Bedarf, Konsum und Raub
Utsa und Prabhat Patnaik
Eine Theorie des Imperialismus
Mit einer Anmerkung von David Harvey
Cover: © Mangroven Verlag
Die marxistischen ÖkonomInnen Utsa und Prabhat Patnaik legen als ein Resultat ihrer langjährigen Forschungsarbeit eine Theorie des Imperialismus vor - wohlgemerkt nicht in Konkurrenz zu diesbezüglichen Ausführungen Wladimir I. Lenins und Rosa Luxemburgs, wohl aber im Sinne einer unverzichtbaren Ergänzung, die ein lange ausgeblendetes Feld unter die Lupe nimmt. Es geht dabei um die wesentliche Bedeutung des Globalen Südens, dessen fortgesetzte Ausbeutung in Kolonialismus und Imperialismus nicht etwa von peripherer, sondern zentraler Bedeutung für die Herausbildung und Durchsetzung des Kapitalverhältnisses ist. Im Zentrum der Theorie steht der Handel zwischen den Kernökonomien des Globalen Nordens und Ländern des Globalen Südens, wobei das indische Autorenpaar untersucht, wie die Nachfrage des Nordens nach Waren des Südens eine imperialistische Beziehung auf Dauer gestellt und verfestigt hat. Sie erforschen die Dynamik dieses Prozesses und diskutieren Innovationen, die es den Ökonomien des Südens ermöglichen könnten, einen höheren Wohlstand zu erreichen, ohne dabei den Ökonomien des Nordens zu schaden. Erörtert wird also nichts weniger als die Zukunft einer Weltwirtschaft, die angesichts mannigfaltiger Krisen mit verheerenden Folgen für Millionen von Menschen zusammenzubrechen droht. Das Buch enthält auch eine Entgegnung des marxistischen Humangeographen und Sozialtheoretikers David Harvey, der erhebliche Einwände gegen die vorliegende Theorie geltend macht, und schließt mit einer Erwiderung der Patnaiks auf diese Kritik. Die AutorInnen suchen und pflegen also den Disput, der zudem in weiteren Passagen des Buches anhand der Erörterung möglicher Gegenargumente befördert wird.
Der hier ins Feld geführten These zufolge definiert der Begriff Imperialismus eine Form ökonomischer Beherrschung einer Region durch eine andere, wobei Kolonialismus als ein besonderer Fall und historischer Vorläufer des Imperialismus aufzufassen sei. Dieser überdauerte in der Regel das Ende der Kolonialherrschaft mit modifizierten, jedoch im Kern unveränderlichen Eigenschaften. Diese invarianten Eigenschaften des Imperialismus vorzustellen ist das umfassende theoretische Anliegen des Buches. Wenngleich die Analyse Verbindungen zur marxistischen Tradition hat, legt sie doch insbesondere deren Begrenztheiten offen. Den Kapitalismus als eine ökonomische Formation der modernen Zeit könne man nur verstehen, wenn man den Imperialismus als einen Wesenszug des Kapitalismus auffasst. Er stellt also nicht, um ein Wort Lenins aufzugreifen, bloß das letzte Stadium des Kapitalismus dar, sondern ist weit über ein kontingentes Anhängsel hinaus essenziell für die innere Wirkungsweise des Kapitalismus. Denn das Kapital ist keineswegs statisch, vielmehr wohnt ihm eine Dynamik inne, da es sich unablässig den Anforderungen der Konkurrenz stellen muss und zu seiner Reproduktion unabdingbar auf neue und externe Stimuli angewiesen ist. Und ein solcher lebensnotwendiger externer Stimulus wird über die Beziehungen der Herrschaft und Unterwerfung hergestellt, die das Kapital außerhalb seiner ursprünglichen territorialen Verankerung unentwegt in entfernteren Regionen der Welt sucht.
