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BERICHT/199: Ein Tag im November (diesseits)


diesseits 3. Quartal, Nr. 84/2008
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Ein Tag im November

Von Ralf Bachmann


Der 9. November ist ein Schicksalstag in Deutschland. Da herrscht in den Redaktionen kein Mangel an Kommentarstoffen. Je nach politischer Richtung wird betroffen, begeistert oder wenigstens bewegt über die Jubiläen dieses Tages, über erfolgreiche und gescheiterte Revolutionen und Putsche, Aktionen und Reaktionen geschrieben. Am meisten nachdenklich sind gewöhnlich die Kommentare zu dem für die deutsch-jüdische Geschichte gravierendsten, weil einen Schlussstrich ziehenden November-Ereignis, das nicht zufällig bislang keinen wirklich zutreftenden Namen besitzt. Die von den Nazis beschönigend so genannte Reichskristallnacht, heute gern ungenau und nicht weniger aussagearm Reichspogromnacht betitelt, wurde Symbol der Diskriminierung, Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der deutschen Juden. Am 9. November 2008 jährt sich diese Nacht zum 70. Male.


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Ganze Büchereien haben Historiker, Literaten und Journalisten bereits über die verschiedenen Aspekte dieses Verbrechens verfasst: über die zentrale Steuerung der angeblich spontanen Pogrome, über die gnadenlose Zerstörung jüdischer Heiligtümer und ganz profaner Besitztümer durch den SA-Mob. Aber auch über die bereitwillige Beteiligung von Millionen "einfachen Deutschen" an der physischen und psychischen Verletzung unschuldiger jüdischer Männer, Frauen und Kinder, die noch gestern ihre lieben Nachbarn waren, über die zynische Verherrlichung der nie gesühnten Schandtaten in der seinerzeitigen deutschen Presse, über die Tapferkeit einzelner Mitbürger vom Handwerksgesellen bis zum Polizeiwachtmeister bei der Rettung von Synagogen und Menschen.


Auch ein Stück meiner eigenen Geschichte

Als Vorwand für die offensichtlich von der obersten Führung genau geplante Judenhatz diente ein Attentat des jungen Herschel Grynszpan auf den Pariser Gesandtschaftsrat Ernst vom Rath am 7. November. Binnen weniger Stunden kam es im gesamten Reichsgebiet (dem seit März 1938 ja auch Österreich angehörte) zum Ausbruch judenfeindlicher Gewalttaten, wie sie bis dahin in der Geschichte moderner Staaten nicht ihresgleichen hatten. Politiker und Wissenschaftler werden den "runden" Jahrestag zum Anlass nehmen, noch einmal mit Zahlen und Fakten zu Vorgeschichte, Dimensionen und welterschütternden Folgen des Novemberpogroms Stellung zu nehmen.

Ich kann und will das nicht. Richard von Weizsäcker hat jedoch vor fast genau zehn Jahren im gleichen Zusammenhang kritisch bemerkt: "Unsere Geschichte gehört nicht nur den Historikern." Nein, sie ist auch unsere, meine Geschichte. Ich werde mich ganz bewusst im wesentlichen auf meine eigenen Erlebnisse beschränken. Eine einfache Rechnung ergibt, dass Augenzeugen des 9. November 1938, selbst wenn sie damals nur Kinder waren, heute das achtzigste Lebensjahr fast erreicht oder schon überschritten haben müssen. Aus eigener Anschauung berichten, was damals an Ungeheuerlichem geschah, können immer weniger. Umso größer ist ihre Verpflichtung, es zu tun. Ihr Zeugnis, und sei es nur für ein kleines Detail, ist eine Waffe gegen die nie aussterbenden Leugner und Verfälscher, erhöht Gewicht und Glaubhaftigkeit von Artikeln und Vorträgen der Experten.

Ich war damals noch keine neun Jahre alt und wohnte mit meinen Eltern in der sächsischen Textilarbeiterstadt Crimmitschau. Dort gab es nicht sehr viele Juden, aber da meine Eltern viele Leidensgefährten aus der weiteren Umgebung gut kannten, klingelte und klopfte es die ganze Nacht zwischen dem 9. und dem 10. an unserer Tür. Die meisten Besucher erhofften ein kurzes Asyl und ein wenig Ruhe, da mein Vater Nichtjude und zu erwarten war, dass "Mischehen" an diesem Tag noch nicht auf der "spontanen" Menschenjagdagenda der Nazis standen.


