Thomas Metscher
Sein und Bewusstsein
Ontologische Reflexionen
Cover: © Mangroven Verlag
Mit "Sein und Bewusstsein" nimmt sich Thomas Metscher einer Thematik an, die von zentraler Bedeutung im materialistischen Denken wenn nicht gar für Philosophie schlechthin ist. Wenn im Untertitel des Buches von "ontologischen Reflexionen" die Rede ist, so mag dies zum einen dem Umstand geschuldet sein, dass ein Band dieses Umfangs der Fülle des Gegenstands nicht gerecht werden kann. Nicht zuletzt aber verweist der Terminus "Reflexionen" auf den Versuchscharakter des Unternehmens, der wiederum der Denk- und Schreibart des Autors entspricht. Was er in seinen Schriften und in der Vergangenheit auch in seiner Lehre anzubieten hatte, sei nirgendwo ein wie auch immer geschlossenes System. Es seien Überlegungen zu Problemfeldern, die zu lösen noch weiterer intensiver Arbeit bedürfe. Auch die in dem vorliegenden Buch niedergelegten Gedanken seien nicht mehr als Bausteine, vielleicht auch nur Vorbereitungen für einen noch zu schreibenden Text. Es deutet sich hier eine grundsätzliche Herangehensweise an, die auf Grundlage der unbeirrbaren Überzeugung, dass eine menschenwürdige Gesellschaft erst noch zu errichten sei, einer Offenheit des Denkens verpflichtet ist, die sich Dogmen nicht unterwirft und der Weiterentwicklung des materialistischen Entwurfs verschrieben hat.
Gemeinhin gilt der Satz, wonach das Sein das Bewusstsein bestimmt, als Grundsatz allen materialistischen Denkens, das seiner Herkunft aus Marx, Engels und der Tradition des radikalen Materialismus die Treue hält. Doch wie Metscher hervorhebt, sei damit nicht mehr als das erste Wort gesagt, das unbesehen für das Ganze zu halten, was es dazu zu sagen gibt, in die Falle eines bloßen Umkehrschlusses führe, also Fleisch vom Fleische nur dem Schein nach verworfener Auffassungen bleibe. Denn für den Materialismus als dialektisches Denken bestimme nicht nur das materielle Sein das Bewusstsein, sondern zugleich auch das Bewusstsein das Sein, und dies in einem vielfachen Sinn: nicht nur im Sinne des Baumeisters, der als bewusst Tätiger in jedem Arbeitsprozess anwesend ist und diesen als menschlichen erst hervorbringt, sondern bereits im Sinne täglich erfahrener Lebenswelt, aus der allein besondere Gegenstände und Gegenstandsbereiche ausgesondert werden können.
Das Denken von Marx, so wenig es einer gegenwärtigen Mode und Machart zufolge auf Hegel reduziert werden kann, da zwischen beiden gravierende Unterschiede bestehen, steht gleichwohl in einer Tradition, die auf frühgriechisches Denken zurückgeht und in der Aristotelischen Anthropologie seinen ersten Höhepunkt hat: der Mensch ist ein "soziales Lebewesen", das mit dem Logos ausgestattet ist. Es gelte also zu fragen, was der Logos sei, wenn wir der Frage nach Bewusstsein und Sein nachgehen wollen. Dazu gehört die Frage nach dem alltäglichen Bewusstsein ebenso wie die Frage nach dem Wissen der Wissenschaften und den Künsten. Nach der festen Überzeugung Metschers ist marxistisches Denken also nur als dialektisches zu haben oder gar nicht. Somit ist der Satz, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, als dialektischer aufzufassen.