In ihrer Analyse entwickeln die AutorInnen folgende Argumentationslinie: Kapitalakkumulation führt zu steigender Nachfrage bei bestimmten Waren. Dies führt zu steigender Produktion, was seinerseits den Angebotspreis erhöht. Träte diese Situation tatsächlich ein, wäre der Geldwert bedroht. Da es der Kapitalismus niemals zulassen kann, dass aus dieser Bedrohung des Geldwerts eine tatsächliche Geldentwertung resultiert, wird eine Einkommensdeflation erzwungen, die den Kleinproduzenten und der Arbeiterschaft im Globalen Süden harte ökonomische Lasten aufbürdet. Das dieser theoretischen Analyse innewohnende imperialistische Verhältnis zeichnet sich klarer ab, sobald es mit empirischen Belegen unterfüttert wird. Wie die Patnaiks argumentieren, stellen tropische und subtropische Regionen Waren bereit, die nördliche Länder dringend benötigen, aber aus geographischen und klimatischen Gründen nicht oder nur unzureichend auf ihrem eigenen Territorium produzieren können. Dies würde dazu führen, dass die betreffenden Waren zu einem bestimmten Zeitpunkt wie etwa im nördlichen Winter nur zu steigenden Angebotspreisen produzierbar werden. Träte dieser Fall ein, könnten entsprechende Waren aus den südlichen Herstellerländern nur zu Bedingungen erworben werden, die den Wert des Geldes bedrohen. Um dies zu vermeiden, zwingen die Metropolenregionen den Ländern der Peripherie eine Deflation der Einkünfte auf, stürzen mithin die Armen und Kleinproduzenten in Leid und Not.
In diesem Sinne könne Imperialismus als ein Bündel von Maßnahmen definiert werden, das Einkommensdeflation in Ländern des Globalen Südens erzwingt. Da das Kapital von Anfang an seine Reproduktion anstrebt, bedarf diese Akkumulation auch außerhalb liegender Quellen, weshalb ihm der Imperialismus innewohnt. Der fortgesetzte Bedarf an Waren aus südlichen Regionen darf nicht zu steigenden Preisen führen, damit der Geldwert und ein Währungssystem, das zur Aufbewahrung von Vermögen geeignet sein soll, stabil bleiben. Um diese Stabilität sicherzustellen, wird die externe Bevölkerung in einen Zustand chronischer Armut gebracht. Damit wird deren eigene Nachfrage nach den von ihr hergestellten Produkten beschränkt. Indem diese Produkte dem heimischen Gebrauch entzogen werden, bleiben sie für die nördlichen Länder verfügbar, und zwar zu einem Angebotspreis, der keiner Steigerung unterliegt.
Die Argumentation des Buches ließe sich auch vom Ausgangspunkt des Geldes her rekonstruieren, da der Kapitalismus seinen Mittelpunkt im Geld oder in Anlagen, die an Geld gebunden sind, als Speicher von Vermögen hat. Der Wert des Geldes bemisst sich nach der Menge an Waren, die man mit einem bestimmten Geldbetrag innerhalb eines gegebenen Zeitraums kaufen kann. Fällt der Wert des Geldes im Verhältnis zu den Waren, droht ein Wechsel von Geldanlagen zu Anlagen in Waren, womit der Status des Geldes als Vermögensspeicher und schließlich auch als Zirkulationsmittel untergraben wird. In Hinblick auf essenzielle Waren, die von den Metropolenländern nicht produziert werden können, wird deren Angebotspreis durch Kompression der Nachfrage in den Produzentenländern niedrig gehalten.
Die Autoren untersuchen mögliche Einwände gegen ihre These wie etwa jene, dass im Falle einer grenzenlosen oder in hohem Umfang ungenutzten Landmasse schlichtweg mehr Agrarprodukte sowohl für den heimischen Verbrauch als auch den Gebrauch in den Metropolenregionen erzeugt werden könnten. Eine solche Ressourcenfülle sei aber nicht gegeben. Denkbar wäre zudem bei begrenztem Landvorrat eine Intensivierung der Landnutzung, die jedoch erhebliche weitere Investitionen erforderlich machte. Da diese für die Kleinproduzenten unerschwinglich seien, bedürfte es staatlicher Maßnahmen, die jedoch unter kapitalistischen Rahmenbedingungen nicht geduldet würden. So wird ein "ausgeglichener Haushalt" dieser Staaten erzwungen, der grundlegende strukturelle Verbesserungen verhindert.
