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METROPOL/008: London - Brennpunkte (SB)


Brennpunkte


Anerkennend sah sie mich an, nickte beinahe überrascht - dann sagte sie: "Tatsächlich, Kleider machen echt Leute." Ich war gerade mit einer Freundin einkaufen.
Circa fünf Jahre ist das jetzt her.

Es ist Freitagnachmittag, fünf Uhr und somit Rush Hour; wie vermutlich in jeder größeren Stadt um diese Zeit. Ich sitze im Café Nero an der Liverpool Street Station. Ein Umfeld, das über diese Erkenntnis längst hinausgewachsen ist. Es handelt sich hier - wie es auch die auf der Central Line eine Station entfernt liegende Bank Station zu unterstreichen wünscht - um Londons alt eingesessene Bankengegend. Im regengrauen Januar des Jahres 2010 huschen kleine Kostümchen auf High Heels am Fenster vorbei, dazwischen eher unauffällige graue und schwarze Anzüge mit Lackschuhen. Besagte Erkenntnis ist hier schon vor Ewigkeiten nicht nur in den Alltag integriert worden. Sie ist der Entwicklung eines Kalküls gewichen. Jenes Kalkül nämlich, das in das Bestehen in einer Welt investiert, zu der es sich bekanntlich rentiert zu gehören.
Würde ich jetzt aufstehen und mich in Richtung Westen und damit gen Bank Station aufmachen, käme ich immer tiefer in besagten rentablen Bereich hinein - jenen, den ein Code umgibt, welchen jeder zu kennen glaubt und über dem wohl fast jeder stünde, würde er gefragt.

Ginge ich jedoch in Richtung Osten, träfe ich auf eine Grenzlinie, die eine interessante Geschichte erzählen kann: Jedem Londoner und vermutlich auch vielen nicht Londonern ist wohl die Brick Lane ein Begriff. Ich möchte sie als besagte Grenzlinie bezeichnen, denn hier kann man buchstäblich zwischen den Welten springen. Entlang der Commercial Street, Bethnal Green Road und Bishopsgate geben sich Prada, Punk und Penner buchstäblich die Klinke in die Hand. Dieser zentrale Bereich Ostlondons hat sich im Laufe der letzten Jahre zu einem höchst angesagten Künstlerviertel entwickelt. Und angesagt ist hier das Stichwort, denn war vor einigen Jahren der Kontrast, der sich auf dieser Linie abzeichnete, noch eindeutig der von Welten, so ist heute etwas ganz anderes zu beobachten - deutlich wie im Bilderbuch: Noch immer treffen hier Prada, Punk und Penner gewohnheitsmäßig aufeinander, aber der Unterschied verschwimmt.

Aus dem Künstlerviertel wurde ein trendiges Künstlerviertel und aus jenem jetzt ein teures. Und so laufen nun noch immer alle möglichen bunten Gestalten herum, aber aus Kunst wird Schau und der Code, über dem alle mutmaßlich zu stehen meinen, ist hier schon längst heimisch geworden. Er hält sich nämlich nicht mehr an Schnitt, Farbe oder Marke, sondern sucht einzig nach dem Ort, wo es ein draußen und drinnen gibt.

Ich steh wirklich drüber, denk ich mir, während ich mich nun durch das übliche Brick-Lane-Sonntags-Getümmel schlage, um eine Hauswand zum Anlehnen zu finden. Gedankenverloren lasse ich meinen Blick schweifen. Da steh ich nun, Hände in den Hosentaschen, und betrachte meine regennassen lila-schwarzen Einhorn-Gummistiefel, in denen ich doch tief verwurzelt stecke.

Er verführt, dieser Code ist bunt und süß. Er macht Spaß und gehört wohl zu jedem von uns.
Niemals wieder jedoch hatte ich die Ehre, dem Kalkül so tief in die Augen zu blicken wie damals, als jene gute Freundin mich vor der Umkleidekabine von Ted Baker stehend betrachtete, und sich ihr Denken bei der Kleider-machen-Leute-Erkenntnis enttarnte. Es sprang mich förmlich an, hinter dem Code direkt versteckt, leuchtete es auf: in verführerischem lila-pink und brennender Kälte.
Dies gekoppelt mit der Gewissheit: er ist bei mir, jener geheimnisumwitterte Code, weich und warm in direkter Verwandtschaft mit jenem Blick.
Circa 4 Jahre ist es jetzt her, da ich meine Freundin zuletzt sah. Denn bringt mich offensichtliches Pink auch gern mal zum Lachen, löst jene brennende Kälte doch einzig tiefe Traurigkeit in mir aus.

















Ich grüße hiermit aus der dunklen Stadt in das neue Jahr hinein
BB

4. Februar 2010