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REZENSION/778: David J. Chalmers - Realität+ (SB)


David J. Chalmers


Realität+

Virtuelle Welten und die Probleme der Philosophie



Woher wissen Sie eigentlich, dass Sie sich nicht gerade in einer Computersimulation befinden? (S. 15) 

Alles in dem Buch "Realität+" kreist um diese Frage, sie ist Ausgangspunkt für philosophische Exkursionen über Platons Höhlengleichnis und Descartes Dualismus, mäandert durch die unterschiedlichen Technologien der Erzeugung virtueller Erlebniswelten und Arbeitsumgebungen, wagt sich an Grundfragen wie die Existenz Gottes oder des Wesens des Bewusstseins heran, um das Lesepublikum am Ende dennoch etwas ratlos zurückzulassen. Was der in Australien gebürtige, an diversen Hochschulen dort wie in den USA lehrende und heute in New York City lebende Technikphilosoph David J. Chalmers in seinem Anfang 2022 abgeschlossenen und 2023 ins Deutsche übertragene Opus magnum "Realität+" auf 638 Buchseiten ausgearbeitet hat, fordert den LeserInnen einiges an Aufmerksamkeit und Durchhaltevermögen ab.

Die Mühen der Ebene aufzubringen - so viel sei bereits verraten - empfiehlt sich schon deshalb, weil das nicht mit den unterirdischen Flüssen futuristischer Ideologieproduktion vertraute Publikum selbst im spröden Duktus technophiler Narrative etwas darüber erfährt, was im Rahmen der stürmischen Entwicklung Künstlicher Intelligenz an gesellschaftlichen und kulturellen Zumutungen auf der Strecke liegt. Würde Chalmers nicht die Seriosität seines akademischen Berufsstandes vorhalten, könnte sein voluminöses Elaborat durchaus als Beispiel für eine affirmative, mitunter ins quasireligiöse kippende Vision einer Zukunft in informationstechnisch ermöglichten, durch artifizielle Intelligenz dynamisch expandierenden Welten dienen.

Dabei hat die im Untertitel angekündigte "philosophische Reise durch virtuelle Welten zur Natur der Realität" mit allerhand Aporien zu kämpfen, die sich aus dem Vorrang spekulativer Mutmaßungen und der Abwesenheit einer Kritik an jenen Personen und Institutionen ergeben, die technologischen Fortschritt als notwendigen Treiber kapitalistischen Wachstums propagieren. So verläuft die Reise durch das unwegsame Gelände einer terminologischen Komplexität, die bei aller Redundanz nicht verhindern kann, dass sich der klare Blick vom Gipfel der Berge einfach nicht einstellen will. Diese bleiben von tiefliegenden Wolken verhüllt, und selbst die Aussicht auf den imaginären Horizont, hinter dem es weitergehen soll, löst das Versprechen, das Mehr im Weniger der titelgebenden Plusmacherei preiszugeben, nicht ein.

Am besten auf die Lektüre vorbereitet sind daher diejenigen, die sich aus ideologiekritischer Sicht aufmachen, vor der überbordenden Komplexität auf unzähligen binären Schaltern errichteter Welten nicht zu kapitulieren, sondern diese sicheren Schrittes anhand der Frage, auf welchen Voraussetzungen die Postulate des Autoren basieren, zu erschließen.

Je zentraler die Kategorien epistemologischer Terminologie, desto höher liegt die Schwelle begrifflicher Präzision und Widerspruchsfreiheit. Was Chalmers mit Ausführungen zu "Bewusstsein", "Wirklichkeit" oder "Wahrheit" zu erklären versucht, ist mit dem über viele Jahrhunderte angewachsenen Gewicht menschlicher Erkenntnis in Philosophie, Religion und Wissenschaft befrachtet, das jedoch kaum mehr zum Verständnis beiträgt als die Immaterialität des Gegenstandes im Vertrauten und Bekannten zu verankern.

