Paolo Urio
America and the China Threat
From The End of History to the End of Empire
Als Nancy Pelosi im Rahmen einer Südostasienreise Taipeh am 2. August einen Besuch abstattete und sich damit dem ausdrücklichen Wunsch der Regierung der Volksrepublik China widersetzte, sorgte sie für die schwersten Spannungen zwischen Washington und Peking seit einem Vierteljahrhundert. Durch die gezielte Provokation der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses und damit der dritthöchsten Amtsträgerin des amerikanischen Staates nach Präsident Joe Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris sah die Regierung in Peking die Souveränität der Volksrepublik über Taiwan offen in Frage gestellt und das Ein-China-Prinzip verletzt, auf das sich Richard Nixon und Mao Zedong 1972 formal verständigt hatten, demzufolge die Insel stets ein unveräußerlicher Teil Chinas gewesen ist und bleibt. Im Vorfeld des Besuchs, währenddessen wie auch Tage danach veranstalteten die Land-, Luft- und Seestreitkräfte der Volksbefreiungsarmee an der chinesischen Südküste sowie in der Taiwanstraße und dem nördlichen Teil des Südchinesischen Meeres umfangreiche Kriegsmanöver unter Einsatz von Kampfpanzern, Kriegsschiffen und Drohnen, übten amphibische Landoperationen und feuerten jede Menge Kurz- und Mittelstreckenraketen ab.
Die damalige Lage war so prekär, dass Pelosi mit der US-Regierungsmaschine von der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur, der vorletzten Station ihrer Sommerreise, nicht direkt nordostwärts übers offene Meer Taiwan angesteuert hatte. Statt dessen flog sie zuerst die malaysische Halbinsel südlich hinunter und an Singapur vorbei, dann östlich entlang der malaysischen Küste der Insel Borneo und abschließend in nördlicher Richtung durch den sicheren Luftraum der Philippinen. Als ihr Flugzeug die Nordküste der philippinischen Hauptinsel Luzon erreichte, nahmen es Kampfjets der US-Luftwaffe von der nahegelegenen Insel Okinawa, wo der größte Teil der amerikanischen Streitkräfte in Japan stationiert ist, in Empfang und begleiteten es den letzten kleinen Abschnitt bis zur sicheren Landung am Flughafen Songshan bei Taipeh. Eine eindeutigere, für alle Welt sichtbare Demonstration dessen, wer tatsächlich die Hoheit über Taiwan ausübe und sie weiterhin zu behalten gedenke, hätte die alternde Kalte Kriegerin aus Kalifornien nicht hinlegen können. Kein Wunder also, dass die Chinesen erzürnt waren.
Auf Pelosis umstrittenen Besuch in Taiwan folgte prompt die Ankündigung aus Washington, die militärische Hilfe für Taipeh drastisch aufstocken zu wollen. Auch wenn jeder rational denkende Mensch davor warnen mag, deuten alle Signale aus dem Weißen Haus und dem Kongress darauf hin, dass die politische Elite in den USA die Taiwan-Frage bewusst instrumentalisiert, um über kurz oder lang einen heißen Krieg mit der Volksrepublik herbeizuführen. Warum das so ist und wie die Welt an den Rand eines Atomkriegs zwischen den beiden Supermächten USA und China geraten konnte ist Gegenstand des neuen, faktenreichen und hochinformativen Buchs des emeritierten Politikprofessors Paolo Urio aus Genf, das den Titel "America and the China Threat - From The End of History to the End of Empire" trägt.
Die im Buchtitel enthaltene Formulierung "Ende der Geschichte" stammt bekanntlich von dem neokonservativen Vordenker Francis Fukuyama, der 1992, als die USA nach dem ein Jahr zuvor erfolgten Untergang der Sowjetunion auf dem Höhepunkt ihrer Macht standen, fabulierte, die liberale Demokratie westlicher Prägung werde sich fortan auf der ganzen Welt durchsetzen und die nach dem friedlichen Ende des Kalten Krieges plötzlich entstandene unipolare Ordnung auf ewig installieren. Statt dessen hat die Volksrepublik durch ihren ungeheuren wirtschaftlichen Aufstieg der letzten Jahrzehnte die Allmachtsphantasien der Neocons zum Platzen gebracht, weswegen sie den chinesischen Rivalen in seine Schranken weisen wollen, solange es noch geht. Doch möglicherweise ist es zu spät, weswegen Urio, wie viele andere seines Fachs, den Untergang des amerikanischen Empire bereits zu erkennen meint.
