Martin Simons
Beifang
Buchcover: © by Aufbau Verlag
Auf seiner Reise in die ferne familiäre Vergangenheit streift Frank Zimmermann, der Ich-Erzähler des Romans "Beifang", in einem Augenblick ungläubigen Erstaunens die flüchtige Präsenz jenes Menschen, der zu werden er sich einst angeschickt hatte. Er fragt seinen Jugendfreund Olaf:
"Habe ich nicht früher gerne gelebt?"
"Was meinst du?"
"Ich war doch positiv, oder? Voller Erwartungen."
"Und wie. Du konntest deine Zukunft kaum erwarten."
"Ja. Seltsam. Ich habe auch geglaubt, etwas zu sagen zu haben. Etwas Originelles. Unerhörtes. Heute kann ich darüber den Kopf schütteln und denken, was für eine Verblendung!"
"Warum?"
"Weil mir zu nichts etwas einfällt. Mir scheint, das Beste, was man machen kann, ist, möglichst friedlich, ohne einen zu großen Aufstand zu machen, dem eigenen Tod entgegenzuwarten."
(S. 138)
Der Anflug jenes Ahnens, dass es nicht unmöglich sei, den Zwang seiner Herkunft zu brechen, blieb damals ungenutzt auf der Strecke. Und die höchst unwahrscheinliche, aber dennoch nicht restlos auszuschließende Waghalsigkeit, die alte Witterung noch einmal aufzunehmen und die Spur diesmal nicht preiszugeben, liegt ihm erst recht fern. Ergeht er sich doch in einer rückschauenden Suche nach bündigen Erklärungen und versöhnenden Aussprachen, als gäben ihm diese den Universalschlüssel in die Hand, die verödenden Baustellen seines verrinnenden Lebens im Handstreich wiederzubeleben und zu einer wohnlichen Heimstatt zusammenzufügen. Als distanzierter Betrachter seiner weitläufigen Verwandtschaft bleibt er auch Beobachter seiner selbst, der sich von anderen tragen lässt, bis diese der Eingleisigkeit müde sind.
Als erstem und einzigem Familienmitglied bot sich Frank die Chance, durch Schulbildung und Studium dem Milieu der Zechensiedlung am Rande des Ruhrgebiets zu entkommen. Er war von einem voraussetzungslosen Neuanfang überzeugt und glaubte an eine Selbsterfindung aus eigenem Willen und eigener Kraft. Er hatte den Klassensprung vermeintlich geschafft und sah sich auf bestem Weg, alles Beschwerliche zurückzulassen und befreit ein anderer zu werden. Und diese Sicht schien sich zu bewahrheiten, ergatterte er doch einen heißbegehrten akademischen Arbeitsplatz und lebte zeitweise sogar im Ausland. Doch obwohl die Gesellschaft seinem Drang nach Anpassung und Karriere keine unüberwindbaren Hürden entgegengestellte, kam er in seinen neuen sozialen Verhältnissen nie wirklich an und blieb ihnen in gewisser Weise fremd.
Auf den ersten Blick geht es ihm immer noch recht gut. Er hält sich mit dem unaufwendigen Verfassen von Werbetexten über Wasser und lebt seit Jahren als Untermieter in einer vergleichslos billigen und günstig gelegenen Wohnung in Berlin. Er hat jedoch keine Ambitionen, Träume oder Leidenschaften mehr, weder Familie noch richtige Freunde, all das ist ihm im Laufe der Jahre abhanden gekommen. Als Ehemann und Vater, als Liebhaber ebenso wie in seiner sinnentleerten Berufstätigkeit gescheitert, sucht er einen Grund dafür, den er in der Vergangenheit seines Vaters zu finden hofft. Als seine Eltern das Haus verkaufen, in dem er aufgewachsen ist, soll er entscheiden, welche der eingelagerten Dinge vom Dachboden er noch haben will. Dabei entdeckt er eine rote Kiste auf dem Sperrmüllhaufen, die von seinem Opa stammt. Frank erinnert sich an die besondere Bedeutung dieser Kiste und ihm wird wieder einmal bewusst, dass sein Vater nie über die Vergangenheit spricht und stets einsilbig wird, wenn man ihm diesbezügliche Fragen stellt. Also beschließt er, sich reihum in seiner weitläufigen Verwandtschaft von Onkeln und Tanten umzuhören, um sich auf die Suche nach dem Leben seines Großvaters zu machen und darüber Aufklärung zu erfahren.
