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STANDPUNKT/181: Was heißt eigentlich 'Sinnvoll leben'? (diesseits)


diesseits 3. Quartal, Nr. 92/2010 -
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Was heißt eigentlich: Sinnvoll leben?

Von Peter Adloff


"Menschen können ihrem Leben ein Sinn geben". So oder in ähnlichen Formulierungen finden wir es in Texten des Humanistischen Verbandes. Sinn ist eine Hintergrundkategorie in unseren Beratungsangeboten, Sinnfragen sind ein wichtiger Bestandteil der Humanistischen Lebenskunde. Die niederländischen Humanisten sprechen explizit von sinngebender Beratung.


"... ihrem Leben einen Sinn geben" - was genau kann das heißen?

Der Satz ist sicherlich nicht identisch mit der Aussage "Menschen entscheiden selber, wie sie leben wollen"; denn das Anfangszitat behauptet, dass sie sich bei diesen Entscheidungen - und vielleicht auch bei der Deutung von Ereignissen - an etwas orientieren, was wir mit dem schillernden Begriff "Sinn" bezeichnen.

Um diese Lebensqualität "sinnvoll" bemühen sich Menschen in einer Zeit frei von geschlossenen Weltbildern auf vielen Wegen. Als Ergebnis einer empirischen Untersuchung fasst der Soziologe Werner Schaeppi diese Wege unter 12 Kategorien zusammen. Sie reichen von "das Leben genießen", "Selbstverwirklichung" oder "Unterstützung Dritter" über "Arbeit und Beruf" bis zu "ethische Werte", "Religion" oder "das Beste draus machen".

Im Folgenden geht es mir nicht darum, einen oder mehrere dieser Wege zu favorisieren, sondern Vorschläge zu machen, wie man das Attribut "sinnvoll" bzw. das Substantiv "Sinn", das gemeinsame Ziel dieser verschiedenen Wege, verstehen kann. Anders gesagt: Was ist der Sinn vom "Sinn"?


Aneignung des Lebens

In begriffsgeschichtlichen Analysen hat der Philosoph Volker Gerhard herausgearbeitet, dass der Terminus vom "Sinn des Lebens" zwar anknüpft an Vorstellungen, wie sie im philosophischen Denken mit der Rede vom "guten" oder "glücklichen" Leben entwickelt waren, aber damit nicht identisch ist. In ihm kommt vielmehr seit Ende des 18. Jahrhunderts eine ökonomische, politische und moralische Verselbständigung des nach eigener Aufklärung und eigener Einsicht strebenden Individuums zum Ausdruck.

Gerhard hebt hervor: Die Vorstellung von Planung und Richtung prägt beim "Sinn des Lebens" die "Auffassung von einer inneren Absicht menschlichen Daseins, das dadurch als eine erfüllte Zeit gesehen wird und darin seinen eigentümlichen Wert hat." Zugleich fließen in die Sinnfrage Zweifel ein; Zweifel an dem für wahr Gehaltenen, vielleicht sogar Enttäuschung: "sich fraglos in der Welt aufgehoben zu fühlen, ist diesem Individuum verwehrt."

Wenn wir "Sinn" einen Moment von "Sinn des Lebens" trennen, finden wir als häufige Synonyme "Zweck" und "Bedeutung". Sinn verweist also auf Zusammenhänge, sei es die von Mittel und Zweck, sei es die von Zeichen und Bedeutung. Die Vorstellung, mithilfe von Sinn Zusammenhänge zu entdecken bzw. herzustellen, lässt sich auch auf das übertragen, was wir mit "sinnvollem Leben" als alltagssprachliche Formulierung meinen bzw. faktisch anstreben. Nach dem Sinn des Lebens zu fragen ist dann nicht Anzeichen einer Krise, sondern Aneignung des Lebens. Was heißt das? Ich nenne verkürzt fünf zusammenhängende Aspekte; die aber vielleicht trotzdem einen Eindruck der von mir vorgeschlagenen Interpretation geben.

1. Wenn Menschen nach dem Sinn des Lebens fragen, können sie keinen Standpunkt "außerhalb" ihres Lebens einnehmen; sie befinden sich immer in einer bestimmten Situation ihres Lebens, in der sie Fragen stellen. Aber sie können sich erinnern und Wünsche wahrnehmen. Sinnfragen sind Ausdruck der Fähigkeit von Menschen, erlebte Gegenwart durch Deutung der Vergangenheit und in einem erstrebten Zukunftshorizont zu überschreiten.

2. Jedes Leben ist eine unendliche Folge von verursachenden und verursachten Ereignissen. Das kann für die Vorstellung von einem eigenen Leben sehr relativierend und bedrohlich sein. Zur Frage nach dem Sinn gehört deshalb die deutende Auswahl von für mich bedeutsamen Ursachen und von erwünschten Spuren eines Lebens. Die Frage nach dem Sinn ist ein Element von Selbstverwirklichung. Aus einem unendlichen und unüberschaubaren Kontinuum von Ursachen und Folgen wird eine Biographie.