Im vorliegenden Buch zeichnet der Schweizer Autor in großer Ausführlichkeit die verschlungene Geschichte der amerikanisch-chinesischen Beziehungen nach, die mit der Ankunft des dreimastigen Segelschiffs Empress of China an der chinesischen Küste 1784, gerade ein Jahr nachdem die dreizehn Kolonien an der nordamerikanischen Ostküste die volle Unabhängigkeit von der britischen Krone schriftlich zugesichert bekommen hatten, beginnt. Im Windschatten jener "ungleichen Verträge", die Großbritannien nach den beiden gewonnenen Opium-Kriegen - 1839-1942 und 1856-1860 - der chinesischen Qing-Dynastie aufoktroyieren konnte, haben auch die USA im Reich der Mitte weitreichende Handels- und Niederlassungsrechte erhalten. Amerikanische Kaufleute haben am Opiumhandel ein Vermögen verdient, das sie wiederum zum nicht geringen Teil in den Ausbau der Eisenbahn im eigenen Land investierten. Umgekehrt haben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zehntausende chinesische Wanderarbeiter, damals Kulis genannt, unter sklaverei-ähnlichen Bedingungen von Kalifornien aus den westlichen Teil der kontinentübergreifenden Eisenbahnverbindung zwischen Pazifik und Atlantik gelegt.
Als sich chinesische Kampfkunststudenten mit dem Boxer-Aufstand 1899-1901 gegen den übermächtigen Einfluss der ausländischen Kolonialmächte vor allem in Peking und Shanghai erhoben, nahmen amerikanische Soldaten neben Truppen aus Großbritannien, Japan, Frankreich, Russland, Italien, Deutschland und Österreich-Ungarn an der Niederschlagung der Bewegung teil. Etwa zur gleichen Zeit - 1899-1902 - ersetzten die Amerikaner die Spanier als Kolonialherren auf den Philippinen und machten mit einem Blutbad die Hoffnungen der einheimischen Bevölkerung auf Unabhängigkeit zunichte. Wie Urio richtigerweise hervorhebt, sollte aus Sicht "progressiver" Imperialisten wie Präsident Teddy Roosevelt und Senator Albert J. Beveridge das philippinische Archipel den USA vor allem als Sprungbrett dienen, von wo aus man militärisch seine politischen und wirtschaftlichen Interessen in der Region im allgemeinem und in China im besonderen durchzusetzen gedachte. Als dann Ende 1911 die Qing-Dynastie nach langem Dahinsiechen endgültig kollabierte, rief am 1. Januar 1912 Sun Yat-sen, der Vater des chinesischen Nationalismus, der als politischer Dissident Jahre im ausländischen Exil, darunter auch in den USA, verbracht hatte, die Republik China aus. Diesen Titel trägt offiziell bis heute Taiwan.
Die neu entstandene Republik konnte sich aber gegen jene Kriegsfürsten, die in der Endphase der Qing-Dynastie die verschiedenen Provinzen Chinas quasi in ihr feudales Alleineigentum verwandelt hatten, nicht durchsetzen. Auch nach dem Ersten Weltkrieg kam China, das hunderttausende Freiwillige zur logistischen Hilfe der Westmächte hinter der Frontlinie zwischen Nordsee und Alpen nach Europa geschickt hatte, nicht zur Ruhe. Zwar waren die USA, jedoch weder Japan, das Taiwan bereits 1895 besetzt hatte, noch Großbritannien und Frankreich bereit, auf ihre extraterritorialen Privilegien und Pachtgebiete in China zu verzichten. 1927 schlug mit dem Massaker von Shanghai die politische Rivalität zwischen Chinas Kommunisten und Nationalisten in einen offenen Konflikt um. 1931 besetzte Japan vollständig die an Bodenschätzen reiche nordchinesische Mandschurei. Sechs Jahre später entbrannte der Zweite Japanisch-Chinesische Krieg, der erst mit den Atombombenabwürfen der US-Luftwaffe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 sein Ende fand.
