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BUCHBESPRECHUNG/249: Sebastian Chwala - Frankreichs radikale Rechte. Geschichte, Akteure und Gefolgschaft (Gerhard Feldbauer)


Ursachen des Vormarsches der faschistischen Rechten in Frankreich

Eine Spurensuche liefert viel Wissenswertes
Wichtige Aspekte bleiben jedoch unterbelichtet oder auch ausgeklammert

von Gerhard Feldbauer, 19. Februar 2024


Neben dem faschistischen Vormarsch in Italien hat dieser in Frankreich nach 1945 tiefgreifend die gesellschaftlichen Prozesse geprägt, allerdings mit der Ausnahme, dass es dem Rassemblement National (RN), dem vorherigen Front National, nicht - oder noch nicht - gelang, zur Regierungspartei aufzusteigen oder gar die Regierung zu bilden. In dem Buch "Frankreichs radikale Rechte" geht Sebastian Chwala auf Spurensuche, um zu klären, wie es Marine Le Pen gelang, der politischen Auseinandersetzung ihren Stempel aufzudrücken, eine fortlaufende Erosion des etablierten Parteiensystems zu bewirken und die "Grande Nation" weiter nach rechts zu verschieben. Der Autor geht auf geschichtliche Wurzeln bis zum Ersten Weltkrieg zurück, analysiert Akteure und die Gefolgschaft, das Gewicht der rechtsextremen Hochburgen und ihre soziale Zusammensetzung.

In der Fülle der Darlegungen, die für Experten eine Fundgrube an Quellen liefern, bleiben leider wichtige Aspekte für den wechselseitigen Prozess der Auseinandersetzung der entgegengesetzten Klassenkräfte nach dem Ersten Weltkrieg unterbelichtet oder werden auch gar nicht einbezogen. Das beginnt mit der fehlenden Rolle der Rechtssozialisten, die bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Kriegskredite bewilligten, in die Regierung eintraten und dem Kapital über die Nachkriegskrise hinweghalfen - kurz gesagt mit dem Entstehen des Revisionismus als Strömung bürgerlicher Ideologie in der Arbeiterbewegung und seiner Rolle zur Aufrechterhaltung der imperialistischen Herrschaft, die bis in die Gegenwart anhält und zum Niedergang der Linken auch in Frankreich beitrug.

Der eigentliche Gegenstand des Buches ist dann, beginnend mit dem 3. der insgesamt 6 Kapitel, die "politische und ökonomische Entwicklung" der extremen Rechten seit 1945, wozu der Autor nicht nur die rechtsextremen Akteure, ihre Gefolgschaft sowie die Hochburgen der Bewegung eingehend untersucht, sondern auch auf die "multiple Krise" des Kapitals als "Ursachenbündel", auf die "Geister der neoliberalen Politik", die Rolle der Abstiegs- und Entfremdungserfahrungen ausgesetzten "classes populaires" eingeht, die Klassenerfahrungen der Mittelschichten wie der "Ausgestoßenen", eingeschlossen den Niedergang der Linksparteien, einbezieht und der Frage nachgeht, "wer rechts wählt". Hier meint der Autor, dass der Aufstieg der extremen Rechten viel eher aus der Bedrohung einer breiten "Eigentümergruppe" durch die Monopolisierungstendenzen des "modernen" Kapitalismus resultiert. Insbesondere die "neuen Mittelschichten" mit ihren Einfamilienhäusern in den Vorstädten würden einerseits ihren Abstieg und andererseits die Konkurrenz neuer sozialer Aufsteiger fürchten.

Mit der Wahl Marine Le Pens 2011 mit 67 Prozent zur Nachfolgerin ihres Vaters Jean-Marie Le Pen, der 1978 den Front National gegründet hatte, setzte eine programmatische Neuausrichtung ein, die 2018 zur Umbenennung in Rassemblement National führte, der auf die Gewinnung einer breiteren Anhängerschaft orientieren soll. Dazu tritt die neue Parteiführerin moderater und weniger radikal auf, was sie selbst "Entdämonisierung" nennt. Statt von "Rassen" ist nun von "Kulturen" die Rede. Wer in der Partei öffentlich Nazi-Symbole zeigt, wird ausgeschlossen, wobei Marine selbst ihren eigenen Vater einbezieht. Sie versucht, andere Themenfelder zu besetzen, auch solche, die in der Vergangenheit von den Linken belegt wurden. So tauchten, wie Chwala herausarbeitet, Begrifflichkeiten wie "soziale Gerechtigkeit", "Große Unternehmer" oder "Finanzkapital" verstärkt in ihren Reden auf und sie besaß ebenfalls keine Scheu, sich positiv auf die Republik oder den Laizismus zu beziehen.

Als Antwort auf den Rechtsruck in den bürgerlichen Parteien vertrat sie ein "linkes ökonomisches Projekt", mit dem sie bei der Europawahl am 25. Mai 2014 in Frankreich stärkste Kraft wurde. Der FN erhielt rund 25 Prozent der Stimmen und stellte von nun an die größte Anzahl französischer Abgeordneter im EU-Parlament. Da das im Weiteren jedoch nicht funktionierte, da "der FN nie ein linkes Profil besaß", präsentierte sie sich zum Wahlkampf 2017 "wieder auf lautstarke Weise als Vertreterin der traditionellen radikalen Rechten" und kam in der Stichwahl zur Präsidentenwahl im Mai 2017 hinter Macron (66,1 %) auf 33,9 %. Der RN warnte vor einer "Islamisierung" und forderte, das Asylrecht zu verschärfen und illegale Einwanderer, als sans-papiers ("ohne Papiere") bezeichnet, auszuweisen.

Zum Kurs Marine Le Pens gehörten nicht selten Korrekturen, so wenn sie 2011 im Wahlkampf den Austritt Frankreichs aus der NATO verkündete, 2017 ein Austrittsreferendum aus der EU versprach, danach für eine EU von Nationalstaaten eintrat und 2022 nur noch deren Umgestaltung wollte. Aufsehen erregte sie 2017 mit der Äußerung, die Besetzung und Annexion der Krim 2014 sei nicht unrechtmäßig gewesen, dazu das von Russland durchgeführte Referendum anführte und ebenso wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland ablehnte.

Kein Abrücken gab es von der Parole "Les Français d'abord" (Franzosen zuerst). Mit einem "weicheren" Rassemblement National will Marine Le Pen Präsidentin werden. Dazu gab sie vor der Wahl 2022 den Parteivorsitz auf und brachte mit dem 27jährigen Jordan Bardella einen Vertreter der Jugend an die Spitze. Droht nach rechtsextremistischen Regierungschefs in Italien, Ungarn und den Niederlanden auch in Frankreich ein Sieg Marine Le Pens? Nach dem Paukenschlag, den der Wahlgang im April 2022 darstellte, bei dem sie hinter Macron, der auf rund 58 % absank, mit knapp 42 % ihren 2. Platz aufwertete, ist das eine reale Befürchtung.


Sebastian Chwala:
Frankreichs radikale Rechte.
Geschichte, Akteure und Gefolgschaft.
PapyRossa, Köln 2023
ISBN 978-3-89438-796-9

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Quelle:
© 2024 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 20. Februar 2024

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