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BUCHBESPRECHUNG/258: Christina Morina - Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren (Klaus Ludwig Helf)


Christina Morina

Tausend Aufbrüche.
Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er-Jahren

von Klaus Ludwig Helf, August 2024


Der vorliegende Band wurde mit dem Deutschen Sachbuchpreis als Sachbuch des Jahres 2024 ausgezeichnet mit der Begründung der Jury, dass die Autorin mit einer systematischen, methodisch-kritisch reflektierten Auswertung bisher kaum beachteter Quellen belege, wie unterschiedlich sich das Demokratieverständnis in Ost- und Westdeutschland seit den 1980er Jahren entwickelt habe. Christina Morina liefere mit ihren Ergebnissen überraschende und notwendige Impulse für die aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen. Damit hat die Jury zweifellos eine sehr gute Entscheidung getroffen mit einer gebührenden und zutreffenden Würdigung. Der Band weist eindeutig nach, dass es trotz gegenteiliger offizieller und auch wissenschaftlicher Behauptungen aus Anlass des 75. Geburtstages des Grundgesetzes nach 1989 durchaus ernstzunehmende, vielseitige und originelle Ideen und Bemühungen in Ost und West gab, eine umfassende Diskussion und Abstimmung mit dem Ziel einer demokratischen Erweiterung und Bereicherung einer neuen Verfassung Deutschlands zu initiieren.

Christina Morina, seit 2019 Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld, untersucht die Frage nach dem Ort und der Bedeutung der Revolution von 1989 in der deutschen Demokratiegeschichte. Sie unternimmt eine "zeithistorische Spurensuche nach den Vorstellungen von Demokratie und Staatsbürgersein, die seit den 1980er Jahren im geteilten und im vereinten Deutschland in der Breite der Gesellschaft verhandelt wurden" (S. 291).

Nach einer Einleitung über Demokratiegeschichte in integrierter Perspektive folgen in dem Band fünf Kapitel, ein Fazit (Jenseits der 'inneren Einheit') und ein umfangreicher Anhang (Dank, Abkürzungsverzeichnis, Anmerkungen, Abbildungs- und Literaturverzeichnis, Register der Personen und politischen Gruppen und Initiativen). Da die Demokratiegeschichte der Deutschen seit 1989 vor allem unter politik- und sozialwissenschaftlichen, aber weniger unter zeitgeschichtlichen und vergleichenden Aspekten untersucht worden ist, betritt Christina Morina forschungspolitisches Neuland. Es ist der gelungene Versuch einer 'politischen Kulturgeschichte von unten' durch die Auswahl und systematische Auswertung massenhaft überlieferter und bislang unerforschter Selbstzeugnisse wie Bürgerbriefe, Flugblätter, Petitionen und Konzeptpapiere einzelner Personen und Bürgerinitiativen, um subjektive Vorstellungen von Demokratie 'ganz normaler' Bürgerinnen und Bürger in Ost und West seit den 1980er Jahren sichtbar zu machen. Es ergeben sich neben Kontrasten auch einige "bemerkenswerte Gemeinsamkeiten": "Beide Gesellschaften waren in den 1980er Jahren zutiefst bewegte und höchst politisierte Gesellschaften" (S. 295). Nicht überraschend für die Bundesrepublik, aber doch für die DDR.

Christina Morina kann nachweisen, dass das oft verbreitete Bild einer erstarrten, apathischen Nischengesellschaft der DDR kaum gelten kann: "Demokratie wurde auch und gerade in der DDR [...] im täglichen Vermessen der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit gewissermaßen im Dauerkritikmodus - nicht selten aggressiv oder gar offen gewaltbereit - debattiert, gefordert, geübt, verworfen. Diese Erkenntnis betrifft nicht nur die Vorgeschichte der sogenannten Friedlichen Revolution. Vielmehr ist sie für die Rekonstruktion und Einordnung der tausend Aufbrüche im Zuge des Zerfalls des SED-Staates 1989/90 von geradezu elementarer Bedeutung" (S. 296). Auch die DDR müsse - so Morina - in die Geschichte der deutschen Nachkriegsdemokratie integriert werden, indem man sie als "Demokratieanspruchsgeschichte" begreife, ohne damit ihren Diktaturcharakter ("partizipatorische Diktatur") zu relativieren. Die "volksdemokratischen Ideale" vieler DDR-Bürgerinnen und -Bürger ("Wir sind das Volk") seien nach der Wende und bei der Ausgestaltung der gesamtdeutschen Verfassung und des Staates weitgehend unberücksichtigt geblieben - eines der Einfallstore für die Entwicklung und Erstarkung der AfD vor allem im Osten, wie die Autorin plausibel nachweisen kann.

Christina Morina hat einen bedeutenden Beitrag zur Demokratiegeschichte Deutschlands seit den 1980er Jahren geschrieben und wird damit auch die aktuellen Diskussionen um die Belebung und Verteidigung der Demokratie beflügeln und anregen können, denn: "Demokratie ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Sie ist keine statische Idee, sondern ein Sammelsurium veränderlicher ideale, kein allein staatliches System, sondern eine gelebte, gestalt- und streitbare Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens" (S. 291).


Christina Morina:
Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er-Jahren.
Siedler Verlag, München 2023, gebunden, 400 Seiten, 28,00 EUR.

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Quelle:
© 2024 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 16. August 2024

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