Im Zweiten Weltkrieg kämpften Chinesen und Amerikaner gemeinsam gegen die Japaner. US-Generalmajor Claire Chennault baute mit amerikanischen Freiwilligen-Piloten für den Nationalistenführer Chiang Kai-shek eine eigene Luftwaffe, die sogenannten "Flying Tigers", auf. US-Präsident Franklin Roosevelt stellte Chiang den hochdekorierten, kriegserfahrenen General Joseph Stillwell, der fließend Mandarin sprach, als Berater zur Seite. Später wurde Stillwell Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte am Kriegsschauplatz China-Birma-Indien, in welcher Funktion er unter anderem den Nachschub für Chiangs Kuomintang-Armee per Luft von Indien über den Himalaya nach Westchina organisierte. Auch wenn niemand in Washington es hören wollte, hielt Stillwell Chiangs Kuomintang für korrupt und inkompetent und schätzte ihren Rückhalt bei der Bevölkerung verglichen mit Maos Kommunisten als gering ein. Die Richtigkeit dieser Einschätzung bestätigte sich 1949 durch den endgültigen Sieg der Kommunisten im Bürgerkrieg und die Flucht der gesamten Kuomintang-Führung samt Anhang nach Taiwan.
Die hysterische Reaktion von Medien und Politik in den USA auf die Ausrufung der Volksrepublik durch Mao am 1. Oktober 1949, die ihren sichtbarsten Ausdruck in der von Senator Joseph McCarthy betriebenen Hetzjagd auf die vermeintlich Verantwortlichen im Staatsapparat, speziell im diplomatischen Dienst, für den "Verlust Chinas" fand, veranschaulicht wie keine andere Episode der Geschichte den tiefsitzenden Besitz- und Kontrollanspruch, der das Denken der mächtigen Militaristen-Fraktion Amerikas in Bezug auf das Reich der Mitte damals wie heute prägt. Nur durch die Herbeiführung des Koreakriegs, der sich 1950 am 38. Breitengrad entzündete und erst 1953 durch eine Feuerpause unterbrochen wurde, konnten Douglas MacArthur, John Foster Dulles und die Republikaner im Kongress den Plan der Demokraten um Präsident Harry Truman und Außenminister Dean Acheson, zwecks guter langfristiger Beziehungen auch Taiwan der Volksrepublik zu überlassen, durchkreuzen und die Insel als Amerikas Faustpfand behalten.
Und so dauerte es rund zwanzig Jahre bis Henry Kissinger 1971 seine im nachhinein berühmt gewordene Geheimreise nach Peking antrat und den Weg für den historischen Besuch Nixons ein Jahr später in der chinesischen Hauptstadt ebnete. Mit der sogenannten "Ping-Pong-Diplomatie" verfolgte Washington das Ziel, seine wichtigsten Feinde, die beiden kommunistischen Megastaaten China und Sowjetunion, auseinanderzudividieren. Die Rechnung nach dem Motto "Teile und herrsche" ging auf. Die US-Streitkräfte konnten sich in den darauffolgenden Jahren vollständig aus dem Vietnamkrieg zurückziehen. 1979 erkannten sich die USA und die Volksrepublik China, angeführt von Jimmy Carter und Deng Xiaoping, gegenseitig an und nahmen volle diplomatische Beziehungen auf. Im Zuge dessen ging Chinas Platz als Vetomacht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, den bis dahin Chiang Kai-sheks Republik China innehatte, an die Volksrepublik, während Taiwan auf den Rang einer Provinz zurückgestuft wurde. Bereits 1975 war der Generalissimo in Taipeh gestorben.
In den folgenden Jahrzehnten hat sich sehr zur Überraschung der meisten Kapitalismusbefürworter im Westen das kommunistische China, anfangs durch ausländische Investitionen aus den USA, Japan, Taiwan und Deutschland, von einem bitterarmen, abgeschotteten Land zur Werkbank der Welt entwickelt. Im Buch zeichnet Urio ausführlich die industrielle Entwicklungsgeschichte der Volksrepublik nach, von Maos gescheitertem Großen Sprung nach vorn über Chou Enlais Vier Modernisierungen in Landwirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Technologie sowie nationaler Verteidigung, Dengs marktwirtschaftliche Reformen einschließlich der Schaffung von Sonderwirtschaftszonen in den Küstenprovinzen, Jiang Zemins Stärkung des staatlichen sozialen Netzes und Ausbau der Infrastruktur im Landesinnern und Hu Jintaos Förderung des Informationstechnologiesektors bis hin zu Xi Jinpings Verkündung des chinesischen Traums eines im friedlichen Austausch mit aller Welt vernetzten Chinas, das seinen angestammten, im 19. Jahrhundert abhanden gekommenen Platz als Zentrum der Globalwirtschaft wieder einnimmt.