Im Stadium des Kolonialismus wurden die erhobenen Steuern hauptsächlich dazu genutzt, um Produkte für die Ausfuhr in die Metropolenländer zu kaufen - im Grunde also ein Warenkauf ohne Bezahlung. Hinzu kam die Einfuhr von industriell erzeugten Fertigwaren in die kolonisierten Länder, die deren Handwerksprodukte obsolet machten, eine Deindustrialisierung hervorriefen und eine permanente Reservearmee von Arbeitskräften schufen. Diese Einkommensdeflation setzte sich in der postkolonialen Periode mit weiteren Mitteln fort, wie sie insbesondere für die neoliberal geprägten Jahrzehnte charakteristisch waren. Länder der peripheren Regionen verfangen sich in ihrem Streben nach "Entwicklung" im Netzwerk des globalen Finanzkapitals und begeben sich in den Wettbewerb, Investitionen anzulocken. Hat man dem Kapital Konzessionen eingeräumt, kann die geforderte verantwortungsvolle Fiskalpolitik nur durch Kürzungen öffentlicher Ausgaben sichergestellt werden, was wiederum die Einkünfte deflationiert. Hinzu kommt ein Wiederaufleben der ursprünglichen Akkumulation, indem der bäuerlichen Bevölkerung der Landbesitz entzogen wird.
Das Buch behandelt noch weitere derartige Strategien, arbeitet Unterschiede zwischen Kolonialismus und gegenwärtigem Imperialismus wie auch deren übereinstimmenden Grundzüge heraus. In die Theorie eingebettet wird zudem die Zwischenphase der Entkolonialisierung in den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg als eine Art Zäsur im Rhythmus des Imperialismus. Regierungen, die aus dem Erfolg der Massenbewegungen zur Dekolonialisierung hervorgegangen waren, ergriffen politische Maßnahmen gegen die Flucht einheimischen und fremden Kapitals wie auch zur Unterstützung der Kleinproduzenten. Die Patnaiks stellen die Heraufkunft des Neoliberalismus nach der Umgestaltung der Bretton-Woods-Institutionen als Strategie gegen den Anstieg der Warenpreise dar, der aus dem Wegfall der kolonialen Einkommensdeflation und einer entsprechenden Politik der nunmehr unabhängigen Regierungen resultierte. Sie weisen den Neoliberalismus als Wiederherstellung des dem Kapitalismus innewohnenden Imperialismus aus.
Als theoretische Analyse des Imperialismus und Diagnose seines Fortbestands arbeitet das Buch nicht heraus, was für einen Widerstand gegen ihn erforderlich wäre oder wie eine Welt ohne ihn aussehen könnte. Die AutorInnen sprechen zwar im letzten Abschnitt von einer Transzendierung des Kapitalismus, deuten aber lediglich an, dass eine Nord-Süd-Entkopplung mit einer teilweisen Süd-Süd-Verkopplung verbunden sein könnte. Die Vorbehalte gegen eine Reduzierung der Globalisierung sind Legion und mit einem Rückfall in Nationalismen negativ assoziiert. Indessen legen die Patnaiks nahe, dass eine Abkehr von der Hegemonie des globalen Finanzkapitals und eine Rückkehr zu größerer nationaler Souveränität im ökonomischen Bereich der beste Weg sei, den zurecht gefürchteten Nationalismen mit ihren ethnischen Trennlinien und extremistischen religiösen Tendenzen entgegenzuwirken.
Der britisch-amerikanische Geograph David Harvey stellt die zentrale These in Frage, auf der die Imperialismustheorie des indischen Ökonomenpaars gründet. Der Behauptung, die aus den tropischen Gebieten extrahierten agrarwirtschaftlichen Gebrauchswerte seien von existenzieller Bedeutung für den Metropolkapitalismus, könne man einfach keinen Glauben schenken. Zum einen seien die weltweit extrahierten Energie- und Mineralressourcen weitaus bedeutsamer und keineswegs nur in den Tropen vorhanden, zum anderen machten die von dort bezogenen Agrarprodukte lediglich 8 Prozent der Importe in den Metropolländern aus. Wenn die Patnaiks argumentierten, dass der Gebrauchswert dieser Erzeugnisse aber wesentlich höher sei, halte er dies nicht für stichhaltig. Nur wenige dieser Produkte seien unverzichtbar, manche ließen sich notfalls kompensieren, viele auch aus anderen Regionen beziehen.
