Friedhelm Klinkhammer, Volker Bräutigam
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist am Ende
Aber ein Ende ist nicht in Sicht
Buchcover: © by Verlag fifty-fifty
Gesellschaftliche Verhältnisse, die auf einer fundamentalen Widerspruchslage gründen und deren Fortbestand sichern, bedürfen eines hoch entwickelten Arsenals materieller Zwangsmittel und struktureller Verfügung. Um die unabdingbare Beteiligung der ihnen unterworfenen Menschen zu gewährleisten, zählt zugleich der Kampf um die Deutungsmacht zu den zentralen Achsen der Herrschaftssicherung. Das gilt auch für die Gesellschaft der Bundesrepublik, deren Staatsräson nach innen und außen mittels einer unablässigen ideologischen Zurichtung innovativ zugespitzt und eingeprägt wird. So werden auf dem Stand aktueller Auseinandersetzungen und darüber hinaus in Vorwegnahme angestrebter Zukunftsentwürfe Deutungsmuster produziert, die Akzeptanz schaffen und Widerstand aus dem Feld schlagen sollen.
Als noch von konkurrierenden Gesellschaftssystemen und einflussreichen Gegenbewegungen die Rede sein konnte, also die Existenz widerstreitender Grundauffassungen präsent und weithin bewusst war, ließ sich die Einflussnahme noch im klassischen Sinne als Propaganda charakterisieren. Das schloss bekanntlich die Desinformation ein, von der massiv Gebrauch gemacht wurde, doch hatte zugleich noch das Wissen um eine zumindest potentiell mögliche Gegenposition Bestand. Im Zuge des Untergangs der realsozialistischen Staatengemeinschaft, eines Niedergangs der deutschen Linken wie auch der Befriedung gewerkschaftlicher Kämpfe nahm eine Phase innovativer Deutungsmacht Gestalt an, die sich als Übergang zur Denkkontrolle ausweisen ließe. So erklärte der proklamierte Sieg im Kampf der Systeme die kapitalistische Wirtschaftsweise zur einzig gültigen Gesellschaftsordnung und alle davon abweichenden Modelle für obsolet. Gemäß einer Vorstellungswelt, in der antikapitalistische Ansätze als entsorgt gelten, scheinen radikale Gegenentwürfe nicht mehr zu existieren, bis sie schließlich nicht einmal mehr gedacht werden, da sie hinter dem Horizont vermeintlicher Realität verschwunden sind.
Weil die Gewalt der herrschenden Verhältnisse zahllosen Menschen existentielle Nöte beschert, bedurfte die Durchsetzung dieses Befriedungsprozesses einer neoliberalen Durchdringung aller Lebensbereiche bis hinein in die körperliche Verfassung. Aus den eskalierenden Krisen der Kapitalverwertung geboren, erklärte diese Strategie zur Zertrümmerung vorhandener Blockaden, die der nächsthöheren Stufe der Zurichtung und Ausbeutung im Wege standen, den sogenannten Markt und seine angeblichen Gesetze zur ausschließlichen Bühne menschlichen Verkehrs, der gegenüber soziale gesellschaftliche Bezüge irrelevant seien. Die Verantwortung des Staates für seine Bürgerinnen und Bürger wurde Zug um Zug abgebaut, kollektive Organisationsformen schwanden, der Mensch wurde individualisiert auf sich zurückgeworfen und als konkurrierendes Marktsubjekt selbst für sein Schicksal verantwortlich gemacht.
Dabei ging der massive materielle Umbau der Gesellschaft etwa durch die Agenda 2010 und Hartz IV, die Gesundheitsreform wie auch viele weitere soziale Grausamkeiten Hand in Hand mit der ideologischen Okkupation und Verengung des Bewusstseins. Ausweglos anmutende Lebensverhältnisse korrespondieren mit einer Einschränkung des Denkens, die nicht mehr als solche wahrgenommen wird. Die erschreckende Diskrepanz zwischen dem Hereinbrechen multipler Krisen und der kaum noch vorhandenen Befähigung zu einer fundierten und radikalen Auseinandersetzung mit den wesentlichen Zusammenhängen und Entwicklungen ist in diesem Sinne das Resultat eines komplexen, gezielt vorangetriebenen Prozesses der Herrschaftssicherung im Kontext schwerster Verwerfungen menschlicher Existenz.
