Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser
Triggerpunkte
Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft
von Klaus Ludwig Helf, August 2024
Die Autoren des vorliegenden Bandes haben sich zum Ziel gesetzt, das in der Wissenschaft und in der medialen Öffentlichkeit häufig gezeichnete Bild einer gespaltenen Gesellschaft in Deutschland kritisch zu analysieren und zu untersuchen, wie und wo die Spaltungslinien, Dynamiken und Muster aktueller gesellschaftlicher Diskurse vor allem bei 'Reizthemen' verlaufen. Methodisch greifen sie dabei auf eigene empirische Studien (u.a. eine repräsentative Umfrage und Fokusgruppen) zurück und verarbeiten zusätzlich weitere Literatur. Es ist der Versuch einer '180-Grad-Vermessung' gesellschaftlicher Konflikte. Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser erklären die Verteilung der Spaltungslinien und Meinungen im Polarisierungsdiskurs der Gesellschaft bildlich vereinfacht und plausibel mit den Höckern eines Kamels: Zwei große Blöcke an den Rändern und eine große Senke in der Mitte. Das Gegenbild sei die "Dromedargesellschaft", deren gesellschaftliche Linien eher einem einzigen breiten Höcker ähnelten, der sich über den gesamten Rücken spanne. Entgegen den Behauptungen einer Polarisierung zwischen links und rechts diagnostizieren sie einen breiten gesellschaftlichen Konsens und eine Tendenz zur Mitte in den meisten Fragen von Relevanz: Nicht Kamel-, sondern Dromedar-Gesellschaft. Der Band wurde 2024 von der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Preis "Das Politische Buch" ausgezeichnet.
Die Autoren sind Soziologen an der Humboldt-Universität zu Berlin: Steffen Mau ist Professor für Makrosoziologie, Thomas Lux ist Vertretungsprofessor und forscht über politische Soziologie der Ungleichheit, Linus Westheuser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter (Postdoktorand) und forscht zu politischen Konfliktstrukturen, Klassen und Moral.
Nach der Einleitung ist der Band in elf Kapitel gegliedert; es folgen Anmerkungen, Literatur- und Abbildungsverzeichnis, Dank und ein ausführliches Inhaltsverzeichnis. Die Großkonflikte der Gegenwart werden in vier "Arenen der Ungleichheit" (Verteilung, Migration, Diversität, Klimaschutz) eingeordnet und nach dem Grad ihrer sozialstrukturellen Verankerung analysiert: Oben-Unten (Sozioökonomie), Innen-Außen (Nationenzugehörigkeit), Wir-Sie (Identitätsdebatte) und Heute-Morgen (Klimadiskussion). So gelingt es den Autoren vortrefflich, eine Karte der deutschen Konfliktlandschaft zu zeichnen, die man als soziologisches Handbuch nutzen kann bei der Suche nach Programmfeldern für gesellschaftliche Veränderungen.
Eine zentrale Erkenntnis der Studie ist ein Zusammenhang zwischen "Wut und Veränderungserschöpfung", vor allem nach der Corona-Pandemie. Die politische Lagerbildung sei erheblich schwächer geworden und eröffne dadurch Möglichkeiten "für eine stimmungsgetriebene Affektpolitik, die Polarisierungsunternehmer gewinnbringend zum Einsatz bringen, allen voran bei den Rechten". Es existiere aber eine breite konsensuale Basis in der Mitte der Gesellschaft, die entideologisiert und nur schwach parteipolitisch gebunden sei, was ihre Mobilisierungs- und Artikulationsfähigkeit schwäche. Die Konfliktformierung im öffentlichen Raum entfalte sich vor allem über die Ränder. Das vermittle den Eindruck einer Spaltung der Gesellschaft in abgrenzbare Lager, was die Autoren auf der Grundlage umfassender empirischer Daten widerlegen können, ohne deshalb der umgekehrten Diagnose der Einigkeit und Harmonie das Wort zu reden. Konflikte seien in der Gesellschaft mit allerdings geringer politischer und radikaler Polarisierung an den Rändern vorhanden: "Zusammengenommen ergibt sich ein ganz anderes Bild der deutschen Konfliktlandschaft. Auseinandersetzungen sind allgegenwärtig... Große soziale Debatten drehen sich nie bloß um unterschiedliche Meinungen und Vorlieben, sondern immer auch um Ressourcen, Anerkennung, Mitgliedschaft oder Kontrolle. Konflikte sind vor allem an jenen Bruchstellen wahrscheinlich, wo Bewegung in ungleiche Verteilungen kommt; weil die Welt sich ändert oder weil bislang unterlegene Gruppen Ansprüche erheben, die die Etablierten abzuwehren suchen." (S. 380)
Bei den grundlegenden Leitvorstellungen wie Wohlfahrt, Klimaschutz, Toleranz und gesteuerte Einwanderung lasse sich ein "weitreichender gesellschaftlicher Konsens" feststellen. Entscheidend für Entstehung und Ausmaß gesellschaftlicher Konflikte seien "Triggerpunkte", auf die die Menschen besonders heftig und emotional reagieren. Obwohl Migration beispielsweise das polarisierteste Thema sei, plädiere das "Gros der Bevölkerung" weder für offene Grenzen noch für Abschottung, sondern für gesteuerte Zuwanderung und ein ethisch gebotenes Maß an humanitärer Hilfe. Der überwiegende Teil der Bevölkerung befürworte einen sichernden und umverteilenden Wohlfahrtsstaat; radikaler Marktliberalismus und exzessive Ungleichheit würden abgelehnt, ebenso eine vollständige Egalisierung der Gesellschaft. Klimaschutz werde als dringliche Aufgabe gesehen, dessen Umsetzung aber eine Abwägung mit anderen Gütern erfordere; Klimawandelfolgen würden mit großer Sorge betrachtet.
Es würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen, wollte man auf die vielfältigen und zum Teil widersprüchlichen Ergebnisse der Studie eingehen, so z.B. auf den tief sitzenden Glauben an die Meritokratie und die moralisierte Abgrenzung nach unten bei der Bürgergeld-Debatte gerade bei den geringer Verdienenden. Der Band vermittelt detailliert und tiefgründig, empirisch-valide und analytisch-kritisch die gesellschaftlichen Konfliktlagen in Deutschland, entzaubert viele Mythen, liefert auch überraschende Einsichten, schärft den Blick für komplexe und komplizierte Reizthemen (u.a. Migration, Gender) und bietet auch Lösungsvorschläge und Ansatzpunkte für soziale, ökonomische und ökologische Transformationsprozesse.
Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser:
Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft.
edition Suhrkamp, Berlin 2024 (aktuelle Auflage), 540 Seiten, Klappenbroschur, 25 EURO.
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Quelle:
© 2024 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 20. August 2024
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