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BUCHBESPRECHUNG/252: Lisz Hirn - Der überschätzte Mensch. Anthropologie der Verletzlichkeit (Klaus Ludwig Helf)


Lisz Hirn

Der überschätzte Mensch
Anthropologie der Verletzlichkeit

Von Klaus Ludwig Helf, März 2024


Das Jahr 2024 steht im Zeichen des Philosophen Immanuel Kant, der den Menschen in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als "vernünftiges Wesen" bezeichnet. Als viertes und letztes philosophisches Leitmotiv stellt Immanuel Kant die Ur-Frage: Was ist der Mensch? Darauf eine Antwort zu geben, sei schwer - der Mensch sei halt aus einem "krummen Holz", kaum fähig zu einem ewigen Frieden, freiheitsbegabt und auch fies. Vor und nach Kant haben sich viele Denkerinnen und Denker den Kopf über "das Wesen des Menschen" zerbrochen und ihr "Innerstes" zermartert, ohne zu allseits plausiblen und anerkannten Ergebnissen zu kommen. Dabei wird deutlich, dass wir Menschen uns immer ganz wichtig nehmen, insbesondere in Abgrenzung zum Tierreich und uns dadurch auch leicht überschätzen als Beherrscher und gleichzeitig als Teil der Natur. Unsere uns selbst zugeschriebene Vormachtstellung scheint durch die technologischen Entwicklungen, insbesondere durch die Künstliche Intelligenz bedroht zu sein. Die Philosophin Lisz Hirn versucht, in dem vorliegenden Band angesichts von Klimakrise, Pandemie, Smartphone und Künstlicher Intelligenz einen neuen Ansatz zu skizzieren, eine "Anthropologie der Verletzlichkeit".

Lisz Hirn ist als Philosophin, Schriftstellerin, Coach in der Jugend- und Erwachsenenbildung, Künstlerin, Obfrau des Vereins für Praxisnahe Philosophie und Mitglied der Gesellschaft für angewandte Philosophie. Die Schwerpunkte ihrer philosophischen und wissenschaftlichen Arbeit liegen in der philosophischen Anthropologie, politischen Philosophie, interkulturellen Ethik und der kognitiven Beratung.

Nach dem Prolog folgen in dem Band vier Kapitel: Essen, Sterben, Werden und Handeln. Es folgen ein Epilog, Danksagung, Anmerkungen und ein Literaturverzeichnis. In einem weit gespannten philosophischen Bogen von Platon über Nietzsche, Heidegger, Beauvoir, Camus, Derrida, Foucault, Arendt und aktuell bis Han und Pelluchan versucht Lisz Hirn der Frage nach der Essenz des Menschen und seiner Rolle in der Natur und im Kosmos nachzugehen. Seit Menschengedenken versuche der Mensch seine hervorragende Stellung zu rechtfertigen. Dieser stehe nicht nur am Ende der 'Scala naturae' (Aristoteles), sondern auch am Ende der Nahrungskette: "Der Mensch als das Tier, das nicht von anderen Tieren gegessen wird. Dieser Bruch mit der eigenen Fleischlichkeit macht unseren etablierten Mensch-Tier-Dualismus in all seiner Radikalität erst möglich" (S. 11). Einflussreiche Positionen der Philosophie hätten sich der Abgrenzung zwischen 'Tier' und 'Mensch' verschrieben: "Während sich die Religion mithilfe eines metaphysischen Sprungs auf eine göttliche Erwähltheit der menschlichen Spezies stützen konnte, nahm die Philosophie eine exklusive Vernunftbegabung an, um die außerordentliche Stellung des Menschen nicht nur auf der Erde, sondern sogar im Kosmos zu legitimieren" (S. 9/10).

