Tanja Carstensen, Simon Schaupp, Sebastian Sevignani (Hg.)
Theorien des digitalen Kapitalismus
Arbeit und Ökonomie, Politik und Subjekt
Von Klaus Ludwig Helf, März 2024
Der Plattform-Kapitalismus ist Teil einer neuen digitalen Wirtschaftsordnung geworden, in der US-dominierte Unternehmen wie Google, Amazon, META (u.a. Facebook, Instagram, WhatsApp, Messenger) und die chinesischen Plattformen Baidu, Alibaba und Tencent spätestens seit der Finanzkrise 2008/09 eine immer größere Rolle spielen. Nick Srnicek, Dozent für digitale Ökonomie am King's College London und Co-Autor des vorliegenden Bandes hat bereits 2016 (deutsch 2018) eine Streitschrift zum Thema Plattform-Kapitalismus veröffentlicht. Er belegt dort nachvollziehbar seine These, dass der Kapitalismus wegen der sinkenden Profitabilität im Produktionssektor die 'Daten' entdeckt habe, um weiterhin wirtschaftliches Wachstum und Gewinne zu generieren.
Der Begriff 'Digitaler Kapitalismus' wurde bereits im Jahre 1999 von Dan Schiller und Peter Glotz geprägt und analysiert und von Sascha Lobo in einem SPIEGEL-Artikel von 2014 popularisiert. Die digitalen Plattformen seien globale und monopolartige Meta-Händler, die Zugang und Prozesse eines ganzen Geschäftsmodells regelten und kontrollierten. Sie seien ökonomische Systeme, die Geld verdienen, indem sie Dritten ermöglichen, Geld zu verdienen. Philipp Staab, auch Co-Autor des Bandes, weist in seiner Studie nach, dass es im digitalen Kapitalismus keine freien, neutralen Märkte mehr gebe, da diese den privaten digitalen Plattformen selbst gehörten ("proprietäre Märkte"). Als Monopolisten könnten sie den Zugang zu den Märkten kontrollieren, digitale Güter, die eigentlich nicht knapp sind, verknappen und hohe Gewinne erzielen.
Die Auswirkungen der kapitalistischen Strukturen und der digitalen Technologien auf nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche sind in wissenschaftlichen und fachjournalistischen Kontexten zum Gegenstand von luziden Analysen geworden. Aber nach wie vor fehlen Kompendien, die eine vielschichtige und multiperspektivische Übersicht zum Forschungsstand geben. Der vorliegende Band will hier eine Lücke schließen, eine "Zusammenschau" der "sprachlos nebeneinanderstehenden Ansätze der kritischen Politischen Ökonomie und der Science and Technology Studies (STS)" (S. 9) bringen und "Verbindungen der disparaten Ansätze aus[zu]leuchten" (S. 11).
Herausgeber des Bandes sind: Tanja Carstensen ist Privatdozentin am Institut für Soziologie der LMU München und Koordinatorin des Forschungsverbunds Sorgetransformationen an der Universität Hamburg. Simon Schaupp ist Oberassistent am Lehrstuhl für Sozialstrukturanalyse der Universität Basel. Sebastian Sevignani ist Akademischer Rat am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena und im Sonderforschungsbereich 294 Strukturwandel des Eigentums.
Nach einer problemorientierten Einführung über Basiskategorien und zukünftige Herausforderungen für eine Theorie des digitalen Kapitalismus folgen in dem Band vier Hauptkapitel zu den Themen: Arbeit / Ökonomie / Politik / Öffentlichkeit und Kultur / Subjekte. Die Textnachweise befinden sich am Schluss. Die Anmerkungen sind in die jeweiligen Aufsätze eingearbeitet. Die fünfundzwanzig Einzelbeiträge wurden von fachlich ausgewiesenen Autorinnen und Autoren geschrieben u.a. von Emma Dowling, Helen Hester, Ursula Huws, Kylie Jarrett, Oliver Nachtwey, Nick Srnicek, Jamie Woodcock und Philipp Staab, der bereits 2019 in derselben Reihe des Suhrkamp- Verlags einen wegweisenden Band zum digitalen Kapitalismus veröffentlicht hat (vgl. Rezension: SCHATTENBLICK - BUCHBESPRECHUNG/199: Philipp Staab - Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit (Klaus Ludwig Helf). Die Aufsätze bieten einen breiten, vielgefächerten und aktuellen Überblick über Analysen und Forschungsstand zum Thema digitaler Kapitalismus.