3. Wenn Menschen nach dem Sinn ihres Lebens fragen, reicht es ihnen nicht, zusammenzutragen, woran sich die Anderen bzw. eine Mehrheit von ihnen orientieren. Sie suchen eine Verringerung von Unsicherheit. Sie fragen also nicht nur danach, was andere erstreben, sondern was für sie selbst erstrebenswert ist. Sie suchen Begründungen.

4. Mit Sinnfragen stellen Menschen zugleich Forderungen an ihr Leben. Es soll nicht irgendeinem Zweck dienen oder irgendeine Bedeutung haben. Ihr Leben soll nicht bloße Folge von inneren oder äußeren Zwängen sein; das Ideal ist kein unternehmerisches Selbst, das sich marktkonform managt. Die Frage nach dem Sinn ist Misstrauen und potenzieller Widerstand gegen Entfremdung.

5. "Sinn" ist eine Art der Verknüpfung, durch die ein biographischer, aber auch sozialer Zusammenhang hergestellt wird. In Sinnvorstellungen fließen immer kulturelle, also mit anderen geteilte Vorstellungen ein. Die Frage nach dem Sinn ist die Verknüpfung der individuellen Existenz mit etwas Wertvollem außerhalb der eigenen Person. Je mehr Biographien standardisierte, anerkannte Muster verlassen, desto wichtiger wird es für Individuen, sich der Anerkennung durch bedeutsame andere zu versichern.


Komplizierte Lebensgrundlage

In diese Interpretation der "Sinnfrage" sind neben philosophischen vor allem sozialwissenschaftliche Überlegungen eingegangen. Denn der Einzelne soll nicht von seinem sozialen und geschichtlichen Kontext isoliert erscheinen, als ewig immergleicher Sinn-Sucher. Sinnvorstellungen haben sowohl eine gesellschaftlich erzeugte Seite als auch die Seite individueller Aneignung. Auch jugendsoziologische Untersuchungen weisen in die Richtung der oben erläuterten fünf Aspekte. Heiner Keupp fasst die Ergebnisse der 13. und 14. Shell-Studie zusammen: "'Sinn' ist eine wichtige, wenn auch prekäre Grundlage der Lebensführung. Sie kann nicht einfach aus dem traditionellen und jederzeit verfügbaren Reservoir allgemein geteilter Werte bezogen werden. Sie erfordert einen hohen Eigenanteil an Such-, Experimentier- und Veränderungsbereitschaft."

Sinnvorstellungen sollen eine Lebensgeschichte nicht festlegen und verplanen, sondern den Sinn für Möglichkeiten fördern. Eine Lebensgeschichte erhält auch nicht zwangsläufig dadurch Sinn, dass man immer "derselbe" bleibt, sondern indem man Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Facetten und Entwicklungsschritten für sich erkennen kann und von anderen in dieser Vielfalt anerkannt wird.


Humanistische Orientierungen fördern Sinnfindung

Beim "Sinn" bewegen wir uns, wie der Philosoph Frieder Otto Wolf 2004 schrieb, auf einem "durchaus noch nicht gründlich untersuchten Gelände". Diese Untersuchung mithilfe von entwicklungspsychologischen, soziologischen und philosophischen Konzepten über Biographiearbeit, gesellschaftliche Zumutungen und die Balance zwischen Entfaltung von Individualität und Wertschätzung von Zugehörigkeit voranzutreiben, erscheint mir ergiebiger, als ein unvermitteltes Anknüpfen z.B. an Epikurs Vorstellungen vom klugen Lebensgenuss durch philosophische Lebenskunst (wie es beim HVD gelegentlich proklamiert wird) oder das Bemühen, aus einer "Weltanschauung" Sicherheiten herzuleiten.

Wäre damit der Humanismus als emanzipatorische Idee und als Widerstandsbewegung gegen Unmenschlichkeit überflüssig? Nein!

Selbstbestimmung (als Selbstsorge und Bereitschaft zu reflexiver Entscheidung), Verbundenheit (als Erfahrung von Zugehörigkeit und Fähigkeit, Verbindung aufzunehmen) und schließlich das Leben mit dem Zweifel (das nicht Verzweiflung ist) - das sind humanistische Orientierungen, und ohne Orientierungen würden Sinn suchende Subjekte sich wie vor einem blinden Spiegel um sich selbst drehen.

Humanistische Orientierungen können sinnvolle Lebensgestaltung fördern. Sinnfördernde Lebenshaltungen tragen dazu bei, dass ein Leben gelingen kann, nicht dass es stets gelingt.

Denn auch das gehört zum "Sinn": die Grenzen seiner Machbarkeit.


Peter Adloff ist Mitarbeiter der Fort- und Weiterbildung im Berliner HVD und hat über die Didaktik der Humanistischen Lebenskunde promoviert.


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Quelle:
diesseits 3. Quartal, Nr. 92 3/2010, S. 12-13
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2010