So wird Bezug genommen auf bewährte Stationen der Entwicklung des Denkens wie das berühmten "Cogito, ergo sum", anhand dessen Rene Descartes den Beweis zu führen versuchte, dass bei allem Zweifel die letzte Bastion rationaler Vergewisserung im eigenen Denken besteht. Dennoch kam er nicht ohne Gott aus, dessen Evidenz den Ausschlag für die Gültigkeit seiner These gab. Wenn schon der Urvater rationaler Reflexion von jenseitiger Sinnstiftung nicht lassen kann, dann gilt das erst recht an der Schwelle zu Existenzformen, die in der Lage sein sollen, es sich in den binären Strukturen eines Speichermediums gemütlich einzurichten.

Um philosophische Grundannahmen zu untersuchen hat Chalmers Philosophie und Kognitionswissenschaften studiert, über Jahre des Forschens am Problem des Bewusstseins den Ruf einer führenden Kapazität auf diesem Gebiet erlangt und sich dann informationstechnisch induzierten virtuellen Welten gewidmet, denen er im vorliegenden Buch ein Echtheitszertifikat ausstellt. Den Beweis zu führen, dass sich ein Leben in einer solchen Wirklichkeit nicht vom vertrauten physischen Dasein unterscheiden muss, dient weniger der Untermauerung spitzfindiger Spekulationen, als dass der Autor von ganz praktischen, aktuellen gesellschaftlichen Interessen motiviert zu sein scheint.

Wie das Pluszeichen im Titel verspricht, klopft Chalmers nicht nur uralte erkenntnistheoretische Fragen auf ihre Anwendbarkeit für das Zeitalter des digitalen Kapitalismus ab, sondern untermauert mit ihnen die Relevanz abenteuerlicher Innovationen, die seiner Prognose nach zu einer Vervielfältigung der Realität führen:

Jede virtuelle Welt ist eine neue Realität: Realität+. Augmented Reality ist eine Ergänzung der Realität : Realität+. Manche virtuellen Welten sind genauso gut oder sogar besser als die normale Realität: Realität+. Falls wir uns in einer Simulation befinden, gibt es mehr Realität, als wir dachten: Realität+. Es wird einmal ein Sammelsurium verschiedener Realitäten geben: Realität+. (S. 18) 

Seine "Technophilosophie" soll "Technik zur Beantwortung traditioneller philosophischer Fragen" (S. 19) nutzen, also den Gegenstand philosophischer Untersuchung zur Voraussetzung derselben machen. Die Entwicklung informationstechnischer Artefakte und ihrer Extrapolation in ferne Zukünfte wird a priori als Anfangspunkt von Überlegungen gesetzt, für die Erwägungen grundsätzlicher Art wie etwa eine strikte Regulation der Zurichtung aller Lebensformen und Tauschverhältnisse auf mikroelektronische Produktionsweisen oder gar eine Rückkehr zu wachstums- und technologiekritischen Formen der Vergesellschaftung ausgeschlossen werden. In der starken Redundanz seiner Thesen erweist sich das Propagieren eines vermeintlichen Zugewinns aus Technologien, die sich monokausal auf die Gültigkeit bestimmter kognitiver Subjektivität berufen, als philosophisches Äquivalent zu jener Pfadabhängigkeit, die bei einmal beschrittenen Entwicklungen neuer Technologien zu problematischen Folgen aller Art führen kann.

Bei Fragen wie "Woher wissen wir, dass überhaupt etwas real ist?" (S. 31) gesteht Chalmers zwar zu, dass es für deren Beantwortung letztendlich keine absolute Gewissheit geben kann, dennoch wird nicht darauf verzichtet, sie mit Mitteln empirischer Evidenz und probabilistischer Verhältnismäßigkeit so plausibel erscheinen zu lassen, dass sie kein Hindernis bei der moralisch-ethischen Legitimation neuer Technologien mehr darstellen. Mit diesem vielfach variierten Argument verbleibt er unterhalb der Schwelle dessen, die Grenzen der Erkenntnis durch eine Methodik, die keine Offenlassungen akzeptiert, überhaupt erst hervortreten zu lassen.