Der 1934 geborene Thomas Metscher studierte Anglistik, Germanistik, Soziologie und Philosophie in Berlin, Bristol und Heidelberg und wurde 1966 mit einer Dissertation über den irischen Dramatiker Sean O'Casey promoviert. Von 1961 bis 1971 lehrte er deutsche Literatur an der Queen's University of Belfast. Von 1971 bis zur Emeritierung 1998 war er Professor für Literaturwissenschaft und Ästhetik an der Universität Bremen. Er ist Mitherausgeber der Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte und kann auf zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Theorie der Literatur, Ästhetik und Kulturtheorie zurückblicken. Seine gegenwärtigen Forschungsgebiete sind philosophische Grundlagen ästhetischer Theorie, Literaturanalyse, Theorie des Bewusstseins und Fundierungsprobleme marxistischer Theorie. Zu seinen wichtigsten jüngeren Veröffentlichungen zählen: Logos und Wirklichkeit. Ein Beitrag zu einer Theorie des gesellschaftlichen Bewusstseins (2010) sowie Kunst. Ein geschichtlicher Entwurf (2012).
Thomas Metscher, der dieses Buch dem marxistischen Philosophen Hans Heinz Holz, seinem Lehrer und Freund, gewidmet hat, fasst ihre Zusammenarbeit in folgende Worte: "Unsere Gemeinschaft bedeutete Gemeinsamkeit der philosophischen, ästhetischen und politischen Gesinnung. Sie bedeutete keine Abhängigkeit des Einen vom Anderen. Im Gegenteil: unsere Freundschaft entstand aus der Verbindung von Übereinstimmung und Differenz, war deshalb vielleicht haltbarer als Freundschaften, die Differenzen nicht zulassen wollen." (S. 22)
Der Journalist, Kunstkritiker und Universitätsprofessor Hans Heinz Holz (1927-2011) gehört zu den bedeutendsten deutschsprachigen Philosophen und Gelehrten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Von Jugend an lebenslang Kommunist, hat er nie die Seiten gewechselt. Da er stets um Erkenntnis rang und verschiedene Denkansätze in ihrem Zusammenwirken und auseinander Hervorgehen zu würdigen wusste, war er ein Freigeist auf hohem Niveau, der sich von Dogmen nicht einschränken ließ. Obgleich er aus seiner kommunistischen Überzeugung nie einen Hehl machte, pflegte er langjährige Freundschaften mit Menschen aus bürgerlichen Kreisen, die seine Kompetenz und Verlässlichkeit wertschätzten. Und weil er nie ein Betonkopf war, der Weisungen von oben über das eigene Nachdenken stellte oder sich wohlbegründete Überzeugungen verbieten ließ, eckte er immer wieder auch in der eigenen Partei an.
Holz wusste ein Lied davon zu singen, was es heißt, hüben wie drüben in Ungnade zu fallen. Sein Versuch, an der Universität Mainz zu promovieren, scheiterte 1954 an einem tiefgreifenden politischen Dissenz. Ein zweiter Versuch mit der Option auf Habilitation führte an der Karl-Marx-Universität Leipzig unter dem Philosophen Ernst Bloch zum Erfolg. Da dieser jedoch 1956 keine Promotionsurkunde mehr ausstellen durfte, weil er bei der DDR-Führung in Ungnade gefallen war, wurde Holz erst 1969 promoviert.
In den 1960-er und frühen 1970-er Jahren gehörte Holz zu jenen kommunistischen Intellektuellen, die gegen orthodoxe Erstarrungen die Pluralität des marxistischen Denkens im Bewusstsein hielten. Er wies auf die Bedeutung Antonio Gramscis und Palmiro Togliattis hin, die die Allgemeingültigkeit des sowjetischen Weges zum Kommunismus in Frage stellten. Auch betonte er die Bedeutung der damals im sowjetischen Kommunismus verfemten Philosophen wie Georg Lukács und Ernst Bloch und wollte nach dem Bruch zwischen der Sowjetunion und China auch das Werk Mao-Tse-Tungs als einen der vielen nationalen Wege zum Sozialismus verstanden wissen. Die Lehre vom Polyzentrismus nehme das Denkmodell der europäischen Metaphysik, die Mannigfaltigkeit in der Einheit, wieder auf.