Im Mittelpunkt von Xis "chinesischem Traum" steht die Neue Seidenstraße, ein Infrastrukturvorhaben beispiellosen Ausmaßes, das mittels Ausbau von Seehäfen, Autobahnen, Öl- und Gaspipelines und vor allem Eisenbahnlinien und Schnellzugverbindungen Asien, Afrika und Europa einander näherbringen und gleichzeitig zahlreiche kulturelle und wirtschaftliche Synergien entfalten soll. Xis Vision stößt bei den USA mit ihren zwölf, auf allen Weltmeeren patrouillierenden Flugzeugträgerverbänden auf wenig Gegenliebe, denn durch die verschiedenen neuen Landverbindungen Eurasiens, die Chinas Ingenieure und Bauarbeiter errichten, fallen nach und nach die Erpressungsmöglichkeiten Washingtons an den maritimen "choke points" wie der Straße von Malakka zwischen Indonesien und Malaysien, der Straße von Hormus zwischen Persischem Golf und Arabischem Meer, an Bab al-Mandab am Horn von Afrika zwischen Indischem Ozean und Rotem Meer, am Suezkanal sowie an der Straße von Gibraltar flach.
Doch die Wandlung der Washingtoner Perspektive von China als Partner zu einer von der Volksrepublik als Feind hat sich nicht erst mit der Übernahme des Präsidentenamts durch den stets selbstbewusst auftretenden Xi vollzogen. Als China 2005 durch eine bevorstehende Lösung des Streits um das nordkoreanische Atomenergieprogramm die militärische Notwendigkeit der Stationierung von Schlüsselkomponenten des US-Raketenabwehrsystems in Südkorea und Japan, das dem Pentagon eventuell einen nuklearen Erstschlag gegen die Volksbefreiungsarmee ermöglichen soll, aus der Welt geschaffen zu haben meinte, machten die USA in letzter Minute durch den Vorwurf, Pjöngjang bringe über eine Bank in Makau im großen Stil gefälschte Dollarscheine in Umlauf, die Verhandlungen in Peking, an denen auch Japan, Russland und Südkorea beteiligt waren, zunichte. Wie nicht anders zu erwarten stellten später Finanzexperten der angesehenen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young (EY) fest, die von Stuart Levey, damals der für die Terrorismusbekämpfung und Geldwäsche zuständige Staatssekretär im US-Finanzministerium, erhobenen Vorwürfe gegen die Banco Delta Asia in Makau seien an den Haaren herbeigezogen und entbehrten jeder faktischen Grundlage. Deswegen gilt Levey seitdem unter Insidern als "Vater der nordkoreanischen Atombombe".
2008 bauschte der einflussreiche Chefkommentator der New York Times, Thomas Friedman, die spektakuläre, atemberaubende Eröffnungszeremonie der olympischen Sommerspiele in Peking, die alles bis dato in den Schatten stellte, zum zweiten "Sputnik-Moment" auf. Die USA vergeudeten ihre Energien im sinnlosen "Antiterrorkrieg" der republikanischen Regierung George W. Bush gegen die Taliban und sonstige Islamfundamentalistenvereine, während China dabei sei, still und heimlich Amerikas Führungsrolle in der Welt zu stehlen, so Globalisierungsapostel Friedman. Kein Wunder also, dass nach der Amtsübernahme durch die demokratische Administration Barack Obamas Ende 2008 die wichtigste Initiative seiner Außenministerin Hillary Clinton darin bestand, 2011 mittels einer Grundsatzrede ausgerechnet in Pearl Harbor auf Hawaii und parallel dazu eines Artikels in der renommierten Fachzeitschrift Foreign Affairs das 21. Jahrhundert zu "America's Pacific Century" zu erklären. Der rhetorische Fehdehandschuh an die Adresse Pekings ging mit der Verlegung weiter Teile der US-Militärkapazitäten vom atlantischen in den pazifischen Raum wie zum Beispiel mit der Errichtung eines dauerhaften Stützpunkts der US-Marineinfanterie nahe der nordaustralischen Hauptstadt Darwin einher. Seitdem hört man immer wieder von irgendwelchen "Freedom of Navigation Operations" der US-Kriegsmarine im Südchinesischen Meer, die China seinerseits durch die Errichtung von Häfen, Start- und Landebahnen, Raketenstellungen und Radarstationen auf Korallenriffen und winzig kleinen Inseln in der Region zu kontern versucht.