Weinen aus tiefer Enttäuschung

Sie kamen, um uns nicht in Schwierigkeiten zu bringen, so unauffällig, wie man das mit blutenden Wunden und frischen Verbänden eben kann. Ich hockte still unter dem großen Stubentisch, denn niemand dachte daran, mich ins Bett zu schicken, und hörte alles mit. Jeder erzählte sein Erlebnis mit der SA und anderen "deutschen Volksgenossen". Fast alle weinten, nicht nur der Schmerzen oder des Schocks wegen, sondern auch aus tiefer Enttäuschung darüber, dass sich Nachbarn, Freunde, Skat- und Stammtischbrüder an den Misshandlungen und Plünderungen beteiligt hatten. Zum erstenmal war allen bewusst geworden, dass sie es hier nicht mit einer Horde verrückter Nazis zu tun hatten, sondern mit der Mehrheit des Volkes, welches bis gestern auch das ihre gewesen war.

Wer als Jude noch etwas Bargeld auftreiben konnte oder zahlungskräftige Angehörige in Übersee besaß, konnte nur eine Schlussfolgerung ziehen: So schnell und so weit wie möglich fort von hier, auch wenn das hieß, weg aus der Heimat, weg von Hab und Gut, weg von der einzigen Sprache, die man seit dem ersten Lallen sprach. Ich hörte die abenteuerlichsten Flucht- und Reisepläne, von denen die meisten schon am nächsten Tag wie Seifenblasen zerplatzten, weil in Wahrheit allein 30.000 jüdische Männer nicht über irgendeine Grenze, sondern nach Buchenwald und in andere Konzentrationslager kamen.

In meiner Erinnerung vermischen sich ihre Berichte mit Gerüchen, die mir bis dahin fremd waren - dem Geruch von Blut und von beißendem Rauch in den Kleidern der Besucher. Und noch eine scheinbare Kleinigkeit ist mir von jenem Tag im Gedächtnis geblieben: Hunderte von Knöpfen waren auf den Teppich gefallen. Viele der Schutzsuchenden hatten seit Jahren nur die Möglichkeit gehabt, sich als Hausierer durchzuschlagen. Von nun an, mit den Erfahrungen eines Tages, an dem sie dabei mit Faustschlägen und Stockhieben verjagt worden waren, hätten sie sich mit ihren Bauchläden in kein Haus mehr gewagt. Ihre Ware, Knöpfe, Senkel, Nadeln, Zwirn und Gummilitze, ließen sie bei uns, es wäre auf dem vermeintlichen Weg nach Amerika nur Ballast gewesen. Der einzige, der mit dem Knopfsegen etwas anzufangen vermochte, war ich. Ich baute aus Hosen-, Zier- und Wäscheknöpfen aller Größen Tiergehege und spielte damit und mit einer großen Portion Phantasie Zoodirektor. Ein kleiner Beutel dieser Wäscheknöpfe, den mir meine Mutter aufgehoben hat, liegt noch heute zum ewigen Gedenken an die Nacht des Schauderns in meinem Schreibtisch.


"Überall in den Nestern der Itzigs loderten die Flammen"

Wie viel an jenem Tag in Flammen aufgegangen war, sah ich am nächsten Tag, als meine Eltern in Sorge um das Schicksal des Bruders meiner Mutter und seiner Familie mit mir nach Leipzig fuhren. Am Augustusplatz war das Eckhaus zur Grimmaischen Straße völlig ausgebrannt, in dem sich das große jüdische Konfektionshaus Bamberger & Hertz befunden hatte. Was hier geschehen war, durfte man nicht einmal aussprechen. Die vom offiziellen Naziorgan "Leipziger Tages-Zeitung" verbreitete Version lautete nämlich, "die Juden" hätten dort "in raffinierter Weise eigenhändig Feuer angelegt". Kein normaler Mensch glaubte das. So erzählte man überall in Leipzig den Witz, ein Vater habe mit seinem Sohn im Café am Augustusplatz bei Kuchen und Sahne gesessen und sei erschrocken, als der laut fragte: "Papa, wer hat denn Bamberger & Hertz angebrannt?" "Ess, mein Junge", bat er statt zu antworteten. Der Knabe wiederholte seine Frage, und der Vater sagte nachdrücklicher."Ess, ess, mein Junge!" Nun gab sich der Sohn zufrieden: "Dacht ich mir doch gleich."