Der Autor Martin Simons hat in einer Zechensiedlung der Kleinstadt Selm, wenige Kilometer nördlich von Dortmund gelegen, seine Kindheit bis zur ersten Schulzeit verbracht. Zur Zeit seiner Geburt gehörte die Ära der Zechen und Bergleute bereits der Vergangenheit an, sein Großvater hatte noch unter Tage gearbeitet. Geblieben war indessen ein gewisser Geist des Stolzes auf die eigene Arbeits- und Widerstandskraft. Eine enorme Vitalität, verbunden mit einer fast notorischen Lust, gelegentlich über die Stränge zu schlagen. Aus Sicht der Kindheit war die Zechensiedlung vor allem die Welt der Gärten, in der Kolonie waren die Grundstücke auf Selbstversorgung zugeschnitten. Man baute sein eigenes Gemüse an, hielt Schweine und Hühner, an den weitläufigen Gärten ohne trennende Zäune hingen Obstwiesen an. Die Kinder streiften in Banden umher und wurden beiläufig Zeugen ausgefallenster menschlicher Typen, Temperamente und Tragödien. [1]
In Darstellung dieses Milieus trägt der Roman also autobiographische Züge, siedelt Simons die Sippe der Zimmermanns doch in der Zechensiedlung Beifang, einem Ortsteil seiner Herkunftsstadt Selm, an. "Beifang" heißt somit ein konkreter Ort, den man auf der Landkarte findet, ist aber geläufiger als Bezeichnung für etwas, das beim Fischen ungewollt ins Netz gerät und dann als toter oder verendender Abfall wieder über Bord geworfen wird, stirbt - oder schwer verletzt überlebt. Dieser doppelten Bedeutung des Wortes bedient sich der Autor, wenn er seine Figuren entwirft, die Sprösslinge erbärmlicher Lebensverhältnisse und heilloser Überforderung sind. Die Großeltern Winfried und Rosa haben zwölf Kinder in die Welt gesetzt, obgleich sie weder über die materiellen noch emotionalen Ressourcen verfügten, diese auch nur halbwegs angemessen zu versorgen. So gleichen die Geschwister Überlebenden, die es teils zu einer kleinbürgerlichen Stabilität gebracht haben, teils zu kleinkriminellen Randfiguren oder Rotlichtexistenzen geworden sind.
Sie würden sich womöglich als Verlierer sehen, aber keinesfalls als Opfer, denn Selbstmitleid ist ihnen fremd. Nicht selten zutiefst zerstritten, ohne deshalb nachtragend zu sein, mitunter aber auch heillos verfeindet, sind sie doch ohne lange nachzufragen zur Stelle, wenn jemand aus ihrer Sippe handgreiflicher Unterstützung bedarf. Rekonstruiert wird eine Familiengeschichte voller Widersprüche und Brüche, die sich idealisierender Verklärung ebenso verweigert wie verurteilender Bezichtigung - durchaus eine Geschichte grausam prügelnder Gewalt und Vernachlässigung, doch zugleich nicht bemessender Güte. So kann es nicht ausbleiben, dass Frank bei seinen Tanten und Onkeln auf fragmentarische, mitunter höchst widersprüchliche Sichtweisen und Versionen damaliger Geschehnisse trifft, wenn er das Gespräch über die Vergangenheit sucht. Er setzt darauf, das Schweigen der Generationen, an dem er selbst schmerzlich teilhat, zu durchbrechen, und seine Verwandten wollen durchaus ihre jeweils eigene Geschichte loswerden. Das heißt jedoch nicht, dass die Schritt für Schritt zusammengetragenen Bruchstücke zur Deckung zu bringen wären und ein in sich geschlossenes Bild ergäben.
