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SCHLUCKAUF/0071: Polnische Posse - Nachtisch & Satire (SB)


Polnische Posse


Wie in vielen anderen sozialistischen Ländern wurde nach 1945 auch in Polen die Roma-Minderheit nach ersten vergeblichen Versuchen, sie in den neuen Staat zu integrieren, ausgegrenzt und verfolgt. Das vorliegende, 1971 von der polnischen Staatssicherheit beschlagnahmte Possenspiel der "Sozialistischen Zigeuner-Wanderbühne" wurde nach Öffnung der Warschauer Archive von einem SCHLUCKAUF-Redakteur entdeckt und ins Deutsche übertragen.

Die handelnden Personen:

Kommissar Polackcewsky: Polit-Kommissar des polnischen Dorfes Klein-Solidarschau

Frau Polackcewsky: Ehefrau des Kommissars, Leiterin des
sozialistischen Landfrauenbundes

Großmutter Romni: alte Frau aus der Roma-Sippe

Vater Rom: Großmutter Romnis Sohn, Mann um die fünfzig

Milan: 21jähriger Sohn von Vater Rom, Enkel von Großmutter Romni

Dunja: 18jährige Tochter von Vater Rom, Enkelin von Großmutter Romni

Titel: Klein-Solidarschau
(zugleich auch der Ort der Handlung)

Kommissar Polackcewsky: He, Alte! Was machst du da mit dem Zaun der sozialistischen Gemeindeverwaltung?

Großmutter Romni: Ich hänge Strümpfe auf.

Kommissar Polackcewsky: Was fällt dir ein! Der Zaun gehört den Bürgern von Klein-Solidarschau. Und deine Lumpen stören das Landschaftsbild.

Vater Rom (kommt eilig herbei): Lassen Sie nur, Herr Kommissär. Mutter begreift das nicht mit dem sozialistischen Eigentum. Daß es eigentlich allen gehört, aber im Grunde keinem. Und daß der Staat bloß so tut, als würde ihm alles gehören, damit es keiner für sich selbst behält. Nichts für ungut, Herr Kommissär! Komm schon, Mutter.

Mutter Romni: Die Strümpfe sind noch nicht trocken!

Kommissar Polackcewsky (bläst sich auf): Das ist unlauterer Nutznieß!

Mutter Romni: Nutzt es, wenn man lauter niest?

Vater Rom: Komm Mutter, wir gehen.

Kommissar Polackcewsky: Meldet euch da drüben in der Kolchose "Arbeiterglück". Die können jede Hand gebrauchen. Und Wäscheleinen gibt's da auch.

(Unterdessen treten zwei jüngere Roma, Milan und Dunja, hinzu)

Milan: Die Kolchose? Kommen wir gerade her! Da sind sie sich zu fein, mit uns an einem Tisch zu sitzen. Ungeziefer, sagen sie. Haben Angst, wir könnten sie verhexen. Echte Sozialisten wollen sie sein. Und denken, daß wir nicht mitkriegen, wenn sie heimlich ihre Tischgebete -

Kommissar Polackcewsky: Kein weiteres Wort! Wer nicht aktiv am Aufbau des sozialistischen Staates mitarbeitet, darf auch nicht offiziell Meldung machen über unsozialistisches Fehlverhalten.

(Frau Polackcewsky kommt herbei und bezieht neben ihrem Mann Stellung)

Dunja: Wie diese aktive Mitarbeit für uns aussieht, weiß ich. Uns laßt ihr doch nur den Hof fegen oder euren Müll wegkarren.

Frau Polackcewsky: Weil doch jeder weiß, daß ihr zur Arbeit nichts taugt.

Vater Rom: Wir arbeiten. Soviel, wie für ein bescheidenes Leben nötig ist. Andere arbeiten mehr. Aber die wollen reich werden. Wollen Land besitzen. Und dann andere für sich arbeiten lassen.

Dunja: In Wahrheit leben wir schon seit Jahrhunderten sozialistisch. Immer sind uns unsere Leute wichtiger als große Häuser oder eigenes Land. Wir haben auch nie um so etwas Kriege geführt. Und trotzdem wollt ihr uns so schnell wie möglich loswerden. Oder gerade deshalb? Weil wir euch zeigen könnten, wie der Sozialismus wirklich geht?

