwehren, und muss raus in die Natur, wie er selbst. Die Natur gegen mentale Erschöpfung. Die Naturpsychologen wissen auch, wie schöne Landschaft auszusehen hat: "Es ist die offene Parklandschaft, naturnah, mit Gewässern, Aussichten, sanftem Verlauf, klaren Konturen. Ein Teich mit Bäumen erzeugt weltweit das gleiche Wohlempfinden", sagt Brämer.


Er will das Wanderwegnetz erneuern

An solchen wissenschaftlichen Ergebnissen orientieren sich die Wanderungen auf den Premiumwegen, die Brämer mit den Mitarbeitern des deutschen Wanderinstituts kreiert hat. Sie haben damit das Wandern modernisiert. Bis dahin war es ungewöhnlich, dass sich die Wissenschaft mit dem Wandern beschäftigt. Brämer referiert schon Mitte der 90er bei den deutschen Wandervereinen über zu viel Asphalt, zu viel Straße, zu viel Stadt. "Die Wandervereine haben meine Ausführungen oft als Angriff auf ihre Tätigkeit gesehen. Es gab viele Missverständnisse. Mir ging es darum, das Wanderwegnetz zu erneuern. Das wurde als Kritik empfunden."

Dann kamen die Touristiker. Die "Projektpartner Wandern" als Wegeplaner des Wanderinstituts bekamen einen Auftrag und befragten 1998 erstmals Wanderer in ganz Deutschland: Naturerlebnis stand bei ihnen an erster Stelle, naturnahe Pfade waren gewünscht. Asphalt wollte keiner. Das Publikum stellte sich als sehr anspruchsvoll heraus. "Wir haben aus all diesen Erkenntnissen und dem Wissen einen Kriterienkatalog entwickelt, der heute ,Deutsches Wandersiegel' heißt. Er umfasst 34 Kriterien, an denen sich der Erlebnisgehalt eines Premiumwanderweges messen lassen muss." Kriterien sind beispielsweise wie der Wald aussehen soll: keine langweilige Fichtenschonung, es braucht immer wieder Szenenwechsel, Aussichten, Raumeffekte. "Wir Menschen lieben große Räume."

Das erste Projekt im Sauerland, der Rothaarsteig, wurde ein großer Publikums- und auch wirtschaftlicher Erfolg. Das deutsche Wanderinstitut bekam Folgeaufträge wie den Rheinsteig oder die Rundwanderwege im Saarland. Das Wandersiegel hat sich durchgesetzt. Es steht einträchtig neben dem Siegel der Wandervereine "Qualitätswege Wanderbares Deutschland". "Wir finden die Konkurrenz bereichernd. Premium ist einfach die Luxusmarke, beide Siegel haben das Naturerlebnis beim Wandern gesteigert." Deutschland durchziehe ein immer größeres Netz von Wanderwegen. Das findet Brämer toll. "Wir sind in einer neuen wandertouristischen Gründerzeit", sagt er, zieht sich an und geht raus.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Rainer Brämer studiert von 1963 bis 1969 Physik an der Universität Marburg, Mitte der Siebziger promoviert er in Experimenteller Physik an der Universität Ulm. Bis 1979 forscht er zunächst auf dem Gebiet der Festkörperphysik. Dann unternimmt er Studien zur Soziologie der Schule und des naturwissenschaftlichen Unterrichts und zur Soziologie der Hochschule und der Naturwissenschaften. Das Thema Wandern untersucht er aus wissenschaftlicher Sicht seit 1991. In seine Untersuchungen über das Verhältnis von Jugendlichen zur Natur bezieht er auch soziologische Gesichtspunkte ein. Brämer hält regelmäßig akademische Lehrveranstaltungen ab, mit seiner Frau Christa und Hündin Bella lebt er im hessischen Lohra.


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Quelle:
ver.di PUBLIK - 3/2010, S. R8
Herausgeber: Frank Bsirske,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2010