Franks schweigsamer Vater Otto hat eine traumatische Nachkriegskindheit mit Armut, Hunger, Gewalt und verwehrten Bildungsmöglichkeiten erlebt. Um mehr darüber zu erfahren, fragt Frank seinen Freund Olaf, wie der als Kind den Vater wahrgenommen habe. Als fleißigen, sparsamen und vernünftigen Menschen, der Überstunden ohne Ende gemacht habe, um das Haus umzubauen und seiner Familie ein besseres Leben möglich zu machen, begeistert sich Olaf in seiner Erinnerung. Und für die Kinder sei er ein Superheld gewesen, der stundenlang mit ihnen Spaß gehabt habe. Er treffe Otto noch heute gelegentlich, und dabei tauschten sie Belangloses aus. Doch einmal habe er etwas Bemerkenswertes gesagt: Man könne eine schwierige Kindheit nur überleben, wenn man die Vergangenheit gut in sich verstecke und nichts nach außen dringen lasse. Womöglich noch deutlicher bricht es urplötzlich bei einem Treffen mit seinem Bruder Alf aus Otto heraus:
"Wenn man als Kind von jemand, den man vielleicht liebt oder jedenfalls lieben will, geschlagen wird, dann ist das unbegreiflich. Man hat keine Worte dafür. Für diese Erfahrung. (...) Man tut so, als machte es einem nichts aus. Man ist stolz darauf, was man ertragen kann. Man gibt damit an. Aber eigentlich macht es einem ganz schön viel aus. Nur vergisst man das irgendwann. Man kommt nicht mehr an die Erfahrung ran. Dazu bräuchte man wohl so etwas wie einen Seelenklempner. Aber wer weiß, was der noch alles heraufholt. Vielleicht hört das dann gar nicht mehr auf. Dabei hat man ja auch so seinen Frieden gemacht."
(S. 226)
Ganz allmählich erst setzen sich für Frank die Lebensumstände des Großvaters zusammen. Dessen Kriegstrauma, die Schinderei auf der Zeche, sein Trinken, seine Brutalität und sein großes Herz. Winfrieds Träume wuchsen himmelhoch über seine tatsächlichen Möglichkeiten hinaus. Er wollte nach Amerika auswandern und hat es dann nur als Soldat bis nach Stalingrad geschafft. Er versprach der Krankenschwesterschülerin Rosa den Himmel auf Erden und bescherte ihr zwölf Kinder, für die es in der engen Zechenhaushälfte keinen Platz und nicht mal ausreichend zu essen gab. Dass sich ihr Dasein zur verrufenen Sippe der Zimmermanns auswuchs, die allerorts Misstrauen und Abweisung erfuhr, zahlte sie ihm in späteren Jahren gnadenlos heim. Heillos überfordert, liebte er seine Kinder vermutlich wirklich über alles, doch war sein Herz einfach nicht groß genug dafür, von materiellen Mitteln ganz zu schweigen.
So ist "Beifang" zugleich eine andere Geschichte aus dem Wirtschaftswunderland Deutschland, die den Mythos des allgemeinen Aufstiegs dekonstruiert. Das Wunder fand nicht für alle statt. Während der boomenden Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die kapitalistische Produktion aus dem einfachen Lohnarbeiter, der sein bitter verdientes Geld vollständig in die Reproduktion seiner Arbeitskraft und die Versorgung seiner Familie investieren musste, die Figur des modernen Konsumenten gezaubert. Zwar wurde er bei seiner Arbeitstätigkeit noch immer nach Strich und Faden ausgebeutet, doch nun als "König Kunde" von der entsprechenden Industrie hofiert und der Werbewirtschaft umschmeichelt, auf dass anschwellende Massenkaufkraft in den Verwertungskreislauf zurückfließe. In dieser fiktiven Welt des glückseligen Warenüberflusses bekamen die anderen Leute Waschmaschinen und Kühlschränke, Fernwärme und fließendes Wasser, während sich die Zimmermanns auf der mit jedem Kind enger werdenden Zechenhaushälfte zusammendrängten. An vielen Tagen gab es nur ein einziges Brot zu essen, das nicht einmal fürs Frühstück reichte, und die Jungen waren selbst bei Frost in kurzen Hosen unterwegs. Ein Sozialstaat existierte allenfalls rudimentär, erst Mitte der fünfziger Jahre gab es ab dem dritten Kind ein kleines Kindergeld und darüber hinaus vorerst keine Zuwendungen für kinderreiche Familien.