Die Autoren des vorliegendes Buches, die seit Jahren den Niedergang des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ÖRR) als sachkundige Kritiker publizistisch verfolgen, wissen aus eigener beruflicher Erfahrung, wovon sie reden. Der Jurist Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, war von 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin. Der Redakteur Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, war von 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 an in der Kulturredaktion für N3 und danach Lehrbeauftragter an der Fu-Jen-Universität in Taipeh. Beide können daher klar und dezidiert darlegen, was sich seither zu Lasten einer relativ freien und unabhängigen Meinungsbildung verändert hat. Genoss der öffentlich-rechtliche Rundfunk in seinen Anfangsjahren in der jungen Bundesrepublik noch beträchtliches Ansehen, da er seiner Aufgabe, nämlich einer öffentlichkeitswirksamen Kontrolle der Politik, zumindest in nennenswerten Ansätzen nachkam, kann heute selbst davon keine Rede mehr sein.
Nach Auffassung der Autoren muss man vielmehr von einem Staatsfunk sprechen, der den Mythos vom unabhängigen Qualitätsjournalismus lediglich vorhält. Wie sie anprangern, sei dieses Nachrichtenangebot längst nicht mehr kritisch-distanziert, sondern anbiedernd-konformistisch, durchsetzt von Meinungsmache, einer trügerischen Mixtur aus Halbwahrheiten, Weglassung und Schönfärberei bis hin zur Falschdarstellung. Der Bruch mit dem verfassungsmäßigen Programmauftrag und den anerkannten journalistischen Grundsätzen sei nicht mehr zu leugnen. Die Berichterstattung entspreche nicht den Anforderungen der Kommunikationsfreiheit und der im Rundfunkstaatsvertrag festgehaltenen Bildungs- und Informationsverpflichtung, den Geboten der vielfältigen und freien Meinungsbildung, der unabhängigen Berichterstattung und Staatsferne.
Klinkhammer und Bräutigam gehen in ihrem Abgesang auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie gewohnt scharfzüngig und gewollt provokativ zur Sache, um ihre Leserschaft aus der Reserve zu locken. Wenngleich man die nicht selten harsche und teils übergriffige Wortwahl und Stoßrichtung nicht teilen muss, trägt es doch zum Reiz des Buches bei, dass maßgebliche prominente Akteure und Profiteure aus Medien und Politik auch persönlich angegangen werden, wenn die machtlüsternen und geldwerten Bestrebungen und Verfilzungen ans Tageslicht kommen. Und dass die Autoren im Trommelfeuer ihrer Argumente den Nachweis ausgiebig recherchierter Quellen nicht schuldig bleiben, zeigt schon der mit 43 Seiten bemerkenswert umfangreiche Anhang des Buches.
Wenngleich ihn die Finanzierung mittels Beitragspflicht unabhängig von der Profitorientierung der Privaten macht, fällt der ÖRR ungeachtet dieses Vorteils doch hinsichtlich seines journalistischen Auftritts oftmals noch hinter seine kommerziellen Konkurrenten zurück. Zöge man neben dem Pressekodex auch die Münchner Erklärung der Pflichten und Rechte von Journalisten als Maßstab heran, so verlangen diese eine neutrale und umfassende Berichterstattung, Widerstand gegen Zensurversuche sowie Distanz zu den Mächtigen. Solche Prinzipien seien entscheidend, wenn die Medien der ihnen zugedachten Rolle als vierte Gewalt, mithin als demokratieschützendes Korrektiv, gerecht werden wollen. Auf welch eklatante Weise die Berichterstattung der Tagesschau guten Journalismus vermissen lässt, belegen die Autoren anhand einer Auswahl von ihnen in jüngerer Zeit publizierter Beiträge, die nun auch in diesem Band zusammengeführt worden sind.
