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REZENSION/165: Mario Schneider - Die Paradiese von gestern (SB)


Mario Schneider


Die Paradiese von gestern





Buchcover: © by Mitteldeutscher Verlag

Buchcover: © by Mitteldeutscher Verlag


Mit "Die Paradiese von gestern" hat Mario Schneider einen Debutroman vorgelegt, in dem die Handlung größtenteils unspektakulär bleibt und der dennoch eine Spannung aufbaut, die zum Weiterlesen anregt. Hier werden Lebensentwürfe von Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Ordnungen kontrastiert. Vor diesem Hintergrund werden Fragen zu zwischenmenschlichen Beziehungen, insbesondere zum Thema "Liebe" auf eine Weise behandelt, für welche die kategorische Zuordnung "Liebesroman" allerdings ganz und gar falsche Erwartungen wecken würde. Der Roman könnte durchaus dazu anregen, über die eigene Vorstellung von Individualität und das Verhältnis zum menschlichen Gegenüber nachzudenken.

Die Schauspielerin Ella und der angehende Musikstudent René sind seit sechs Monaten zusammen, noch immer frisch verliebt und auf der Suche nach dem Glück und ihrer eigenen Position in einer für sie neuen Welt. Kurz nach dem Fall der Mauer war das junge Paar aus Ostdeutschland in einem Wartburg aufgebrochen und nach Südfrankreich gefahren. Es genießt den Urlaub in vollen Zügen.

Bei ihrer täglichen Suche nach einer neuen Übernachtungsmöglichkeit entdecken sie an der südfranzösischen Atlantikküste ein heruntergekommenes Schloss, das jahrzehntelang als 5-Sterne-Hotel genutzt worden war und dessen einzige und letzte Gäste sie sein werden. Das Anwesen samt unbewirtschaftetem Weinberg gehört der Gräfin Charlotte de Violet, die aus einem alten französischen Adelsgeschlecht stammt und heute hoffnungslos verarmt ist. Die vielfältigen Aufgaben des Hotels werden von nur noch einer Person, dem als Butler ausgebildeten Vincent ausgeführt, dem langjährigen Wegbegleiter der Gräfin.

Ella und René können es kaum fassen, dass sie zu einem für sie erschwinglichen Preis in der Luxussuite des alten Schlosses untergebracht werden. Das gemeinsame Abschiedsabendessen mit der Gräfin und dem Butler verläuft jedoch anders als von der Gastgeberin geplant. Charlottes Sohn Alain ist angereist und gerät wieder einmal mit seiner Mutter in einen heftigen Streit. Am nächsten Morgen wird auch die Unbeschwertheit des jungen Paares getrübt. Man versteht sich nicht mehr, Unausgesprochenes bleibt in der Schwebe, die Chance auf ein klärendes Wort mündet in neuerlichen Verletzungen des anderen. Dann die Trennung. René fährt mit Alain, seines Zeichens Makler für Luxusimmobilien, nach Paris. Ella bleibt zurück.

In der französischen Metropole übernachten Alain und René in einem der Appartements des Immobilienmaklers. Dieser lässt René von oben bis unten neu einkleiden und präsentiert ihn seinem Bekanntenkreis. Der gutaussehende, nun in feinstem Zwirn auftretende Ostdeutsche wird in das mondäne Leben der "People" eingeführt, jener weltstädtischen Schickeria, die es vorzieht, unter sich zu bleiben, und die ihre eigenen Codes der Zugehörigkeit pflegt. Die versteht der "hinterwäldlerische" Exot aus dem realsozialistischen Ostdeutschland selbstverständlich nicht zu bedienen, und es reizt ihn auch gar nicht, aber eines versteht er sehr wohl: Die kultivierte Distanziertheit Alains und dessen sozialer Schicht ist ihm zuwider. Er will so schnell wie möglich zu seiner Freundin zurück.

Ella, von der ursprünglich die Initiative zur Trennung ausgegangen war, verbringt ihre Tage im Schloss und der näheren Umgebung. Dabei strebt sie Freundschaft mit Vincent an, dessen professionelle Zurückhaltung sie mit ihrer offenen, unverblümten Art mehr und mehr aufbricht. Zu dessen nicht geringer Überraschung. Bis dahin war es noch nie vorgekommen, dass ihn ein Gast in seiner Dachkammer aufgesucht und damit gezeigt hat, dass er mit dem Menschen hinter der berufsbedingt Förmlichkeit zeigenden Person sprechen will. Schließlich lässt sich Vincent sogar von Ella dazu überreden, dass sie ihm bei der Küchenarbeit helfen darf.

Mario Schneider verfügt über eine entwickelte Beobachtungsgabe, er schildert die Versuche der zwischenmenschlichen Annäherung ebenso präzise und ausführlich wie das für manche Beziehungen typische soziale Wechselspiel von Stoß-weg/Zieh-ran. Dazu ein stimmungsvolles Beispiel: Schon bald, nachdem sie sich getrennt haben, ruft René aus Paris an und bittet den Diener, seine Freundin ans Telefon zu holen.