Heraus kommt eine Aneinanderreihung von Relativierungen und Glaubensbekenntnissen, die danach fragen lassen, wieso überhaupt Fragen beantwortet werden sollen, die im besten Sinne Fragen blieben, um einen relevanten Umgang mit der Widersprüchlichkeit von Theorie und Praxis zu haben. So erzeugt ihre aller Unbestimmbarkeit trotzende Beantwortung gerade das, was angeblich nicht Ziel des Bemühens sein soll, ein endloses Kreisen um Postulate, von denen bald niemand mehr weiß, warum sie überhaupt in die Welt gesetzt wurden.

Anwürfen wie diesen hält David J. Chalmers entgegen:

Ich sehe die Dinge folgendermaßen: Unser Geist ist zwar Teil der Wirklichkeit, doch es gibt auch einen großen Teil der Wirklichkeit, der sich außerhalb unseres Geistes befindet. Die Realität enthält unsere Welt; und vielleicht enthält sie noch viele andere. Wir können neue Welten und neue Teile der Realität erschaffen. Wir wissen ein wenig über die Wirklichkeit Bescheid und können versuchen, mehr über sie zu erfahren. Vielleicht gibt es aber Teile davon, die wir nie erkennen werden.
   Vor allem aber: Die Wirklichkeit existiert, und zwar unabhängig von uns. Es kommt auf die Wahrheit an. Es gibt Wahrheiten über die Realität, und wir können versuchen, sie herauszufinden. Selbst im Zeitalter multipler Realitäten glaube ich immer noch an die objektive Realität. (S. 25) 

Ein Glaubenspostulat, das etwas vermeintlich Unbezweifelbares zum Gegenstand hat, ist ein ebenso unaufhebbarer Widerspruch wie zu behaupten, etwas existiere unabhängig von etwas, kommt die Negation der Abhängigkeit doch nicht ohne diese Bezugnahme aus. Das gilt erst recht, wenn der als von uns unabhängig postulierte Gegenstand ein ontologischer Selbstgänger wie "die Wirklichkeit" sein soll, von der im Fall unterstellter existenzieller Eigenständigkeit nichts gewusst werden könnte. Immer wieder verfällt der Autor auf Totalitäten, die nach ihrer nur von einem anderen Standort aus vorzunehmenden Objektivierungt verlangen. Das Unendlichkeitsmerkmal dieser dualistischen Struktur muss sich reproduzieren, wenn die unterstellte Totalität nicht an Aussagelosigkeit scheitern soll.

Der Wechsel der Perspektiven ist ein zentraler Produktivfaktor des Technophilosophen, seine Theoriebildung kommt ohne konsensuelle Seinsbehauptungen und deren metaphysische Stabilisierung nicht aus, dementsprechend bringen seine Gleichungen Unbekannte hervor, die ihrerseits perspektivischen Raum für Spekulationen eröffnen. Ohne die prinzipielle Reduktion seiner Weltwerdungsformeln auf kognitive Prozesse und deren technische Surrogate würde schnell deutlich, dass die beanspruchte Konsistenz seiner Argumente an unüberprüfbaren Seins- und Wissenspostulaten scheitern, etwa bei dem Versuch, so etwas wie Raum virtuell darzustellen, was weder innererhalb noch außerhalb der Simulation funktioniert, wenn Raum nicht über seine Begrenzung bestimmt wird.