Wo genau die tropische Landmasse liegen soll, von der unter wechselnden und mithin unscharfen Begriffen die Rede ist, wird nicht näher definiert. Unberücksichtigt bleibt auch, dass sich Länder wie Brasilien, Argentinien, Mexiko oder Indien, insbesondere aber die USA und China über verschiedene Klimazonen erstrecken. Die Klassifikation eines Globalen Südens, der dank seiner monopolartigen Stellung bei Agrarprodukten eine eigenständige Imperialismustheorie begründe, sei nicht haltbar. So ist China einer der weltweit größten Produzenten von Reis im Süden, Weizen im Norden und Baumwolle, wobei diese Erzeugnisse vorwiegend für den heimischen Verbrauch bestimmt sind. Und die höchst effiziente und hoch subventionierte Produktion von Reis, Zucker, Baumwolle und Zitrusfrüchten in den USA sorgt für eine überaus konkurrenzfähige subtropische Komponente innerhalb der kapitalistischen Monopolwirtschaft. Zu nennen sind auch die Regionen am Mittelmeer mit ihren agrarwirtschaftlichen Schwerpunkten.
Auch halte die These nicht Stand, wonach alles Land der Tropen bereits unter wirtschaftlicher Nutzung stehe. Im Sub-Sahara-Afrika existiere noch "offenes Land", die Invasion Amazoniens verschiebe die Grenze von gewerblicher Agrarwirtschaft und Regenwald, auch in Südostasien schreite dieser Prozess dramatisch voran. Wenngleich es sich um einen Vertreibungs- und Verdrängungsprozess handle, seien die Landressourcen noch keineswegs ausgeschöpft. Zudem führt Harvey bedeutende Unterschiede in Umweltbedingungen, Agrarregimen und Landnutzungspotentialen an, die einen pauschalen Begriff wie "die Tropen" unzulässig vereinfachten. Vieles hänge von kulturellen Voraussetzungen, der Kolonialgeschichte und gesellschaftlichen Organisationsweisen ab, so dass die Palette von traditionellen nicht-bäuerlichen Agrarformen oder Subsistenzwirtschaft über Techniken der "Grünen Revolution" bis hin zu großindustrieller Landwirtschaft vor allem bei Exporterzeugnissen reiche. Die These, in den Tropen sei der größte Teil der Agrarwirtschaft nichtkapitalistisch organisiert, treffe keinesfalls zu. Suchte man jenes tropische oder subtropische Land, in dem auch Pflanzen gemäßigter Zonen angebaut werden können und das zugleich unter Bedingungen nichtkapitalistischer bäuerlicher Landwirtschaft genutzt wird, ließe sich allenfalls Indien in Teilen und vielleicht noch die afrikanische Sahelzone nennen.
Das Imperialismusproblem dürfte Harvey zufolge eher aus einer Konstellation hervorgehen, in der die Kräfte aus umgekehrter Richtung wirken. So zerstört eine hocheffiziente und stark subventionierte Agrarindustrie Nordamerikas und Europas die bäuerlichen Produktionssysteme dort, wo sie überhaupt noch existieren. Die Vereinigten Staaten sind einer der größten Exporteure von Nahrungsmitteln sowohl als Rohstoffe als auch in verarbeiteter Form. So wenig Harvey den Transfer von Wert und Reichtum in Abrede stellt, die Extraktivismus und Welthandel mit sich bringen, weist er doch die einfache und seines Erachtens irreführende Rubrik eines Imperialismus zurück, die von einem physikalischen geographischen Determinismus abgeleitet wird. Der historische Materialismus werde mit einem stofflichen Materialismus der Naturwissenschaften verwechselt, der vermeintlich natürliche Bedingungen voraussetze und dabei die gesellschaftliche Produktion des Raums wie auch die lange Geschichte der menschlichen Veränderungen der Umwelt ausblende. So seien die Bedingungen landwirtschaftlicher Produktion nicht durch die Natur ein für alle Mal festgelegt, sondern unterlägen einem historischen Wandel in den Bereichen Land, Technologie, Kultur, Wirtschaft und Politik.
