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BERICHT/088: Jiaju wird Disneyland - Touristen bevölkern malerisches tibetisches Bergdorf (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 1. November 2010

China: Jiaju wird Disneyland - Touristen bevölkern malerisches tibetisches Bergdorf

Von Mitch Moxley


Jiaju, China, 1. November (IPS) - In der kleinen tibetischen Gemeinde Jiaju geht es an chinesischen Feiertagen zu wie im oberbayerischen Sommer zur touristischen Hochsaison. Vor fünf Jahren hatte das Geo-Magazin 'National Geographic' das malerische, in tibetischer Tradition erhaltene Gebirgsdorf an den Hängen des westlichen Hengduang-Gebirges als schönstes Dorf Chinas ausgelobt. Seitdem wimmelt es hier, in Chinas westlichem Hinterland, von chinesischen Besuchern. Kritische Beobachter sprechen bereits von einem Disneyland.

Die Touristen besuchen die mehrstöckigen, Wehrtürmen gleichenden Häuser, deren Bewohner 30 Yuan, umgerechnet 4,48 US-Dollar Eintritt verlangen, und posieren mit den Einheimischen auf den Dächern, auf denen Maiskolben zum Trocknen aufgehängt sind. Hier flattern verschlissene tibetische Gebetsfahnen mit der Nationalflagge um die Wette.

"Jiaju ist wunderschön", schwärmte eine Besucherin aus Chengu, der Hauptstadt der Zentralprovinz Sichuan. "Das Dorf ist zwar noch nicht so berühmt wie Shangri-la oder Lijiang, doch es wird zunehmend bekannter", stellte sie fest. Shangri-la und Lijiang im Südwesten gehören mit ihren vielfältigen ethnischen Gruppen zu Chinas beliebtesten touristischen Wallfahrtsorten. 1997 erklärte die UN-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) die Altstadt von Lijiang zum Weltkulturerbe.

Mit zunehmendem Wohlstand wächst beim chinesischen Mittelstand das Interesse an der traditionellen Lebensweise und den Kulturen der zahlreichen ethnischen Minderheiten im Land der Mitte, dessen Bevölkerung zu mehr als 90 Prozent aus Han-Chinesen besteht. Die chinesische Regierung unterstützt den Binnentourismus im Land. 2009 konnte die Tourismusindustrie deutlich zulegen und ihre Einnahmen im Vergleich zum Vorjahr um neun Prozent auf umgerechnet 188,6 Milliarden Dollar steigern. Bis zum Jahresende ist nach Angaben staatlicher Medien mit einem noch rasanteren Zuwachs von 14 Prozent, auf 215,4 Milliarden Dollar zu rechnen.

Auch das entlegene Tibeterdorf Jiaju profitiert unübersehbar von seiner touristischen Attraktivität. Viele Dorfbewohner besitzen ein Auto oder einen Geländewagen. Anzeichen von Armut sind hier kaum auszumachen. Doch Jiaju droht das gleiche Schicksal wie vielen anderen Zielen des chinesischen Ethnotourismus. Der Besucherstrom hat das tibetische Bergdorf Dorf Jiaju und seine Umgebung bereits verändert. Das Dorf passt sich den Vorstellungen von ethnischer Identität an, mit denen die Han-Chinesen anreisen. Es wird zu einer Art Disneyland.


Gästezimmer und Herbergen für die Touristen

1998 hatte sich ein Besucher aus Hongkong nach Jiaju durchgeschlagen und den Reiz des entlegenen Gebirgsortes erkannt. Er überredete eine einheimische Familie dazu, in ihrem Haus ein paar Gästezimmer einzurichten. In kurzer Zeit folgten zahlreiche Nachbarn dem Beispiel dieser Pioniere, legten sich Gästezimmer zu oder bauten neue Herbergen.

Schon bald wagten sich Touristenbusse über die kurvenreiche Gebirgsstraße nach Jiaju. Die sich ausbreitenden Kahlschläge an den umliegenden Berghängen lösten gefährliche Erdrutsche aus, und aus den Straßengräben wurden Müllhalden.