Seit China nach der technologischen Führung in den Bereichen künstliche Intelligenz, Mikroelektronik, Raumfahrt und Robotik strebt, werden aus den USA die Stellungnahmen immer aggressiver. Da China inzwischen jedes Jahr mit Abstand die weltweit höchsten Zahlen bei Hochschulabsolventen in den Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (MINT) sowie bei neuen Patenten aufweist, besteht keine Möglichkeit mehr, die Volksrepublik auf dem Weg der regulären wirtschaftlich-wissenschaftlichen Konkurrenz aufzuhalten bzw. einzuholen. Bereits 1998 haben die USA mittels Veto die Teilnahme Chinas an der Internationalen Raumstation (ISS) blockiert. Also hat die Volksrepublik im Alleingang eine eigene Raumstation, die Tiangong, entwickelt, gebaut und sie eigenhändig 2021 in eine Erdumlaufbahn gebracht. Seit Juli dieses Jahres wird die Tiangong von drei chinesischen Taikonauten durchgehend besetzt. Die Nationale Raumfahrtbehörde Chinas (CNSA) hat bereits mehrmals Sonden zum Mond geschickt und von dort Gesteinsproben auf die Erde gebracht. Für 2049, rechtzeitig zum 100jährigen Jubiläum der Volksrepublik, ist eine bemannte Mission zum Mars geplant.
Der Aufstieg Chinas zur wirtschaftlichen Führungsnation erklärt, warum die letzten Regierungen der USA von Donald Trump und Joe Biden trotz aller innenpolitischen Differenzen keine Gelegenheit ausließen, die Volksrepublik als "totalitäres Regime" zu stigmatisieren und die angebliche Unterdrückung der Buddhisten in Tibet, der Uiguren in Xingjiang oder der Studenten in der Sonderverwaltungszone Hongkong zu beklagen. Unter Berücksichtigung aller realen Missstände auf chinesischer Seite entlarvt Urio die Propagandakampagne in allen drei Fällen als durchsichtige Verzerrung der Wirklichkeit. Zu Tibet fragt er, ob die Kritiker Pekings tatsächlich wollen, dass den Menschen auf dem Dach der Welt die Vorzüge der modernen Zivilisation wie Strom vorenthalten werden sollen. Zu Xinjiang verweist er unter anderem auf die Angaben von Jeffrey Sachs, des Wirtschaftsprofessors der New Yorker Columbia University und Berater des UN-Generalsekretärs Antonio Guterres, wonach in der muslimisch geprägten Westprovinz Chinas zwar mutmaßliche terroristische "Gefährder" in behördlichen Sonderanstalten umerzogen werden, mitnichten jedoch ein "Völkermord" verübt werde, wie Anfang 2021 von Bidens Außenminister Anthony Blinken behauptet. Was die "Demokratiebefürworter" in Hongkong betrifft, so weist Urio die geheimdienstliche Instrumentalisierung sozialer Missstände in der Wirtschaftsmetropole nach, die viel mehr mit dem althergebrachten Kapitalismus britischer Prägung als mit polizeistaatlichem Machtmissbrauch auf Geheiß Pekings zu tun haben. Kein Staat der Welt hätte solchen gewaltsamen Protesten und Verwüstungen tatenlos zugesehen, wie sie 2019 die Abgeordneten im Hongkonger Legislativrat erleben mussten, stellt Urio zu Recht fest.
Während Urio in der chinesischen Politik einen Pragmatismus erkennt, der sich sowohl aus Elementen der traditionellen chinesischen Philosophie als auch der westlichen Moderne speist, sieht er Amerikas geistige und politische Führung in einem messianischen Gedankenkorsett gefangen, das sich eine Welt ohne die USA in der Führungsrolle nicht vorstellen kann und deshalb zu einer Kooperation mit China auf Augenhöhe unfähig ist. Ungeachtet des Umstands, dass die USA in den letzten Jahrzehnten nach allen herkömmlichen Kriterien in Sachen Bildung, Volksgesundheit, Industrie und Infrastruktur weit zurückgefallen sind, peilen sie unter dem Vorwand des Kampfs "Demokratie" gegen "Autoritarismus" und eventuell mit Taiwan als Anlass die direkte Konfrontation mit der Volksrepublik an. Von diesem selbstmörderischen Kurs rät nicht nur Urio, sondern auch noch der diplomatische Großmeister Henry Kissinger in seinem jüngsten Buch "Staatskunst - Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert" dringend ab. Doch leider sieht es momentan nicht danach aus, als würde Washington zu dem für Peking absolut unverhandelbaren und von Kissinger angemahnten Ein-China-Prinzip zurückkehren. Eher deuten die Zeichen in entgegengesetzte Richtung.
19. September 2022
Paolo Urio
America and the China Threat
From The End of History to the End of Empire
Clarity Press, Atlanta, 2022
609 Seiten
ISBN: 978-1-949762-50-1
eBook ISBN: 978-1949762-51-8
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 177 vom 1. Oktober 2022
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