Bereits im Jahre 1956 bemühte sich Günther Anders - inspiriert von der apokalyptischen Furcht vor einem Nuklear-Krieg - um eine philosophische Anthropologie im Zeitalter der Technokratie (Die Antiquiertheit des Menschen). Daran knüpft Lisz Hirn an und analysiert die Bedrohung der menschlichen Vormacht durch Big Data und KI: "Die totale Vermessung des nackten Lebens ist an sich nichts Neues. Vor allem seitdem die Möglichkeit besteht, das Innere des Fleisches sichtbar zu machen, den Körper bis in den letzten Winkel zu durchleuchten. Dieser Röntgenblick erstreckt sich mittlerweile auf alle Lebensbereiche. Man durchleuchtet nicht nur das Unsichtbare, man löst das eigentlich unfassbare Fleisch in Datenmoleküle auf" (S. 73).

Lisz Hirn strebt nach einer menschengerechten Gestaltung zukünftiger Systeme, bei der der Mensch wieder in der Mittelpunkt rücke. Künstliche Intelligenz bilde und simuliere nur menschliches Denken und Sprechen, ohne beides zu verstehen, da Verstehen mehr als Rechnen und Imitieren sei: "Wir nutzten KI, um die Kontrolle über die Zukunft zu erhöhen, während die KI uns dazu bringt, so zu handeln, wie sie es prognostizierte. Damit verlören wir sowohl wesentliche Teile unserer Entscheidungsfreiheit über die Zukunft als auch unseren Status als freies, moralisches Subjekt. Das Narrativ eines moralischen Fortschritts durch smarte Technik lässt sich folglich nicht halten. Dass das Internet die Gleichheit faktisch fördere, bewahrheitet sich ebenso wenig wie auch, dass es die Gleichheit als moralisches Prinzip fördere. Die Algorithmen bilden die reale Welt virtuell nach" (S. 76).

Die Weiterentwicklung Künstlicher Intelligenz stelle die letzten Ansprüche menschlicher Würde infrage, da die Kunst eines der letzten Reservate sei, in das sich viele zurückziehen konnten und sich der Künstlichen Intelligenz überlegen sahen. Diese habe auch ihre Grenzen, da nicht alles Analoge in digitale Signale umgewandelt werden könne. Gerade das exponentielle Wachstum von Künstlicher Intelligenz und ihrer apokalyptischen Reiter Fake News und Deepfakes könnten "paradoxerweise" dazu führen, dass zukünftig ausschließlich die leibliche Präsenz als Zeugnis gelten könnte: Man glaube nur dem, den man von Angesicht zu Angesicht sehe, dessen unmittelbare Ansprache mit eigenen Ohren höre und dessen Taten man als lebendiges Wesen an sich erfahre. Es gäbe nur ein "wirklich ernstes philosophisches Problem": den Menschen - so resümiert Lisz Hirn ihren philosophischen Parforceritt: "Das Verlässlichste an uns ist das Menschliche, nicht unser Fleisch. Dass wir anders sind als bloßes Fleisch, als irgendeine zoologisch erfasste Tierart, anders als Rechenmaschinen und Werkzeuge, ist einer genuin politischen Aufforderung geschuldet. 'Ecco Homo!' Der Mensch erscheint nur im Vokativ" (S. 111).

Lisz Hirn hat nach spannenden Ausflügen in den philosophischen Kosmos und nach düsteren Blicken in apokalyptische Abgründe abschließend ein tröstliches und hoffnungsfrohes Szenario einer möglichen Zukunft entworfen. Der Band wirft einen klaren und unbestechlichen Blick auf die Irrungen und Verwirrungen menschlicher Selbstüberschätzungen im Spannungsfeld von Natur und Technik angesichts der immer verdrängten Tatsache der eigenen Fehlerhaftigkeit und auch Endlichkeit. Ein nachdenklich machendes Buch, das aber auch ermuntert zu hoffnungsfrohen Gedanken und Taten.


Lisz Hirn
Der überschätzte Mensch
Anthropologie der Verletzlichkeit
Zsolnay Verlag Wien 2023
128 Seiten
20,60 Euro

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Quelle:
© 2024 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 26. März 2024

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