Es ist ebensoschwer einzusehen, woher wir wissen können, dass die Außenwelt einen echten RAUM enthält, denn eine strukturell identische Welt ohne einen solchen RAUM könnte in uns die gleichen Erfahrungen hervorrufen wie eine mit RAUM. Viel einfacher ist es zu wissen, dass irgendetwas die Rolle des Raums spielt, und dies ist dem strukturellen Begriff des Raums zufolge ja alles, was es braucht, damit es einen Raum gibt. (S. 544) 

Räumliche Projektion setzt perspektivische Aussichten frei und ermöglicht imaginäre Fluchten, die in komplexen Architekturen, sozialen Bündnissen, gesellschaftlichen Versprechen wie kapitalistischen Verwertungslogiken zur Geltung gelangen. Raum braucht nicht vorausgesetzt werden, er wird ständig hergestellt in der Abstraktion eines Überlebensinteresses, das nicht zuletzt die Konstruktion virtueller Welten als akzeptables Substitut für das bisherige Leben propagiert. Mit der Elimination jeder Raumvorstellung auf eine physische Realität zu stoßen, die Probleme ganz anderer Art hervorbringt als die perspektivische Erweiterung eigener Imagination, könnte als praktische Gegenposition zu den virtuellen Projektionen des Autors verstanden werden. Die unhintergehbare Materialität physischer Existenz machte schnell klar, worin das subjektive Interesse an Virtualität vor allem gründet. Wäre eine Simulation in der beanspruchten Quantifizierbarkeit von Wirklichkeit tatsächlich "realer", dann wäre es dort nicht anders, dann stellten sich grundlegende Fragen völlig unabhängig von ihrer technischen Bemittelung.

Die Aufrechterhaltung geteilten Lebens zu Lasten anderer Bioorganismen ist mit der Beendigung des Teilens und Zählens, ob beim Aufspüren immer kleinerer Basiselemente der Materie oder der Expansion in unendliche Weiten, unvereinbar. Um so vorbehaltloser verallgemeinert der Autor Differenzierungen und Harmonisierungen, Inklusionen und Externalisierungen, Vergleiche und Wiederholungen zur strukturellen Matrix der Wirklichkeit dieses Buches. Wenn für Chalmers die physische Welt "vollständig in logischen und mathematischen Begriffen beschreibbar" (S. 510) sei, also kein Rest an Unbekanntem und Unerschlossenem bleibt, hält er praktisch den Schlüssel zu ihrer identischen Reproduktion in der Hand. Wenn durch die Wiederholbarkeit bestimmter Muster erwirtschaftete Strukturen den Bauplänen jener virtuellen Welten zugrunde gelegt werden, die Chalmers schließlich in eine regelrechte Taxonomie integriert, dann setzt er sich auf den Thron jenes Demiurgen, in dem die antike Philosophie den Urheber welcher Welten und Truggebilde auch immer sah.

Die philosophische Erkenntnis aus dem Bauch des Wales, dem informationsindustriellen Komplex, bringt mithin Ordnungen der Verfügbarkeit hervor, ohne die die Zurichtung menschlicher Imaginationsfähigkeit auf ihre Eignung für ein Leben in Virtualität nicht gelingen kann. Die von Chalmers unterstellte Austauschbarkeit simulierter Welten inklusive der als "echt" ausgewiesenen ist anschlussfähig für das politische und gesellschaftliche Interesse, Menschen in wachsendem Maße auf Maschinen zuzurichten, die Leben und Arbeiten erheblich beeinflussen wenn nicht vollständig bestimmen.

Damit erklärt sich der argumentative Aufwand, den der Autor betreibt, um die moralischen, ethischen und epistemologischen Bedingungen des Lebens in virtuellen Realitäten zur Reife ihrer normativen Setzung zu treiben, als bestände längst Handlungsbedarf in diese Richtung. Seiner Ansicht nach werden sich immer mehr Menschen "aus freien Stücken dazu entscheiden, den größten Teil ihres Lebens in der VR zu verbringen" (S. 415). Dem hinzuzufügen, dass "niemand in die VR hineingezwungen werden" sollte und er davon ausgehe, "dass die Entscheidung für oder gegen die VR eine freie Entscheidung" auch dann sein werde, wenn "der virtuelle Realismus mit zunehmender Qualität virtueller Welten allmählich zu einer Selbstverständlichkeit werden wird" (S. 415), führt den LeserInnen vor Augen, dass der Autor längst mit der Durchsetzbarkeit einer gesellschaftlichen Zukunft befasst ist, die den meisten noch als pure Science Fiction erscheint.