Die Suche des Protagonisten Frank nach den eigenen Wurzeln reiht sich ein in die Heerschar einer hierzulande sehr erfolgreichen Milieubetrachtungsliteratur, welche die je nach Couleur betonten oder geleugneten, zumeist aber kurzerhand ignorierten Klassenstrukturen zum ausgehenden 20. Jahrhundert aus biographischer Perspektive unter die Lupe genommen hat. Martin Simons hat das Potential seines Stoffes weder zu einer sozialpolitisch ambitionierten Erhellung jener wenig bekannten Lebensverhältnisse verarbeitet noch in das Format einer umfänglichen Familiensaga mit ausgiebig entwickelten Charakteren gegossen. Dies zu bedauern, mag durchaus verständlich anmuten, doch ginge es fehl, dem Autoren anzulasten, was er nicht beabsichtigt hat.
Er hat sich für eine recht knapp gehaltene Spurensuche entschieden, auf der er sich mittels seines Protagonisten einer fast schon lakonischen Erzählweise bedient. So werden die Charaktere eher gestreift, als dingfest gemacht, schlaglichtartig erhellt, um gleich wieder ins Dunkel zu gleiten. Frank träumt davon, mit seinem Vater ins Reine zu kommen und darüber seinem eigenen Sohn Vincent ein guter Vater zu werden, was ja nicht zwangsläufig an das bis zum Überdruss bediente Familienklischee US-amerikanischen Kulturschaffens gemahnen muss. Er wird jedoch mit der Einsicht konfrontiert, dass es trotz aller im Umfeld aufbrechenden Redseligkeit diesen einen Moment, in dem man sich endlich vorbehaltlos alles sagen kann, schlichtweg nicht gibt. Die Erlösung bleibt Fiktion, denn das vielbeschworene Eigentliche, um das es angeblich geht, bleibt ungesagt.
Wer sich von diesem Roman ungetrübtes Lesevergnügen dank eines versöhnlichen Ausgangs oder zumindest einer lehrreichen Antwort erhofft hat, die klüger zu machen scheint, dürfte enttäuscht sein. Vielmehr ist einem eher unbehaglich zumute, klingt doch die Unmöglichkeit einer kommunikativen Verständigung an, von einer Kontaktnahme mit unverbrüchlichen Konsequenzen ganz zu schweigen. Der Autor setzt zwar einen gewissen Schlusspunkt, der aber offen hält, was Frank aus dieser Rückbesinnung auf seine Herkunft aus der Sippe der Zimmermanns macht. Er ist einige Schritte gegangen, die ihm kurze Augenblicke bescherten, in denen sich ein flüchtiger Einklang mit seinem Vater anzudeuten schien. Wer wollte mit Sicherheit von der Hand weisen, dass dies nicht über alles hinausging, was konsensbefrachtete Übereinkünfte und gefühlsselige Verbundenheitsschwüre zustande brächten. Der Erzähler weiß wieder, woher er kommt, was man in aller Vorsicht als eine Art Heimkehr deuten könnte. Dass man seiner sozialen Herkunft vollständig entkommen kann, stellt der Autor in Frage, ohne daraus ein unentrinnbares Schicksal abzuleiten. Er hütet sich davor, alles auszusprechen, deutet manches nur an, lässt Raum für Zwischentöne. Sollte da Ärger aufkeimen, weil leichter verdauliche Kost auf dem literarischen Speiseplan zu stehen schien, wäre dem zu entgegnen, dass Unruhe stiftende Widrigkeiten nicht das Schlechteste sind, denkfaulen Gewissheiten die Leviten zu lesen.
Fußnote:
[1] https://www.aufbau-verlage.de/aufbau/im-gespraech/kann-man-seiner-herkunft-entkommen-martin-simons-ueber-seinen-neuen-roman
30. Oktober 2023
Beifang
Martin Simons
Aufbau Verlag, Berlin 2022
234 Seiten
ISBN 978-3-351-03879-3
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 180 vom 4. November 2023
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