Widerspruch erfuhr Holz bei dem Versuch, die Ontologie wieder in den marxistischen philosophischen Diskurs einzuführen, vor allem im Rückgriff auf Leibniz. Kritiker sahen darin die Gefahr eines Abweichens vom konsequent materialistischen Standpunkt. Diese werde deutlich in seinem Werk Weltentwurf und Reflexion (2005). Hier entwickele Holz die Kategorie der Widerspiegelung als Metapher einer Seinsstruktur anstatt eines sinnlich-materiellen Vorgangs. Widerspiegelung sollte bei Holz den Wirkungszusammenhang der materiellen Vielheit als universelles Reflexionssystem modellieren und die Besonderheit des menschlichen In-der-Welt-Seins als Moment des allgemeinen Naturverhältnisses begründen.
Metschers einleitender Beitrag im vorliegenden Band entzieht sich dem, was im Bereich wissenschaftlichen Denkens noch als zulässig gilt. Der Form nach ist es eine Montage, ein Stück philosophischer Literatur, das sich der poetischen Collage bedient. Wie er dazu anmerkt, würden kundige Leser die Anspielungen und versteckten Zitate zu entschlüsseln wissen. Der Text sei ein Dokument einer poetischen wie politischen, um nicht zu sagen persönlichen, ja existenziellen Betroffenheit und für ihn das einzige Medium, seine Solidarität mit dem philosophischen Schriftsteller Holz auszudrücken. Er trägt den Titel: Babij Jar. Der Spiegel des Sees und die Form des Gedankens. Lyrische Montage. (In Memoriam Hans Heinz Holz)
Die Theorie des Bewusstseins ist noch immer ein Desiderat marxistischen Denkens, schreibt Metscher, wobei Bewusstsein meist unter dem Gesichtspunkt des Ideologischen behandelt werde. Dabei werde meist vergessen, dass Ideologie zwar eine notwendige Form menschlich- gesellschaftlichen Bewusstseins, dieses aber mehr als Ideologie ist. Dieses "Mehr" sei sogar eine Voraussetzung, dass so etwas wie Ideologie und "mehr als Ideologie" überhaupt existieren und wahrgenommen werden kann. Ein Buch wie das vorliegende, das sich mit der Frage menschlich-gesellschaftlichen Bewusstseins befasst, sei so wenig ideologisch reduzierbar wie es auf der anderen Seite der Medaille zeitgenössischen Denkens in seinen Erkenntnissen neurophysiologisch reduzierbar ist. Die Analyse des physiologisch- materiellen Trägers von Bewusstsein erklärt nicht das menschlich- gesellschaftliche Bewusstsein in Gestalt seiner Inhalte und gesellschaftlichen Erscheinungen. Bewusstsein lässt sich allein "phänomenal" in seinen Tätigkeiten, Produktionen und Rezeptionen aus der Vielgestalt seiner Formen und in diesem Sinne ontologisch erschließen als Wirklichkeitsform und struktureller Bestandteil des geschichtlichen Ensembles gesellschaftlicher Verhältnisse. (S. 20)
Der Mensch ist, nach Marx, "bewusste Lebenstätigkeit" - "freie bewusste Tätigkeit". Bewusstsein gehört wesensmäßig zum menschlichen Sein, und so wenig es Bewusstsein ohne Sein gibt, so wenig gibt es menschliches Sein ohne Bewusstsein. Bewusstsein als menschliches ist unmittelbar als Sprache gegeben und lebenspraktisch präsent im Wissen des Alltags. Es ist konstitutiver Bestandteil menschlicher Arbeit, menschlicher Tätigkeit überhaupt. Es existiert in Gestalt eines welterschließenden Logos, der Bedingung menschlicher Reproduktion wie kultureller Weltbildung ist. Es existiert als Denken zwischen den Polen von Metapher, Symbol und Begriff. Es existiert in den historischen Weltanschauungssystemen von Mythos, Religion, Kunst und Philosophie wie auch in der Form von Wissenschaft. Und es hat im Kontext seiner sozialen Genese, Funktion und Wirkung den Charakter von Ideologie.