Auf der Suche nach der ethnischen Authentizität von Minderheiten verzichten immer mehr Chinesen, die es sich leisten können, auf Gruppenreisen und machen sich in modernster Wanderkleidung und mit teuren Kameras im eigenen Auto auf den Weg in entlegene Regionen der Provinzen Sichuan, Yunnan und Tibet, der Heimat zahlreicher ethnischer Gruppen.


Wachsendes Interesse an der Kultur ethnischer Minderheiten

Der Geschäftsmann Wang Huigui, der in Peking für ein internationales Unternehmen arbeitet, ist einer dieser Touristen, die sich für Geschichte, Kultur und Sprachen ihrer Landsleute interessieren. Viermal war er in der Autonomen Region Tibet, und die Provinz Sichuan westlich von Tibet hat er bereits fünf Mal besucht. "Ich interessiere mich sehr für Chinas ethnische Minderheiten. Einmal im Jahr komme ich zum Fotografieren hierher", berichtete er bei einem Besuch in Zhong Lu, eines noch wenig bekannten tibetischen Dorfes. Jiaju erreicht man von hier aus mit dem Auto in 20 Minuten.

Li Fei, der für die staatliche Reiseagentur Shan-Shui arbeitet, bestätigte aus eigener Erfahrung den rasanten Anstieg von Reisen nach Tibet. Bei seiner Agentur würden täglich 70, 80 Tibetreisen beantragt und jährlich 2.000 Touristen in der Region untergebracht. "Sie lieben Tibet mit seiner sauberen Luft und seinen klaren Seen", stellte er fest. "Wir erhalten von ihnen sehr positive Berichte."

Die Kehrseite des beliebten chinesischen Ethno-Tourismus ist die wachsende Zahl von Touristenparks mit ethischer Folklore wie der Minoritätenpark in Dai in der Südwestprovinz Yunnan. Dort ist es den Dorfbewohnern verboten, irgendwelche Veränderungen an ihren traditionellen, auf Stelzen gebauten Häusern vorzunehmen. Für die berühmte rituelle Wasserschlacht, die einheimische Frauen den Besuchern täglich vorführen, werden sie bezahlt. Der 'Spielplatz für wohlhabende Han-Chinesen', wie Kritiker den Dai-Park bezeichnen, gehört Han-Chinesen und wird auch von ihnen bewirtschaftet.

In vielen Ethnoparks arbeiten als Einheimische kostümierte Han-Chinesen. Soweit die ethnische Authentizität.


"Ethnische Authentizität zeigen, bevor sie verschwindet."

Auch wenn der wachsende Tourismus die wirtschaftliche Entwicklung in den Gebieten der ethnischen Minderheiten fördert, melden Kritiker wie He Ming, Direktor des Forschungszentrums für Minoritäten an der Yunnan-Universität in der südwestchinesischen Grenzregion Bedenken an. Einerseits könnte der Besuch von Han-Chinesen bei Landsleuten, die zu einer ethnischen Minderheit gehören, das Verständnis für einander verbessern, betonte der Wissenschaftler.

Andererseits dürfen Regierungs- und lokale Behörden nicht zulassen, dass Minderheiten zur touristischen Unterhaltung von Han-Chinesen ausgebeutet werden. Man müsse vielmehr deren Rechte und Interessen schützen. "Diese einzigartigen Kulturen werden durch den Ansturm anderer Kulturen zerstört. Zudem nutzen viele lokale Behörden den Touristenboom, um die traditionellen Kulturen einheimischer Ethnien zu kommerzialisieren. Selbst religiöse Bräuche werden dadurch verändert", kritisierte He.

"Jede Münze hat zwei Seiten", meinte auch Reiseleiter Li. "Die Regionen der ethnischen Minderheiten profitieren zwar vom Tourismusboom, doch sie müssen sich vor kultureller Anpassung hüten. Deshalb erzählen wir den Besuchern etwas über die Bräuche und Tabus der ethnischen Minderheiten, bevor sie ganz verschwinden." (Ende/IPS/mp/2010)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2010