Der Weg dorthin ist bereits ausgeschildert: "Die allgegenwärtige Kopplung von Mensch, Smartphone und Internet war ein gewaltiger Schritt auf dem Weg zur Erweiterung des Geistes" (S.387). Über die informationstechnische Einbindung menschlicher Wahrnehmung mittels Augmented Reality, mit Hilfe derer sich Informationen und Gegenstände in die kognitive Wirklichkeit des Individuums integrieren lassen, und deren physische Verankerung durch Gehirn-Computer-Schnittstellen führt der Weg weiter zum "Mind Uploading", das den Vorgang beschreibt, "unseren Geist von einem biologischen Gehirn auf einen digitalen Computer zu übertragen" (S. 361). In der seit längerem zumindest in Tech-Kreisen geführten Debatte über die sozialen und gesellschaftlichen Folgen des vollständigen Übertragens eines individuellen Bewusstseins auf einen Datenspeicher positioniert sich der Technophilosoph als Befürworter eines solchen Entwicklungsschrittes:

Natürlich müssen wir damit rechnen, dass jede Technologie Veränderungen zum Guten und zum Schlechten mit sich bringt, doch die Hypothese des erweiterten Geistes zeigt zumindest Möglichkeiten auf, wie AR-Technologien zum Besseren genutzt werden können. Fast alle derartigen Technologien haben das Potenzial, unsere Fähigkeiten zu steigern, aber es liegt an uns, dieses Potenzial zu nutzen. (S. 397) 

Die euphemistische Präsentation vielversprechender technologischer Innovationen mit naheliegenden Bedenken zu moderieren ist ein wiederkehrendes Muster des in der Summe eindeutigen Werbens für das Vollziehen einer Entwicklung, die in Chalmers' Vorstellung mit den Komparativen mehr, weiter und größer angepriesen wird. Ob ein Überleben in informationstechnischen Artefakten unter katastrophalen Bedingungen in der realen Welt, das Hochladen des Bewussteins zur Erzeugung einer vollwertigen Ich-Identität, die Unendlichkeit virtueller Räume als Ausweg aus der physischen Enge der Erde, die Simulation jeder nur möglichen Bewegungsweise oder biologischen Form im eigenen Erleben, es gibt so vieles, was für ein Leben in technischen Simulationen spricht, dass sich Chalmers' Thesen auch als anthropologische Diagnose des Menschen als Mängelwesen, der der informationstechnischen Steigerung durch Cyberprothesen dringend bedarf, lesen lässt.

Zweifellos fasziniert "Reality+" zahlreiche LeserInnen schon aufgrund der hochaufgelösten Untersuchung der Entwicklung immer mächtigerer virtueller Instrumente als auch der Ausbildung maschinenbasierter Intelligenz bis hin zu informationstechnischen Aggregaten digitalisierten Bewussteins. Auch die Diskussion dazu, worum es sich bei dieser Instanz menschlicher Reflexion und Identität handeln könnte, dürfte viele von den intellektuellen Fähigkeiten des Technophilosophen überzeugen. Die zählbare Bemessung sogenannter Intelligenz beeindruckt nicht umsonst Menschen, die einen hohen IQ für einen Beweis evolutionären Fortschritts erachten.

Es gibt jedoch auch eine Gegenposition, die eben das für eine Form administrativer Verfügungsgewalt hält, die das Streben nach Autonomie und die Fähigkeit zu streitbarer Kritik mit dem Mittel der Unterwerfung unter quantitativ evaluierte Leistungsparameter bekämpft. Es gibt Menschen, die die Digitalisierung aller Ökonomie, Produktion und Kultur für einen fatalen Irrweg halten, auf dem die Rationalisierungslogik der Fabrikgesellschaft Triumphe feiert, während Klimakatastrophe, Naturzerstörung und soziale Dystopien auch noch forciert werden. Auch sind keineswegs alle in der Tech-Industrie Beschäftigten von den Segnungen algorithmischer Steuerung ihrer Lebens- und Arbeitsverhältnisse überzeugt, wie die vermeintlichen Segnungen des digitalen Kapitalismus desto mehr als Zumutung empfunden werden, je weniger die jeweiligen Marktsubjekte im sozialchauvinistischen Klima neofeudaler Klassenherrschaft zu melden haben.