Herausgeberin und Herausgeber kommen bei der Bewertung der von ihnen zusammengetragenen Beiträge zu dem Schluss, dass "... weiterhin ein immenser Bedarf an Forschung und Theoretisierung besteht und dass Perspektiven noch weiter ausgearbeitet werden können und sollten. (S. 31). Dies betreffe vor allem eine intensivere produktivkrafttheoretische Untermauerung des digitalen Kapitalismus, ein "konsequentes Zusammendenken von Produktion und Reproduktion" insbesondere unter ökologischen Aspekten. Die digitale Infrastruktur verursache immense ökologische Kosten z.B. beim Abbau seltener Erden für digitale Geräte oder beim immensen Energieverbrauch der Rechenzentren. Der Konzern Alphabet verbrauche mehr Strom als die gesamte Volkswirtschaft Sri Lankas. Rechenzentren nutzten sehr große Mengen Wasser zur Kühlung ihrer Server. Sowohl Energie als auch Wasser würden wegen des Klimawandels zu immer knapperen und teureren Ressourcen, was zu Konflikten mit der Bevölkerung führen werde (siehe auch aktuell die Auseinandersetzungen um die Batteriefabrik im saarländischen Überherrn oder um das Tesla-Werk in Brandenburg).
Als weitere Desiderata gelten die vergleichende internationale und intersektionale Transformationsforschung. Florian Butollo und ähnlich Ulrich Dolata und Jan-Felix Schrape weisen in ihren Beiträgen darauf hin, dass der digitale Strukturwandel der Industrie und dessen Rolle bei der digitalen Transformation des Kapitalismus "bislang vergleichsweise wenig erforscht" sei (S. 363). Ansätze von politischen und zivilgesellschaftlichen Interventionen zur Regulierung und Kontrolle der großen Plattformen (rechtliche Eingrenzung und rechtlich-regulative Eingriffe) seien auch auf Ebene der EU nach wie vor begrenzt. Viele staatliche Eingriffe in die soziale Regelungshoheit der Plattformbetreiber hätten bislang "paradoxerweise deren Regulierungsmacht eher gestärkt, indem sie eigentlich hoheitliche Funktionen der Rechtsprechung und -durchsetzung auf privatwirtschaftliche Akteure übertragen und diese Verlagerung mit politischer Legitimation versehen haben" (S. 361). Weitreichende Vorschläge, die Macht der digitalen Konzerne zu brechen oder zumindest effektiv und rigide zu regulieren seien zwar in der Diskussion, würden aber politisch nicht oder nur halbherzig verfolgt, z. B. eine radikale Entflechtung der global miteinander vernetzten Plattformen der großen IT-Konzerne oder die Idee der Einrichtung einer öffentlichen Aufsichts- und Regulierungsagentur auf EU-Ebene, die demokratisch legitimiert und kontrolliert und mit effektiven Informations-, Kontroll- und Sanktionsrechten ausgestattet sei.
Marisol Sandoval analysiert kritisch Modelle von Plattform-Kooperativismus als transformative, genossenschaftlich organisierte Praxis: und kommt zu folgendem Ergebnis: "Will der Plattform-Kooperativismus mehr sein als nur ein Projekt zur Schaffung 'verantwortungsbewusster' Unternehmen, so muss er eingebettet sein in eine breitere politische Bewegung" (S. 401). Diese wird von dem Autor leider nicht konkreter definiert und begründet, wie auch überhaupt in dem Band veritable sozialwissenschaftliche Analysen der konkreten politisch-gesellschaftlichen und sozioökonomischen Ursachen für die globale und fast ungehemmte Ausbreitung der Plattformunternehmen fehlen.
Insgesamt gibt der vorliegende Band einen hervorragenden Überblick über die unterschiedlichen und multiperspektivischen sozialwissenschaftlichen, kritischen Theorien und Debatten entlang der Themen Arbeit und Ökonomie, Politik und Subjekt - ein Standardwerk der kritischen Politischen Ökonomie.
Tanja Carstensen, Simon Schaupp Sebastian Sevignani (Hg.)
Theorien des digitalen Kapitalismus
Arbeit und Ökonomie, Politik und Subjekt
Suhrkamp Verlag Berlin 2023
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2415
Broschur
533 Seiten
28,00 EURO
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Quelle:
© 2024 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 19. März 2024
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