Frau Polackcewsky: Ha, von wegen Sozialismus. Ich weiß genau, daß die Frauen bei euch nichts zu sagen haben. Die Männer schicken sie zum Betteln, und selbst legen sie sich in die Sonne und zählen die Pusteblumen. Schöner Sozialismus. Und dann diese Wahrsagerei und das ganze Teufels-

Dunja: Wir verkaufen Dienstleistungen. Was ist schlecht daran? Manche sagen auch Lebenshilfe. Nachfrage gibt es hier viel. Gerade wo sie die Religion nicht mögen. Was die Sache mit den Männern angeht, habe ich auch nie behauptet, daß es bei uns nichts zu verbessern gibt. Wir sind nicht vollkommen. Aber wir lernen schnell.

Kommissar Polackcewsky: Lernen? Pa! Wo gibt es bei euch denn etwas zu lernen? Ihr habt noch nicht einmal Bücher. Jede Menge abergläubisches Zeug gibt's bei euch. Aber sonst? Von wegen keinen Besitz und so - sozialistisch ist das noch lange nicht. Ihr habt nichts, weil ihr nichts zustandebringt, und nicht, weil es eure politische Überzeugung ist. So ist das nämlich.

Milan: Schwachsinn! Wir müssen eben nicht den ganzen Tag so besessen schuften wie ihr. Ihr müßt euch doch davon ablenken, wie erbärmlich allein und wie bedeutungslos ihr füreinander seid. Und nichts mit euch anzufangen wißt. Euch treibt das nackte Grauen über euer verpfuschtes Leben. Und das versucht ihr auch noch als Kampfgeist oder als Politik zu verkaufen.

Frau Polackcewsky: Ich glaube fest an unseren sozialistischen Staat.

Vater Rom: Ein Staat ist immer schlimm. Egal was für einer. Bei uns gibt es einen Ältesten. Der macht auch Fehler. Aber er ist ein Mensch. Man kann mit ihm sprechen. Mit ihm streiten. Er kann lernen. Ein Staat aber ist wie ein böser Geist. Wenn du ihn brauchst, findest du nur Formulare. Wenn du ihn nicht brauchst, macht er dir mit hundert Armen das Leben zur Hölle. Wo ein Staat heranwächst, stirbt die Gemeinschaft.

Kommissar Polackcewsky: Marx hat gesagt, daß der sozialistische Staat nur ein Übergangsstadium ist.

Vater Rom: Dann wäre der sozialistische Staat der erste Wolf, der die Schafe so liebt, daß er stattdessen sich selbst frißt.

Frau Polackcewsky (spöttisch): Wölfe und Schafe, pah! Marx habt ihr wohl nicht besonders gründlich gelesen, was?

Kommissar Polackcewsky: Valeska, Zigeuner können doch nicht lesen. Die weigern sich einfach, es zu lernen.

Vater Rom: Wer lesen lernt, verlernt zu sprechen. Und wenn wir erst nicht mehr sprechen, gibt es keine Übereinkünfte mehr. Die Worte verlieren ihre Bedeutung. Dann brauchen wir bald auch eine Regierung. So wie ihr. Und eines Tages werden auch wir lieber von morgens bis abends arbeiten, um den leeren Worten in unseren Köpfen zu entfliehen.

Großmutter Romni: Lesen und Schreiben sind wie Fesseln und Fußeisen. Wollen Sie, daß ihrem Kind so etwas angetan wird?

Kommissar Polackcewsky: Welchem Kind? Ich habe kein Kind.

Großmutter Romni (schaut Frau Polackcewsky unverwandt an): Aber deine Frau bekommt ein Kind. In sieben Monaten schon. Oder ist es nicht von dir?

Frau Polackcewsky: Großer Gott, ist das wirklich wahr?! Ich hatte ja keine Ahnung! Herr Jesus, wenn das wahr ist! Boris, ein Kind! Wir bekommen ein Kind!

