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BUCHBESPRECHUNG/261: Steffen Mau - Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt (Klaus Ludwig Helf)


Steffen Mau

Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt

von Klaus Ludwig Helf, September 2024


Seit Jahren kann man abseits von der 'Osttümelei' auch bei den Jüngeren ein neues Ostbewusstsein feststellen. Nach einer aktuellen Studie des MDR nehmen 84 Prozent der Nachwende-Generation im Osten ein Zusammengehörigkeitsgefühl wahr, bei den Älteren sind es 71 bis 75 Prozent. Der Soziologe Daniel Kubiak stellte in seinen empirischen Forschungen über das Ostbewusstsein der Nachwendegeneration fest, dass junge Ostdeutsche ihre Identität sehr deutlich herausstellten und viele der Meinung seien, dass der Westen noch immer ausschließlich als positive, der Osten dagegen als negative Norm gesetzt sei und dass sie daher das Gefühl hätten, den Osten verteidigen zu müssen. Der Soziologe Steffen Mau will mit dem vorliegenden Band den Diskurs über Ostdeutschland, der in Ost wie West kompliziert sei und sich im Kreis drehe, aus der "dünkelhaften und selbstgewissen Ecke" herausholen und einen Überblick über die Diskussionslage schaffen. Die einen fühlten sich kolonialisiert, die anderen ausgenutzt und redeten vom undankbaren Osten: "Ich frage danach, warum sich in der Vereinigungsgesellschaft so viele Missverständnisse und Dissonanzen angehäuft haben und woher die ost- westdeutschen Verwerfungen rühren" (S. 9). Wer bei dieser Debatte mit Schuldbegriffen operiere, liege völlig falsch, da es sich um gesellschaftliche Formationen und historische Prozesse handele, die auf "relativ komplexe Ursachenbündel" zurückzuführen seien. Küchenpsychologische Erklärungen, Zuweisung von mythenbefrachteten Gruppeneigenschaften oder Alltagshypothesen könnten keine realen Erkenntnisfortschritte bringen und seien völlig deplatziert, argumentiert Steffen Mau völlig zu Recht. Anlass für das Buch seien - so der Autor - die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen: "Das Vordringen totalitärer und autoritärer politischer Phantasmen in einer Region, die sich vor etwas mehr als drei Dekaden von einer Diktatur befreit hat, verlangt nach Erklärungen" (S. 167). Der Prozess der Amalgamierung zweier lange Zeit getrennter Gesellschaften verlaufe nicht nach dem "Drehbuch der Modernisierungstheorie", vielmehr blieben auch nach mehr als dreißig Jahren die Konturen zweier Teilgesellschaften erkennbar und dies werde sich auch so schnell nicht ändern.

Steffen Mau ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, forscht u. a. zu den Themen soziale Ungleichheit, Transnationalisierung, europäische Integration und Migration und ist seit 2021 Mitglied im Sachverständigenrat für Integration und Migration. 2023 erschien sein vielbeachtetes und kontrovers diskutiertes, zusammen mit Thomas Lux und Linus Westheuser verfasstes Buch Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft (siehe meine Rezension [1]).

Das vorliegende Buch liefert keinen neuen historischen Abriss der DDR oder eine Neuauflage der Wiedervereinigungs- und Transformationsgeschichte, sondern analysiert konkrete und virulente Konflikt- und Problemlagen aus soziologischer Sicht und unterbreitet am Schluss diskussionswürdige Vorschläge zur Revitalisierung der Demokratie - nicht nur für Ostdeutschland. Nach der Einleitung folgen in dem Band sieben Kapitel zu den Themen: Ossifikation statt Angleichung / Ausgebremste Demokratisierung / Kein 1968 / Ostdeutsche Identität / Politische Konfliktlagen und Labor der Partizipation. Es folgen Anmerkungen und Dank. Der Autor geht von dem Befund aus, dass sich die ursprüngliche Erwartung einer Angleichung oder Anverwandlung des Ostens an den Westen als "Schimäre" erweise. Auch das Bild von den Ostdeutschen, die nun endlich mal "ankommen" müssten, sei schief, denn der Osten sei nicht verschwunden, sondern immer noch erkennbar trotz propagierter politischer Einheitlichkeitsfiktion, die den Blick auf Unterschiede verstelle: "Aus dieser Perspektive, die den Westen zur Norm macht, begreift man den Osten vor allem als Abweichung, nicht in seinen Eigenheiten. Trotz der vielen Einheitserfolge lässt sich ein Fortbestand zweier Teilgesellschaften beobachten, die zwar zusammengewachsen und in vielerlei Hinsicht konvergiert sind, aber in ihren Konturen noch immer deutlich hervortreten" (S. 10).