In triumphierendem Ton bilanzierte die "Leipziger Tages-Zeitung" - wie viele deutsche Journalistengenerationen mögen deren nie zur Rechenschaft gezogene Redakteure wohl noch zu wahren Demokraten erzogen haben? - am Tage danach: "Die Synagoge an der Gottschedstraße und das Bethaus in Apels Garten waren nicht die einzigen Tempel, die die Volkswut vernichtete. Überall, wo sich die Itzigs mit ihren Thora-Büchern eingenistet hatten, loderten die Flammen. Auch die Kapelle auf dem Israelitischen Friedhof fing Feuer."


Buchenwald, Havanna, Auschwitz

Die stolze jüdische Gemeinde von Leipzig, der nicht wenige der angesehensten Bürger der Stadt, von Warenhausbesitzern über Ärzte, Bankiers und Pelzhändlern bis zu Philosophieprofessoren, angehört hatten und die seit 1933 immer kleiner geworden war, wurde von nun an restlos und systematisch zerstört.

Auch mein Onkel Willy war schon am Folgetag unmittelbar davon betroffen. Er musste sich im Polizeipräsidium melden und wurde von dort direkt in das KZ Buchenwald abtransportiert. Nach fünfeinhalb Monaten hat man ihn nur gegen die Verpflichtung entlassen, sofort aus Deutschland zu verschwinden. Am 13. Mai 1939 begab er sich in Hamburg mit über 900 anderen jüdischen "Kristallnacht"-Flüchtlingen an Bord des Hapag-Kreuzfahrtschiffs "St. Louis" in Richtung Havanna. Die extrem teuren Passagen waren meist von amerikanischen Juden finanziert worden.

Was dann geschah, ist in Filmen wie dem Oscar-nominierten britischen Streifen "Reise der Verdammten", TV-Dokumentationen, Artikeln und Büchern beschrieben. Kuba annullierte die Einreiseerlaubnis, die USA nahmen keinen der Passagiere auf, weil das Jahreskontingent 1939 "für Deutsche" überschritten war. Es schien am Vorabend des Krieges keine Rettung vor der Rückkehr nach Nazideutschland und damit dem sicheren Tod zu geben, bis sich im letzten Moment England, Frankreich, Holland und Belgien zur Aufnahme der Flüchtlinge bereit erklärten. Überleben freilich bedeutete das fast nur für die in England Untergekommenen. Für meinen Onkel endete die Reise nach Zwischenstationen in Frankreich und Belgien 1942 in den Gaskammern von Auschwitz. So schlägt sein Schicksal wie das so vieler deutscher Juden die Brücke von der "Reichskristallnacht" zum Holocaust.


Erich Mühsam: Ich lehr euch Gedächtnis!

Ein jüdischer Essayist hat davor gewarnt, das Gedenken einseitig zu sehen. Trübsinnig rückwärts zu meditieren genüge nicht, man müsse mutiger vorwärts handeln. Zu neuem Nachdenken und Tun gibt es manchen Anlass. Vor wenigen Tagen las ich in einer Zeitschrift Zitate aus Polizeiprotokollen von NPD-Aufmärschen. In Frankfurt am Main gab es Sprechchöre "Juden raus aus deutschen Straßen!" und "BRD, Judenstaat, wir haben dich zum Kotzen satt!", in München schrie einer bei der Festnahme: "Judenschweine, verpisst euch doch!", in Hamburg skandierten die Neonazis bei einer Demonstration an diesem 1. Mai die Parole: "Nie wieder Israel!"

Man darf es nicht so weit kommen lassen, dass die Enkel der Schuldigen des 9. November 1938 ihre Worte von heute zur Tat von morgen werden lassen können. Den Anfängen wehren? Sie gab es längst und ohne allzu große Aufregung auszulösen. Fast unbewegt hörte die Öffentlichkeit den Vorsitzenden der NPD pöbeln, aus den Stelen des Holocaust-Mahnmals könnten die Fundamente einer neuen Reichskanzlei werden.

Es ist wieder 9. November. Darf man das Datum übergehen? Der Jude und Anarchist Erich Mühsam schrieb im Angesicht des nahen Todes 1934 an die Mitgefangenen im Zuchthaus Oranienburg, die "Kameraden der Not", bald werde das Henkerbrot in den Kerker gereicht. Aber es werde die Zeit kommen, da die Welt sich befreit und das Leben in lockenden Sprachen spricht. Sein letztes Vermächtnis für diese Zeit sei: "Vergesst eure Not, eure Leiden nicht! Ich lehr euch: Gedächtnis!"


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Quelle:
diesseits 3. Quartal, Nr. 84/September/08, S. 32-33
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
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Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. September und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 13,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,25 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2009