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KULTUR/047: Was es mit dem Rattenfänger von Hameln wirklich auf sich hat (diesseits)


diesseits 1. Quartal, Nr. 86/2009 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Märchenfigur oder historische Gestalt?
Was es mit dem Rattenfänger von Hameln wirklich auf sich hat

Von Ralf Bachmann


Die Sache mit dem Rattenfänger und den Kindern von Hameln habe ich den Brüdern Grimm schon als Knabe nicht ohne weiteres abgenommen. So blöd kann doch nicht der ganze hoffnungsvolle Hamelner Nachwuchs gewesen sein, dass ausnahmslos alle einem wildfremden Flötenspieler nachgelaufen sind, ohne sich auch nur einmal umzusehen oder wenigstens nach dem Ziel zu fragen, dachte ich.


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Später, als ich erlebte, was Hitler und das deutsche Volk gemeinsam aufführten, leuchtete mir das Märchen eher ein. Aus dem Rattenfänger wurde für mich eine Art Politkrimi. Noch später entdeckte ich die klassenkämpferische Variante: armer obdachlos reisender Kammerjäger gegen saturierte Bourgeois und Spießer. In meiner Zeit als ADN-Korrespondent in Bonn nutzte ich die erste sich bietende Gelegenheit, um der Wahrheit vor Ort auf den Grund zu gehen. Was ist das nun, eine raffiniert gewobene Parabel ohne historische Basis oder ein Geschehen mit einem harten realen Kern, dem die Generationen danach immer neue dramatische Gewänder angelegt haben? Eine Möglichkeit dazu bot die 700-Jahr-Feier des Rattenfängers 1984. Da 2009 ein Jahr großer runder Jubiläen ist, wird man ein so unrundes wie 725 Jahre Hamelner Rattenfänger womöglich übersehen. Grund genug, mich noch einmal an diese alte, inzwischen um einige weitere Facetten bereicherte Geschichte zu erinnern.


Eine Sage wird vermarktet

Fest steht zwar, dass Hameln den 700. Jahrestag feierlich beging. Unklar und umstritten ist dagegen, was eigentlich gefeiert wurde. Das Ereignis vor 700 Jahren in der niedersächsischen Kleinstadt hat nur in seiner Sagengestalt die Runde um die Welt gemacht. In ihr freilich ist sie - vor allem aus Grimms Märchen - jedem Kind bekannt: Ein bunt gewandeter Pfeifer, der Hameln zuvor von einer Rattenplage befreit hatte, rächt sich bei den Bürgern für das Ausbleiben der vereinbarten Belohnung, indem er die Kinder mit süßen Flötentönen dazu verführt, Heimatstadt und Eltern auf Nimmerwiedersehen zu verlassen.

Hameln lebt mit dieser Sage und auch von dieser Sage. Ihre Vermarktung ist mehr als intensiv, sie ist sagenhaft: Von der Souvenirindustrie über den Fremdenverkehrsverein bis zu Tante Emmas Gemischtwarenladen an der Ecke wird vor keinem Kitsch zurückgeschreckt, um die Verbundenheit der Weserstadt mit den Ratten und ihren Fängern zu demonstrieren. Es gibt oder gab Rattenfängersenf, -camembert, -pudding und -wein, von den Brotratten mit struppigen Barthaaren und der originellen Aufschrift "Gruß aus Hameln" oder den Seifenratten ganz zu schweigen. Jährlich werden Rattenfängerspiele veranstaltet. Man hat ein Rattenfängerglockenspiel, einen Rattenfängerbrunnen und ein Rattenfängerhaus. Von der Rattenfängersammlung im Museum wird noch die Rede sein.

Für Hamelns Stadtväter gehört das alles zum Alltag. "Was wären wir ohne die Sage?" fragte mich 1984 der Bürgermeister. "Ein nicht sehr bekannter Ort an der Weser mit ein paar mittelalterlichen Straßenzügen." Es war der Rattenfänger, der den Namen Hamelns hinaus in die Lande getragen hat.


Warnung vor Verführungskünsten

Die Sage mit ihrer schlichten Grundtendenz - der Warnung vor der verführerischen Kraft des Bösen, zumal in schönem Gewande, und zugleich vor den Folgen gebrochener Versprechen - erwies sich Jahrhunderte lang als außerordentlich produktiv. Sie regte Dichter vom Range Goethes, Brentanos und Brechts zu Versen, Franz Schubert und Hugo Wolf zu Vertonungen, andere Komponisten zu Opern, Operetten und symphonischen Dichtungen, Carl Zuckmayer zur Dramatisierung und Bertram Chandler zu einem Science-Fiction-Roman, Paul Wegener und Walt Disney zu höchst unterschiedlichen Filmen und natürlich ungezählte Maler, Zeichner, Designer und Karikaturisten an. Goethe lässt den Rattenfänger in den Paralipomena zur Walpurgisnachtszene als Spukgestalt auftreten, die Mephisto recht aufmerksam und herzlich als "der liebe Sänger von Hameln, auch mein alter Freund, der vielbeliebte Rattenfänger" begrüßt. Brecht gesteht dem wandernden Gesellen in seinem Gedicht "Die wahre Geschichte vom Rattenfänger von Hameln" zwar bezaubernde Musikalität zu - "Er pfiff hübsch. Er pfiff lang. 's war ein wunderbarer Klang." - meint aber, er habe Orientierungsprobleme gehabt: "Um den Berg ist er gebogen. Hat die Kinder aus Versehen in die Stadt zurückgezogen." Die Folge ist für ihn bitter - er wird "am Markt gehangen". "Aber um sein Pfeifen, Pfeifen ist noch lang die Red gegangen." In Prag hatte 1940 E. F. Burian den Mut, Victor Dyks Erzählung "Krysar" ("Rattenfänger") für die Bühne zu bearbeiten und in seinem Theater aufzuführen, obwohl die Titelfigur Hitler zum Verwechseln ähnlich war. 1941 wurde er verhaftet und ins KZ gebracht. Das ist nur eine kleine Auswahl.