Steffen Mau gelingt es, mit präzisen Tiefenbohrungen und plausiblen Beispielen seine These, dass viele heute feststellbare Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland bleiben werden, zu präsentieren und zu untermauern. Sowohl objektive Unterschiede bei Demografie und Sozialstruktur als auch subjektive bei Mentalitäten, Identitäten und im Bereich der politischen Kultur hätten sich verstetigt: "Kurz: Es gibt eine andauernde Zweiheit in der Einheit [...]. Es bedeutet [...], dass innerdeutsche Disparitäten und Ungleichzeitigkeiten fortbestehen, die sich entlang der Achse Ost-West ausgebildet haben. Ihr Verschwinden ist unwahrscheinlich, ihr Verdauern - womöglich im Sinne einer Ossifikation - hingegen wahrscheinlich" (S. 125). Zu diesen Disparitäten, die wie "einzementiert" seien, gehörten z.B. die Einkommens- und Vermögens-Verhältnisse (im Osten werde weniger vererbt), der ökonomische Rückstand (verursacht u.a. durch die TREUHAND), die Schwäche der Zivilgesellschaft und des traditionellen Parteiensystems und der Mangel an einer eigenständigen, funktionierenden gesellschaftlichen Elite und die notwendige Geduld und das Beharrungsvermögen bei demokratischen Entscheidungsprozessen und bei der Lösung gesellschaftlicher Konflikte.

Das alles und die Abneigung gegen Einwanderungsprozesse, verbunden mit Gefühlen des Abgehängtseins und der politischen Ohnmacht, seien auch Einfallstore für die AfD. Fast unmerklich habe sich der Übergang von einer Transformationsgesellschaft zu einer "Posttransformationsgesellschaft" vollzogen, in der Unzufriedenheit, Protest und Radikalisierung wesentliche Triebfedern der politischen Entwicklung seien. Steffen Mau schlägt vor, in Ostdeutschland mit neuen Formen der Demokratie zu experimentieren und nach Wegen zu suchen, Menschen in den politischen Prozess zurückzuholen und basisdemokratische Partizipationschancen auszuweiten z.B. durch Bürgerräte oder Referenden: "Was wir brauchen, sind Ertüchtigungsmaßnahmen der Demokratie - zur Abwehr von Allmählichkeitsschäden. Fürwahr: Die Demokratie steht unter Druck, aber wir haben die Möglichkeiten, sie zu verteidigen und zu sichern, noch lange nicht ausgeschöpft. Und zwar weder in Ost- noch in Westdeutschland" (S. 145). Steffen Mau ist es gelungen, eine gut lesbare, verständliche und erfrischend unkonventionelle sozialwissenschaftliche Anamnese Ostdeutschlands und des Zustandes der deutschen Einheit zu erstellen, kritisch die herrschenden Narrative zu enttarnen und produktive, nachhaltige Vorschläge für die "Therapie" zu entwickeln.


Steffen Mau:
Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt.
Suhrkamp Verlag Berlin 2024, kartoniert, 168 Seiten, 18,00 EUR.


Anmerkung:
[1] Im Schattenblick erschienen unter: Buch → Meinungen →
BUCHBESPRECHUNG/259: S. Mau, T. Lux, L. Westheuser - Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft (Klaus Ludwig Helf)

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Quelle:
© 2024 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 24. Januar 2025

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