Um diese Vielfalt der ontologischen Formen von Bewusstsein theoretisch zu fassen, wird hier der Begriff des "Logos" gebraucht, der nach Metschers Auffassung die größte Bedeutungsbreite des uns zur Verfügung stehenden Wortfeldes besitzt. Das Wort "Ontologie" steht für das Seiende im Ganzen, und so unternahm der Autor bereits in seinem Buch Logos und Wirklichkeit. Ein Beitrag zu einer Theorie des gesellschaftlichen Bewusstseins (2010) den Versuch, Bewusstsein als omnipräsentes Phänomen menschlichen Seins, Teil materieller menschlicher Lebenstätigkeit zu behandeln, seinen Ort im geschichtlichen Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse zu bestimmen, es als Element dieses Ensembles zu erklären und abzuleiten. Diese Vorgehensweise zielte also auf so etwas wie eine materialistische Ontologie des gesellschaftlichen Bewusstseins ab - ganz im Sinne der Gespräche mit Hans Heinz Holz.
Wie Thomas Metscher betont, bewege sich sein Beitrag im Erbe des Holzschen Denkens. Er verstehe sich also nicht als dessen Kritik, sondern als dessen Weiterentwicklung. Seiner Auffassung nach handelt es sich beim Marxismus im hier entwickelten Verständnis um eine philosophisch begründete Form kohärenten begrifflichen Wissens, die auf ein perspektivisches Ganzes der Welterkenntnis zielt. Von wesentlicher Bedeutung bleibt indessen, dass sein ultimatives Ziel nicht die Erkenntnis, sondern die Veränderung der Welt ist, nämlich eine Veränderung zum Zweck der Errichtung einer menschenwürdigen Gesellschaft. Philosophisch begründet sei dieses Denken, weil es seine Voraussetzungen reflektiert, weil es methodisch verfährt, weil seine Argumente aus Gründen erfolgen. Die Gründe dieses Denkens sind empirisch überprüfte und überprüfbare Prinzipien. Weltanschauung ist der Marxismus, insofern er eine Sicht auf Welt entwirft, die diese in Bezug auf den Menschen im ganzen erfasst - als Theorie des Gesamtzusammenhangs.
Diese Sicht des Marxismus schließt an das Denken von Hans Heinz Holz an, der wie kein Zweiter seiner Generation den Begriff des Marxismus als philosophische Theorie des Gesamtzusammenhangs ausgearbeitet hat. Die Konstruktion des Gesamtzusammenhangs ist ihm das eigentliche Feld der theoretischen Philosophie, ohne den sie ihre anderen Leistungen nicht begründen, nicht in einer wissenschaftlichen Weltanschauung fundieren könnte. Im abschließenden Beitrag des Buches legt der Autor neben der Klärung dieses Sachverhalts den Versuch einer kategorialen Konkretion vor. Er hält diese für notwendig, weil der Begriff des Gesamtzusammenhangs im Holzschen Denken, seiner Schlüsselstellung ungeachtet, auf der Ebene einer hohen Abstraktion verbleibt, seine Bestimmung in ihm also keineswegs erschöpft ist. Metscher schlägt vor, zwischen fünf kategorialen Ebenen des Gesamtzusammenhangs zu unterscheiden, nämlich Alltag, Gesellschaft/gesellschaftliche Formation, Geschichte, menschliche Welt und Natur sowie Wirklichkeit als das "Seiende im Ganzen". Ihnen zugeordnet sind erweiternde Überlegungen zur Genesis elementaren Weltwissens, zur Dreidimensionalität der geschichtlichen Wirklichkeit, zum Begriff der Kultur wie auch zum Verhältnis von Marxismus und Religion.
Die Frage nach Sein und Bewusstsein war eine zentrale Frage der Gespräche zwischen Hans Heinz Holz und Thomas Metscher. Der vorliegende Band lässt erahnen, wie zugewandt und fruchtbar sich diese Zusammenarbeit gestaltet hat. Und mehr noch: Dass das letzte Wort über die Errichtung einer menschenwürdigen Gesellschaft in der Tat noch nicht gesprochen ist.
30. Mai 2023
Thomas Metscher
Sein und Bewusstsein
Ontologische Reflexionen
Mangroven Verlag, Kassel 2023
337 Seiten
25,00 EUR
ISBN 978-3-946-94632-8
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 179 vom 22. Juli 2023
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