Staaten der gemäßigten Zonen haben Machtpositionen angehäuft, die weit über die von den Patnaiks angeführte Macht über die tropische Landmasse hinausgehen. Diese Dominanz gründet auf militärischem Potential und Technologie, Forschungs- und Entwicklungsdynamik, Organisationsformen und sozialer Infrastruktur, die in ihrer Gesamtheit für die Standortwahl des Kapitals ausschlaggebend sind. Die Konzentration weltweit führender Hochtechnologie an diesen Standorten vergrößert wiederum deren Vorsprung vor anderen Regionen, die über große noch verwertbare Arbeitskräftereserven verfügen, die sich exzessiver Ausbeutung anbieten. So sind 90 Prozent der freien Exportzonen auf der tropischen Landmasse angesiedelt.
Wie die AutorInnen zurecht feststellten, führe die Notwendigkeit in der Peripherie, Devisen zu erwirtschaften, zum Anbau von Exportpflanzen, der die örtliche Versorgung mit Nahrungsmitteln schmälert. Der Komplex imperialistischer Praktiken reiche jedoch weit darüber hinaus und lasse sich nicht mittels eines statischen Geographieverständnisses auf Klima und Bodentypen reduzieren, zumal die relativen Räume der Weltwirtschaft ständig von Innovationen im Verkehrs- und Kommunikationswesen umgewälzt werden. Der globale Kapitalfluss ändert häufig seine Richtung und die Arbeitskräfte versuchen ihm zu folgen. Geographie in Harveys Sinn widme sich der Frage, wie die Menschen die Erde nutzen und wie sie sie zugerichtet haben. Industrialisierung und Exportfertigungszonen dringen in die tropische Landmasse vor, eine massive Verstädterung zeugt von der Wanderbewegung einer zunehmend besitzlosen Landbevölkerung.
Zweifellos erhöhen die Wertströme der Akkumulation den Reichtum in der einen Weltgegend zu Lasten einer anderen, doch seien diese Ströme komplizierter geworden und änderten des öfteren ihre Richtung. Habe sich der Abzug von Reichtum zwei Jahrhunderte lang in Ost-West-Richtung bewegt, so sei es in den letzten 30 Jahren zu einer weitgehenden Umkehrung gekommen. Es gelte also, das weltweite Muster der Kapitalströme und die derzeitige Hyperaktivität des Kapitals in seiner Suche nach neuen Gelegenheiten der Mehrwertextraktion differenzierter zu untersuchen, als dies die AutorInnen getan hätten. Der Tendenz zu beständiger Überakkumulation stehe als Entlastung die Tendenz geographischer Expansion oder Umstrukturierung gegenüber. Ein Teil des überakkumulierten Kapitals muss sich in Gestalt materieller und sozialer Infrastruktur einschließlich des Staatsapparats im Raum verfestigen, damit das übrige Kapital frei und unentwegt über den Raum strömen kann. Unverzichtbar sei also, den Widerspruch zwischen der territorialen Logik der Staatsinteressen und der molekularen Logik des Kapitalflusses besser zu verstehen. Folgte man den Argumenten der Patnaiks, müsste man Untersuchungen zu zentralen Entwicklungen in der Weltwirtschaft als irrelevant einstufen.
Nicht minder am streitbaren Disput um relevante Inhalte interessiert wie David Harvey zögern Utsa und Prabhat Patnaik nicht, dessen Kritik ihrerseits argumentativ zurückzuweisen. Sie verteidigen ihre Theorie des Imperialismus und unterfüttern sie mit zusätzlichen empirischen Daten, wobei insbesondere ihre Befunde zu vorkolonialen und kolonialen Verhältnissen der Produktion von Lebensmitteln und Ernährungslage der Bevölkerungen erhellend sind. Wenngleich man Harvey attestieren kann, in dieser Debatte die wirkmächtigeren Pfeile im Köcher zu haben, ist die Lektüre des Buches doch allemal empfehlenswert, da es eine anregende Kontroverse entfaltet, die dem Verständnis der Leserschaft zugute kommt und dessen Neigung bestärken dürfte, sich vertiefend mit dieser Thematik auseinanderzusetzen.
30. Mai 2023
Utsa und Prabhat Patnaik
Eine Theorie des Imperialismus
Mit einer Anmerkung von David Harvey
Mangroven Verlag, Kassel 2023
268 Seiten
26,00 EUR
ISBN 978-3-9469-4625-0
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 179 vom 22. Juli 2023
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