Der aktuellen Entwicklung geschuldet machen Beispiele im Kontext des Krieges in der Ukraine den überwiegenden Teil der vorgetragenen Medienkritik aus. Die mit diesem Konflikt einhergehende extreme Polarisierung hat dazu geführt, dass die Staatsnähe des ÖRR immer uneingeschränkter und unverhohlener zu Tage tritt. Journalistische Standards wie etwa auch die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen, selbst wo man ihre Auffassung nicht teilt, eine Deeskalation zu befördern oder gar die eigene Position selbstkritisch zu prüfen, haben ausgedient. Kontroversen werden nicht länger argumentativ ausgetragen, sondern laufen auf eine vollständige Diskreditierung des proklamierten Feindbildes hinaus, das es im Dienste dieser Ratio brachial niederzumachen gilt.
In welchem Maße die Redaktion ARD-aktuell Selbstzensur übt, indem sie Informationen unterschlägt, problematische Fakten verschleiert, Zusammenhänge verzerrt darstellt und auf Gegenrecherche verzichtet, belegt unter anderem der Umgang mit dem Verbot des russischen Senders RT DE (vormals Russia Today). Unter dem Vorwurf, dieser Sender verbreite im Auftrag des russischen Staates Desinformation, wurde mit ihm per Abschaltung kurzer Prozess gemacht. In Reaktion darauf schloss Russland das Büro der Deutschen Welle in Moskau. Weit davon entfernt, der Zensur per Verbot von RT DE und dessen fragwürdiger Durchsetzung in einem Eintreten für die Pressefreiheit etwas entgegenzusetzen, bekräftigte der ÖRR die angebliche Notwendigkeit und fabrizierte Rechtmäßigkeit der Maßnahme.
Ist es um den Widerstand gegen Zensurversuche schlecht bestellt, was auch anhand einer Reihe weiterer Beispiele nachgewiesen wird, so gilt das nicht minder für die journalistische Anforderung, möglichst unvoreingenommen zu Werke zu gehen und dabei viele Blickwinkel zu berücksichtigen. Zu "sagen, was ist", würde also bedeuten, dem Publikum eine differenzierte Sicht auf einen Sachverhalt wiederzugeben, so dass es sich sein eigenes Bild machen kann. Natürlich steht es dem Journalisten oder der Journalistin frei, die eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen, doch sollte diese klar kenntlich gemacht und nicht mit der Berichterstattung verwoben werden. Auch in dieser Hinsicht legen die Autoren mittels verschiedener Fälle dar, dass beim ÖRR von anerkannten journalistischen Grundsätzen immer weniger die Rede sein kann.
So wird beispielsweise im Kontext der forcierten Gegnerschaft zu China von eskalierenden Angriffsmanövern der chinesischen Luftwaffe auf Taiwan berichtet, was den Eindruck erweckt, dessen Luftraum werde ein ums andere Mal verletzt. Dabei würde oftmals schon ein Blick in den Atlas zeigen, wie weit entfernt von der Insel sich der Vorfall abgespielt hat. Berichtenswert wäre überdies, dass die von Taiwan beanspruchte Luftverteidigungszone weit in das chinesische Festland hineinragt, sich also mit dem Hoheitsgebiet der Volksrepublik überschneidet. Darüber aufzuklären könnte ebenso der Deeskalation dienen wie eine Warnung vor der Präsenz westlicher Kriegsschiffe nahe der chinesischen Küste, die ein Szenario fortgesetzter Bedrohung aufrechterhält. Doch auch an dieser proklamierten Front steht der ÖRR im Schulterschluss mit deutscher Regierungspolitik Gewehr bei Fuß. Das und vieles mehr zeugt davon, in welchem Maße das Gebot einer neutralen und umfassenden Berichterstattung unter die Räder gekommen ist.
Journalismus könnte allenfalls dann als Wachhund der Demokratie fungieren, wenn er Abstand zu den Mächtigen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hält. Beim ÖRR besteht jedoch schon institutionell eine Verflechtung mit den Entscheidungsträgern der Politik, und zum Einfluss der Parteien in den Rundfunkräten gesellt sich ein reger personeller Austausch zwischen Politik und Medien. Wie handzahm die Funkhäuser geworden sind, wird unter anderem am Beispiel der Parteienfinanzierung illustriert. Geht es um die Schattenwirtschaft der Parteien, tritt investigativer Journalismus lediglich gegen die AfD auf den Plan, während die Platzhirsche bei ihren dubiosen Geschäften mit Gefälligkeitsjournalismus rechnen können. Dass in diesem Verhältnis offenbar eine Hand die andere wäscht, lassen die außergewöhnlich hoch dotierten Führungsposten bei den Sendern und Landesmedienanstalten vermuten.