Großmutter Romni (kopfschüttelnd): Bekommt ein Kind und weiß es nicht.

Dunja (spitz zu Frau Polackcewsky): Das hat Karl Marx dir wohl nicht mitgeteilt? Und dabei hast du so viele Seiten gelesen. Und mit jeder Seite bist du dir fremder und fremder geworden. Bis du irgendwann in einem Buch nachschlagen mußt, ob du gerade hungrig bist oder vielleicht im nächsten Augenblick krepierst.

Vater Rom: Laß das jetzt, Dunja. Sie bekommt ein Kind. Und ein Kind ist immer ein Grund zum Feiern! Milan, hol' deine Fidel. Mutter, wir haben doch noch Schnaps und ein paar Würste. Dunja, die Zloty-Rassel.

Kommissar Polackcewsky: Das geht hier nicht einfach so. Ein Fest auf der Gemeindewiese muß angemeldet werden.

Großmutter Romni (nimmt die nassen Socken vom Zaun): Wir feiern kein Fest. Vater Rom, mach' Feuer. Wir zeigen den Gadsche, wie Zigeuner Strümpfe trocknen. Das ist Arbeit.

Vater Rom (grinst verständnissinnig): Das ist
Völkerverständlichung.

(Mutter Romni gibt jedem Anwesenden ein Paar ausgeleierte, nasse Strümpfe und bedeutet ihm, die Schuhe aus und die Strümpfe anzuziehen. Die glücklichen Eltern machen zögernd mit.)

Milan (setzt die Fidel an): Ich spiele jetzt ein altes, traditionelles Strümpfetrocknerlied. (Er spielt eine Melodie, die sogleich allen in die Beine fährt.)

(Dunja nimmt die beiden Polackcewskys an die Hand und tanzt mit ihnen ums Feuer, das Vater Rom in Windeseile entfacht hat. Dabei singt sie.)

Dunja: Bleib nicht auf der Wiese hocken, kriegst sonst nie die Strümpfe trocken! Tanz mit ihnen um das Feuer, denn das trocknet ungeheuer. Lieber mal die Strümpf' versengen, statt sie an den Zaun zu hängen -

Die Zigeuner albern ausgelassen herum, werfen Strümpfe durch sie Luft, jagen sie einander ab, stopfen sich Wurststücke in den Mund, trinken Schnaps hinterher und wälzen sich lachend im Gras. Kommissar Polackcewsky und seine Frau machen begeistert mit. Danach liegen alle erschöpft auf der Wiese und schauen in still wachsender Verbundenheit den vorüberziehenden Wolken nach.

Kommissar Polackcewsky (richtet sich umvermittelt auf und räuspert sich): Du meine Güte, jetzt muß ich aber los. Die Sitzung im Landwirtschaftsausschuß -

Frau Polackcewsky: Du hast recht. Und die Kartoffeln schälen sich auch nicht von selbst. Also auf, auf, nach Hause.

(Als wäre ihnen die Gesellschaft der Roma auf einmal peinlich, erheben die beiden sich hastig aus dem Gras und streben ohne weitere Abschiedsworte über das angrenzende Feld ihrem Hof zu.)

Kommissar Polackcewsky: Du, das war doch seltsam, das da eben. Das war doch irgendwie nicht ich.

Frau Polackcewsky: Du und tanzen. Nee, nee. Da muß in dem Schnaps was dringewesen sein. Oder die Alte, die das mit dem Kind schon gewußt hat - sie hat ganz seltsam gelacht.

Kommissar Polackcewsky: Am Ende stimmt das vielleicht gar nicht, das mit dem Kind?

Frau Polackcewsky: Doch, doch. Das stimmt schon. Ich spür das genau. Aber wir sollten heute nacht lieber beim Herrn Pfarrer vorbeischauen. Nur so zur Vorsicht, für alle Fälle. Für das Seelenheil unseres Kindes.

Kommissar Polackcewsky: Jetzt auch das noch. Daß uns dabei nur keiner sieht. Verdammtes Zigeunerpack, nichts als Scherereien hat man ... (Einvernehmlich schimpfend entfernen sie sich)

14. Dezember 2010