"Das Verschwinden des Dieners und das zurückbleibende Rauschen im Hörer erweckten in René das Gefühl, dieser andere Hörer am Ende der Leitung läge auf einem verrotteten Tischchen in dem verwahrlosten Zimmer eines verfallenes Hauses, irgendwo auf der entlegenen Seite der Welt. Als Ella diesen anderen Hörer aufnahm und trocken 'Ja' sagte, erschrak er, denn es war ihm, als spräche er mit einem Geist.
'Ich komme zurück', sagte er ohne Umschweife.
Und Ella antwortete aus dieser unvorstellbaren Entfernung: 'Nein, das ist jetzt zu spät', sodass René vergaß zu atmen und sprachlos dastand."
(S. 211)

Man sollte von dem Roman keine leichte Lektüre erwarten, jedoch ohne dass er deswegen schwerfällig wirkte. Schneider nimmt sich viel Zeit für die Schilderung der Figuren und verleiht ihnen dadurch Tiefe. Ihr Handeln wirkt plausibel. Das verleiht der Erzählung eine Ernsthaftigkeit, wie sie nicht häufig anzutreffen ist.

Der Plot erlaubt es dem Autor, antagonistische Lebensentwürfe geradezu aufeinanderprallen zu lassen: Armer Ostdeutscher wird mit der schillernden Welt von Paris konfrontiert, umgekehrt der nihilistische Alain mit der Bodenständigkeit des ehemaligen NVA-Soldaten; der selbstlos bescheidene Butler mit der Spontaneität und Lebensfreude der ostdeutschen Schauspielerin, die des Lebens müde Gräfin mit dem vermeintlich ungeliebten Sohn.

Anlässlich der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten nach über vier Jahrzehnten Trennung wurden schon zahlreiche Romane verfasst, die thematisieren, wie die Ostdeutschen ihren "Erstkontakt" mit dem einstigen Klassenfeind in der kapitalistisch organisierten westlichen Welt erlebt haben. Diese wird im vorliegenden Roman jedoch nicht durch die alte Bundesrepublik vertreten, sondern durch Frankreich. Ein gelungener Kniff. Eher beiläufig, unverkrampft und ohne die ideologischen Register ziehen zu müssen, lässt der Autor die Protagonisten miteinander agieren. Und mögen sie auch spezifische Herkünfte haben - ihre Absichten und Handlungsmotive sind so verschieden wiederum nicht. Die Suche nach Nähe treibt die meisten Menschen um.

Manche Passagen des Buches erzeugen eine existentialistische Stimmung. Dafür eignet sich ein altes Schlosshotel an der südfranzösischen Atlantikküste als Bühne augenscheinlich sehr gut. Gegen Ende des Romans stehen Vincent und Charlotte beieinander und blicken auf ihr Leben zurück. Haben wir alles richtig gemacht, fragt sie ihn. Und weiter:

"'Es ist schlimm', sagte Charlotte und strich wieder mit ihrer Hand über das frische Grün, 'dass einem kein Mensch sagen kann, wie man es macht, das Altwerden. Jungsein, das geht von allein. Wenn man jung ist, kümmert sich die Welt um einen. Aber Vincent, es geht tatsächlich zu Ende. Es ist unvorstellbar, dass es ein Ende gibt.'"
Der Vogel draußen vor dem Fenster hörte auf zu zirpen, die Zikaden schwiegen, das Rauschen der Bäume erstarb, Vincent fühlte in sich hinein, ob es auf einen solchen Satz irgendetwas zu erwidern gab, aber er war noch immer so erstaunt über die Frage, ob sie alles richtig gemacht hätten, dass er nichts sagen konnte außer: 'Ich habe mich hier immer sehr wohl gefühlt.'
Charlotte hörte den Satz und musste lächeln. 'Immer korrekt', dachte sie. 'Er ist doch immer korrekt.'"
(S. 475)

Der Autor spannt teils seitenlange Dialoge auf, von inneren Reflektionen der Protagonisten vertieft, über menschliche Beziehungen und Fragen wie, welche Ziele ein Mensch hat, welche Träume, was ihn oder sie bewegt. Raum für weitergehende Gedankenaustausche bietet dann bezeichnenderweise nicht der große, stuckverzierte, indes menschlich unterkühlte Speisesaal des Schlosshotels, sondern die Küche mit ihrem einfachen Tisch, an dem mal Gemüse geschnippelt, mal das Essen eingenommen oder auch schon mal Schach gespielt wird.

Der Autor, Regisseur und Filmkomponist Schneider zieht bei seinen Schilderungen die feine Zieselierspitze dem groben Holzhammer vor und weiß dies sprachlich ansprechend auszudrücken. So entwickeln sich die handelnden Personen Schritt für Schritt weiter. Ella und René sind gegen Ende des über 550 Seiten langen Romans andere als zu Anfang. Auf dem Weg aus dem realen Sozialismus in den sogenannten freien Westen waren sie nicht nur auf bemerkenswerte Menschen getroffen, sondern, wenn man so will, auch auf sich selbst. Oder zumindest auf bis dahin unerkannte Aspekte ihrer selbst. Die jungen Reisenden aus Ostdeutschland behaupten sich in der "neuen" Welt, werden dabei erwachsener, und die Antwort auf die Frage, ob sie darüber wieder zueinanderfinden, spart der Roman nicht aus ...

30. Oktober 2023

Mario Schneider
Die Paradiese von gestern
Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2022
552 Seiten
ISBN 978-3-96311-614-8


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 180 vom 4. November 2023


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