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METROPOL/005: London - Durch das Morgengrauen (SB)


Durch das Morgengrauen


Unvermittelt schossen mir die Tränen in die Augen. Nun war diese Reaktion scheinbar gleich als rein körperliche festmachbar, denn auf das vorausgegangene Geräusch reagierte ich wie andere Leute auf beispielsweise 'Kreide auf Tafel'. Nur eines muss dazu gesagt werden, es war ein Schrei, der mir statt in die Nervenenden mitten ins Herz ging, eines jener Geräusche, auf die man sofort reagiert mit Instinkt, Herz und Seele gleichermaßen - nicht gleich festmachbar.

Es war spät, circa zwölf Uhr nachts, hellwach lag ich nun in der Dunkelheit des Zimmers im Norden der Stadt. Gerade sagte ich mir etwas von Einbildung, da ging es wieder los. Diesmal allerdings saß ich senkrecht, denn das Schreien entwickelte sich zu einem Jaulen und war doch noch ein Schrei. Da hat jemand Schmerzen! - Ein Tier!

Innerhalb kürzester Zeit standen mein Feund und ich barfuß im Garten hinterm Haus - hierzu sei erwähnt, daß man in London schnell in eines dieser typisch englischen kleinen Häuser gerät, wenn man in eine WG zieht und dazu gehört zumeist auch ein Garten - und sahen uns mit einem Ausmaß an Dunkelheit konfrontiert, welches man in einer Stadt dieser Größe nicht anzutreffen glaubt. Ursache dessen war ein riesiges Feld, das - wie ich vermutete - ein Sportplatz war.
In die Schwärze starrend manifestierten sich vor mir Bilder von einem kleinen Tier, eingeklemmt in einer Falle oder irgendwo reingerutscht. - Nein, Teenies mit Langeweile, wo Schmerzen zufügen doch so eine willkommene Abwechslung ist.

Das schreiende Jaulen verstummte. Sekundenlang starrten wir nur so in die Dunkelheit. Ich, aufgerieben, lasse mich nun von dem überwältigen, was mich hier eh nie ganz verlässt: Nord London. Ganz unwissenschaftlich möchte ich an dieser Stelle nur diese Frage in den Raum stellen: Wart ihr schon mal an einem Ort, der böse ist? Nicht direkt und offensichtlich, nein, es kommt aus den Grundmauern, ist nur dort aufzuspüren. Nun ist die Gegend um Manor House und Turnpike Lane ohnehin nicht mit dem besten Ruf behaftet, gerade was die Jugendlichen betrifft, allerdings kann man derartige Nachrede über so gut wie jeden Stadtteil hier finden. Das war es nicht, was mich dort in jenem Moment umtrieb, es war ersteres, was mich festhielt und in tiefe Gewissenskonflikte stürzte, weil ich mich nicht stehenden Fußes zum Helfen aufmachte, sondern mich von meiner Angst zum Zögern verdonnern ließ. Zögernd also und somit zusätzlich mit einer der mir verhasstesten menschlichen Eigenschaften beschäftigt, verharrte ich in der Dunkelheit, dem Schmerz mit zunehmender Übelkeit lauschend.

Er kam näher. Wie konnte er näher kommen? Dann erspähten wir, wie auf die unspektakulärste Weise und in mäßigem Tempo ein Fuchs samt des Schreis aus einem Gebüsch - welches im Garten nebenan an das freie Feld grenzte - gekrochen kam und im wahrsten Sinne quietschfidel sich auf die Suche nach Futter machte. Hunger, das war der Urheber des Schreis, nicht mehr und nicht weniger, für mich jedoch kein Hindernis diese schmerzend unspektakuläre Geschichte zu erzählen. Fängt sie doch an einem Ende der Beschreibung dieser allzeit präsenten, jedoch nie greifbaren Zeitgenossen Londons an, das eher als das hintere bezeichenbar ist: Auffälligkeit. Denn diese Stadtbewohner, zumeist wohl geschützt von den langen Schatten der Nacht, sind Künstler der Unauffälligkeit. Sie schaffen es, jedem in diesem seltenen, auffälligen Bereich ihres Handelns dann das Gefühl zu vermitteln, wegsehen und sich verstecken zu wollen, werden also auch hier nie wirklich zum Vorschein kommen.

So unnahbar wie sie sind, ist meine Begegnungsfläche mit diesen sehr eigenen und hierzulande durchaus nicht besonders wertgeschätzten oder gar geliebten - man erinnere sich nicht zuletzt an die weltberühmte Fuchsjagd, die in England mit Vorliebe betrieben wird - Geschöpfen gering. Ich traf sie erstmals in meiner Anfangszeit, als ich noch im Norden lebte. Es war Winter und mein täglicher Heimweg führte mich am dunklen Finsbury Park vorbei in die um neun Uhr abends menschenleeren Wohngebiete des Sadtteils Haringey, der bei der Tube Station Manor House liegt. Alles was ich dort sah, war ein Vierbeiner, der direkt vor meiner Nase die Straße entlang huschte und obwohl mir der Gedanke an Füchse bis dato noch gar nicht gekommen war, kam er mir jetzt umso direkter, sobald ich instinktiv ausgeschlossen hatte, dass es eine Katze sein kann.

Aufgeregt war ich damals, zumal mir das in deutschen Gefilden nicht passiert war. So genoss ich also im Winter die allabendlichen schattenhaften Begleiter, die sich mit Vorliebe an den Mülleimern der Anwohner gütlich tun, selbst darin aber scheinbar die Kunst der Unauffälligkeit beherrschen. Später, als ich dann in den Südwesten nach Greenwich zog, begegneten sie mir auch hier. Diesmal vorzugsweise im Morgengrauen, wieder zwischen den menschenleeren Straßen hin und her huschend. Vollständig hatten sie mich dort erobert und das ohne jede Ambition.
Mein Verstand mochte sie schon, als sie mir zum Beispiel wurden, wenn ich Tauben und Eichhörnchen beobachtete und ihre Anpassung an menschliche Wesenszüge mich schmerzte, ich aber das Gefühl für mich nicht belegen konnte, daß dies sie von allem, was sie sein könnten, wegtreibt und es bestimmt auch andere, stolzere und unabhängigere Überlebenswege für Tiere gibt, die sich in der von Menschen besetzten Welt zurechtfinden müssen. Dann entdeckte ich sie: Stolze Tiere, unnahbar, für sich, gehören niemandem, nicht einmal den menschenleeren Straßen, durch die sie streunen. Und eines müssen sie ganz gewiss niemals tun: Um die Liebe der Menschen buhlen.

Herz und Seele hatten sie dann in Greenwich. Ich sah sie dort, wo ich es am meisten liebe. Es ist kein Ort, sondern eine Zeit, eine stille Zeit. Menschenleer. Wo ich mich auf die Suche mache und etwas wiederfinde. Es ist das Morgengrauen.



















Ich grüße von dort aus der dunklen Stadt
BB


13. August 2009