Während sich diesem Buch auch viel Interessantes entnehmen lässt wie die anwendungsorientierte Repräsentation des Entwicklungsstandes verschiedener Ansätze zur Verwirklichung virtueller Realität, die kulturhistorischen Hintergründe informationstechnischer Innovationen oder die cineastischen wie literarischen Bezüge, mit denen Chalmers seine Thesen illustriert, tritt die unterbliebene Erwähnung der unter InformatikerInnen, KI-EntwicklerInnen, Tech-UnternehmerInnen und Geistes- und SozialwissenschaftlerInnen seit einigen Jahren anlässlich der Verfügbarkeit hochentwickelter IT-Systeme geführte Debatte um die Zukunftsentwürfe des Transhumanismus und Longtermismus als sprichwörtlicher Elefant im Raum hervor. Sie repräsentieren gewissermaßen die praktische evolutionäre Konsequenz dessen, was im Diskurs über Künstliche Intelligenz, deren Entwicklung in Richtung Singularität und die Ausbildung einer Artificial General Intelligence (AGI) auch im deutschsprachigen Raum öffentlich verhandelt wird.

Die längst ausformulierte Kritik der sozialdarwinistischen, eugenischen, Naturbeherrschung in jeder Hinsicht fordernden Implikationen dieser affirmativen Technikverherrlichung wäre angesichts der von Chalmers selbst entworfenen Zukunftsaussichten und der inhaltlichen Breite seiner Arbeit zumindest der Erwähnung wert gewesen. Was Tech-Entrepreneure wie Elon Musk, Peter Thiel, Marc Andreesen, Reid Hoffmann, Larry Page oder Jeff Bezos mit milliardenschweren Projekten antreiben, was Technophilosophen wie William MacAskill, Eliezer Yudkowsky oder Nick Bostrom propagieren, Neurowissenschaftler wie Demis Hassabis oder Informatiker wie Ray Kurzweil entwickeln, um nur die bekanntesten Namen aus dem Umfeld der unter dem Akronym TESCREAL zusammengefassten Ideologien einer durch radikalen technischen Fortschritt ermöglichten Zukunft zu nennen, ist angesichts des großen Einflusses der darin investierenden Unternehmen auf Politik und Gesellschaft so bedeutsam, dass diese Auslassung für sich selber spricht.

Die angeblich anstehende Kolonisierung ferner Planeten durch eine cyberprothetisch in Richtung Unsterblichkeit optimierte Menschheit basiert zudem auf der Behauptung, für eine wachstumsträchtige Produktivkraftentwicklung des digitalen Kapitalismus seien permanente technologische Innovationen und deren disruptive Wirkung als Movens angeblich konstruktiver Zerstörung unerlässlich. All das verschärft nicht nur ohnehin unerträgliche Klassenantagonismen, sondern richtet sich explizit gegen alle Menschen, die für diese Entwicklung überflüssig gemacht werden. Chalmers scheint diese Konsequenzen technoutopischer Ermächtigung, sofern seine in dem Buch bezogenen Positionen überhaupt so etwas wie gesellschaftskritische Relevanz beanspruchen, nicht explizit für sich zu reklamieren, widerspricht ihnen aber auch nicht auf eine Weise, die ihn nicht als Zuträger der Ideologieschmieden großer Tech-Konzerne und ihrer Sachwalter erkennen ließe.

20. Dezember 2023



David J. Chalmers Realität+
Virtuelle Welten und die Probleme der Philosophie
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023
638 Seiten
EUR 38,00
978-3-518-58800-0
 
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 22. Dezember 2023


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