Schattenblick →INFOPOOL →UNTERHALTUNG → REISEN

METROPOL/010: London - New Cross und die Seifenblase (SB)


New Cross und die Seifenblase


Riesig sind die Brücken, breit die Straßen. Die Gassen sind schmal und oft von Kopfsteinpflaster bedeckt. New Cross heißt der Stadtteil, in dem mich wie nicht selten der Zauber verließ. Nicht viel anders sieht er aus als jeder andere außerhalb von Central London. Doch all dies spielt im Grunde keine Rolle, denn es ist dunkel, zwei Uhr morgens am Sonntag, und ich treibe mit zwei Freundinnen in einem der besagten roten Punkte durch die Straßen dieser Gegend, die - wie überall sonst auch - nur mit dunkelorangenen Straßenlaternen von überdimensionaler Größe beleuchtet sind. Und doch ist es hier ein wenig anders; eben wie in New Cross. Denn es ist wie sein Name. Die Häuser sind alt - die Brücken sind es nicht. Hoch aufragend kreuzen sie die Straßen und es wirkt, als wollten sie trotz der Fülle an altem Gemäuer unterstreichen, wo die Hochhäuser und ihre fünf Stockwerke aufragenden kleinen "Geschwister" stehen und das Bild letztendlich dominieren.

"Was guckst du?"
Wie aus heiterem Himmel regte sich der Kerl, der im Bus neben mir saß, und den ich bis zu diesem Moment nicht einmal wirklich wahrgenommen hatte. Meine Freundinnen und ich kamen gerade von einer Party außerhalb und waren auf dem Weg nach Hause. Sie saßen mir beide gegenüber im hinteren Teil des Busses auf dem oberen Deck. Meine Freundin Anne wurde direkt ins Visier genommen. Sehr klein ist sie und sehr hager, und ich kenne nur wenig Menschen, die eine solche Gabe besitzen, anderen Menschen und ihren Blicken aus dem Weg zu gehen, wenn sie es will; und hier wurde ihre Kontaktfreude mit Sicherheit nicht geweckt!
"Hast du 'n Problem oder was? Was guckst du? Was guckst du mich an?"

Keiner von uns rührte sich. Keiner sprach und keiner atmete. Wir sahen uns nicht an. Doch wir waren uns alle einig, daß hier nur drei Ausgänge vor uns lagen.
Wir konnten gehen, alle, einfach nach unten - vielleicht raus. Jedoch war uns klar, daß es genauso gut ein Selbstmordkommando sein konnte wie Möglichkeit Nummer zwei, die wir grade wählten: Nicht atmen! Denn erstens ist genau dieser obere, hintere Bereich meiner geliebten Roten Punkte in Wahrheit eine Todesfalle, wo weder jemand raus kommt, wenn etwas passiert, noch jemand, dem sein Leben lieb ist, reingeht, um zu helfen. Zweitens weiß man nie, wie viele es wirklich sind. Und drittens ist es Russisch Roulette, womit man sein Gegenüber letztendlich reizt: Aktion, Reaktion oder Ignoranz. Und in diesem, wie wohl auch den meisten anderen Fällen, hat es wohl nicht einmal damit zu tun, was man am Ende wählt, sondern die Entscheidung wurde einem schon viel früher abgenommen. Denn wir wussten alle: Anne hatte nie jemanden angeguckt.
"Was guckst du? Was guckst du mich an, he? Was is' los? Was guckst du?"
Alles, worauf wir uns wohl konzentrierten, war, was wir gerade taten: Nicht atmen! Denn wir hatten keine Chance!

Es ging nur noch die Straße hoch. Lange nicht mehr hatte ich zu Hause so intensiv gerochen. Ich roch New Cross, ich roch, wie sich Greenwich dazwischen mischte, ich roch Greenwich! Ich roch: Aufstehen! Bewegen! Raus! Frische Luft! Schweigen!
Wir schwiegen, die Nacht war eisig, die Luft frisch und wir schwiegen, gingen nur in moderat schnellem Tempo, sahen uns nicht an; eine Deutsche, eine Engländerin und eine Costa Ricanerin in London New Cross. Wir passierten den Pub, kreuzten eine Querstraße, passierten ein weiteres Haus und blieben stehen. Keiner sprach. Wir sahen uns an, denn wir hatten die Linie passiert. Wir waren in Greenwich. Es würde nichts mehr geschehen. Unsere Augen brannten und wir hatten alle grad die wohl bekannte sehr schnelle Reise durch unsere Leben erfahren. Denn die sogenannten "stabbings" - zu deutsch Messerstechereien -, die hier an der Tagesordnung zu sein scheinen, haben zwei weitere Beinamen: Hackney und New Cross.
















Ich grüße aus der dunklen Stadt
BB


28. April 2010