Die fehlende Distanz zu den Mächtigen bezieht sich indessen nicht nur auf die deutsche, sondern allgemein auf die westliche und insbesondere die US-amerikanische Politik. Gefeiert wird der bellizistische Furor der Außenministerin, die in engem Schulterschluss mit Washington "Russland ruinieren" will, kritiklos hofiert die Führung der Ukraine, angetrieben der zögernde Kanzler, selbst die verheerende Wirtschafts- und Klimapolitik eines Robert Habeck wird als letztendlich unvermeidbare Unwucht abgesegnet, wenn die Lasten der "wertebasierten Ordnung" von oben nach unten durchgedrückt werden.
Ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk dabei, sich angesichts seines qualitativen Niedergangs selbst abzuschaffen? Das Publikum geht ihm sukzessive von der Fahne, vor allem die Jugend wendet sich ab. Das Durchschnittsalter des ARD-Zuschauers beträgt bereits 64 Jahre, er schaltet den Fernseher im Schnitt täglich noch gut vier Stunden an. Bei den jungen Altersgruppen ist hingegen seit langem eine stark rückläufige Tendenz zu beobachten, und dieser Trend signalisiert, dass dem ÖRR auf lange Sicht die Daseinsberechtigung verloren geht. Das Bundesverfassungsgericht hat ihm im Laufe der Jahre in einem Dutzend Entscheidungen immer wieder die Haut gerettet, wobei es fast ausschließlich um Struktur- und Sachfragen ging. Früher oder später wird jedoch auch die Qualitätsfrage für seine Fortexistenz entscheidend werden. Im Juli 2018 haben die Richter in Karlsruhe abermals betont, dass ein unabhängiger Rundfunk Voraussetzung für den Bestand der Demokratie sei. Es sei unabdingbar, der Bevölkerung ein umfassendes Programm zur Information, Bildung und Unterhaltung zugänglich zu machen und zu sichern. Die Beitragsfinanzierung ermögliche es, "ohne den Druck von Marktgewinnen die Wirklichkeit unverzerrt darzustellen". Der wachsende Widerspruch zwischen diesem Ideal und dem dramatischen Qualitätsverfall legt jedoch den Schluss nahe, dass bei einem Verbleib auf dem eingeschlagenen Kurs der Krug so lange zum Brunnen geht, bis er bricht.
Bei aller Kritik reden Klinkhammer und Bräutigam wohlgemerkt nicht einer Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks das Wort, den sie im Gegenteil als Gemeinschaftseigentum aller Bürgerinnen und Bürger betrachten. Sie fordern jedoch eine tiefgreifende Reform an Haupt und Gliedern, ohne die ein Kurswechsel nicht herbeigeführt werden kann, und stellen dazu auch konkrete Vorschläge zur Diskussion. Eine scharfe Medienkritik im Dienste einer umfassenden Presse- und Meinungsfreiheit hat nichts mit dem Kampfbegriff der "Lügenpresse" gemein, wie er von rechten Kreisen ins Feld geführt wird. Wenn diese eine angebliche "Gleichschaltung" anprangern, steht ihnen nicht der Sinn nach Vielfalt, fundierter Berichterstattung und tiefgründiger Analyse, sondern vielmehr nach einer Kontrolle der Medien zum Zwecke ihrer totalen Verengung auf die Maßgabe repressivster Nationalstaatlichkeit.
30. Oktober 2023
Friedhelm Klinkhammer, Volker Bräutigam
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist am Ende
Aber ein Ende ist nicht in Sicht
Verlag fifty-fifty, Frankfurt/Main 2023
284 Seiten
ISBN 978-3-946778-45-5
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 180 vom 4. November 2023
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