Ratten waren nicht dabei

Was Wunder, dass sich in Hameln Leute fanden, denen der Kern der alten Sage, ihr historischer Ursprung, keine Ruhe ließ. Geradezu besessen forschte danach der Mann, dem Hameln die große Rattenfängersammlung seines Heimatmuseums verdankt, der sein Leben lang alles zusammentrug, was in irgendeinem Zusammenhang mit der Sage stand, der Heimatkundler Heinrich Spanuth. Die Rattenfängermaterie wurde ihm so sehr zum Lebensinhalt, dass er sich, schon an seinem Lebensabend stehend, im Jahre 1951 zu einem ungewöhnlichen Schritt entschloss. Er reichte als 79-Jähriger seine gesammelten Forschungsergebnisse bei der Universität Göttingen als Dissertation ein und erhielt dafür mit "magna cum laude" den Doktorgrad. Bei seinem Tode 1958 waren viele neue Erkenntnisse über die geschichtliche Grundlage der Sage gewonnen, vor allem aber war die Anregung zum Weiterforschen aufgegriffen worden.

Was weiß man heute über das Geschehen an jenem sagenumwobenen 26. Juni 1284? Zunächst einmal auf jeden Fall, dass es nichts mit Ratten zu tun hatte. In der ältesten bekannten schriftlichen Aufzeichnung des "Vorfalls", einem etwa 100 Jahre danach entstandenen Bericht in der sogenannten Lüneburger Handschrift, heißt es nur, 1284 sei "am Tage des Johannes und Paulus" (26. Juni) ein "Jüngling von 30 Jahren, schön und überaus wohl gekleidet" durch das Wesertor in die Stadt gekommen. Er habe "auf einer silbernen Flöte von wundersamer Form" durch die ganze Stadt zu pfeifen begonnen.

Die Kinder, die die Flöte hörten, seien ihm gefolgt, "verschwunden und entwichen". Sogar eine Augenzeugin dafür wird angeführt: "Die Mutter des Herrn Dekan Johann von Lüde" - die freilich zur Zeit des Ereignisses selbst noch ein Kind gewesen sein dürfte - "sah die Kinder fortziehen." Die Rattenfängerstory ist eine viel spätere Zufügung zur Sage. Sie taucht erst im 16. Jahrhundert auf.

In den ersten Quellen ist der Pfeifer also kein Teufel, sondern ein anziehender junger Mann. Die Kinder werden nicht wie bei den Brüdern Grimm von einem Berg verschlungen, sondern ziehen einfach davon. Das Geschehen ist auch noch keine übernatürlich anmutende Katastrophe, sondern ein bezeugter Vorgang. Passiert ist demnach schon etwas. Aber was?


Was ist passiert?

Das nur spärlich vorhandene Faktenmaterial lässt verschiedene Deutungen zu, über die sich die Historiker heute mehr denn je streiten: Hat ein Werber die Kinder, nach damaliger Lesart junge Leute bis um die 20, zum Söldnerdienst gelockt? Wurden sie von einem Agenten als "Ostsiedler" nach Brandenburg oder Pommern gebracht, wofür sich damals der lokale Adel stark engagierte? An einigen Orten tauchten dort später typisch Hamelner Namen auf. In der Uckermark gibt es eine Gemeinde Hammelspring, obwohl dort keine Ha(m)mel fließt. Vielleicht haben Neusiedler den Ort auf den Namen des heimatlichen Hamelspring bei Hameln getauft. Handelte es sich um einen kirchlich inspirierten Kinderkreuzzug oder um eine Art Veitstanz, eine religiöse Massenekstase, die von einem Bergrutsch beendet und begraben wurde? Ist die Grundlage der Sage in Wahrheit die - nur etwas unkorrekt datierte - Schlacht bei Sedemünde (1260), die fast der gesamten Hamelner Bürgerwehr das Leben kostete? Gab es einen Pestausbruch oder einen Schiffsuntergang auf der Weser?

Manche Sagenfreunde sind froh, dass die volle Wahrheit um den Auszug der "hämelschen Kinder" wohl im Dunkel bleiben wird. Sie fürchten sogar, das Wirken der Historiker könnte der Sage ihren Zauber nehmen. Doch diese Befürchtung ist unbegründet, so lange die Erzählung über den Rattenfänger und die Kinder allem Forscherdrang zum Trotz lebendig ist wie heute. Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, wie der Liedermacher Hannes Wader in elf Strophen eine völlig neue Version der Geschichte vorstellte: Die Hamelner Pfeffersäcke lassen den betrogenen Rattenfänger durch ihre Büttel verjagen. Aber die Kinder stellen sich an seine Seite und helfen ihm. Da verstoßen die Bürger ihre Kinder und verbreiten, der Rattenfänger habe sie ermordet.


Vorabdruck aus "Ich habe alles doppelt gesehen. Erkenntnisse und Einsichten eines Journalisten. 40 Reportagen und Artikel aus dem geteilten und dem vereinten Deutschland (1948-2008)". Das neue Buch Ralf Bachmanns, das auch zuerst in diesseits veröffentlichte Artikel enthält, erscheint zur Leipziger Buchmesse (12. bis 15. März) im Sax-Verlag Beucha. ISBN 978-3-86729-044-9


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Quelle:
diesseits 1. Quartal, Nr. 86 1/2009, S. 28-30
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"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. September und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 13,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,25 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. April 2009