Jürgen Meier
Vom Kopf auf die Füße
Verändern - Weltbezogen - Selbst sein
Buchcover: © by Mangroven Verlag
Dem jungen Karl Marx (1818 - 1883) wird nachgesagt, er habe den berühmten Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 - 1831) "vom Kopf auf die Füße" gestellt. Ob das zutrifft oder nicht, soll hier nicht diskutiert werden; die Debatte darüber füllt ganze Bände. Aber indem der Mangroven Verlag die Redewendung "Vom Kopf auf die Füße" als Buchtitel verwendet, rekurriert er offenbar auf eben diesen Kontext. Damit wird signalisiert, dass der Autor im Marxismus verortet ist (dafür spricht selbstverständlich bereits das Verlagsprogramm) und in seinem Buch vermutlich philosophische Fragen erörtert werden.
Verortet im dialektischen Materialismus räsoniert der Schriftsteller und Journalist Jürgen Meier in sieben Kapiteln über Themen wie die Rolle des Individuums in der Gesellschaft, die Ästhetik als Philosophie der Kunst, das gattungsgemäße Ideal, patriarchalen Kapitalismus, entfremdete Arbeit und vieles mehr. Dabei bemüht er sich sowohl um eine eigene Positionierung innerhalb der teils schon älteren Debatten unter vornehmlich links orientierten Intellektuellen als auch um eine Einordnung tagesaktueller Ereignisse wie beispielsweise den Ukrainekrieg in den historischen Kontext.
Der Untertitel "Verändern, Weltbezogen, Selbst sein" ist weitreichend interpretierbar gehalten. Das entspricht dem essayistisch anmutenden Charakter der Ausführungen. Was der Autor mit dem Allgemeinplatz "verändern" meint, lässt sich am Beispiel seiner Untersuchung des Begriffs "Rassismus" konkretisieren. Wer diesen verurteile, schreibt Meier, sollte die "Ausbeutungs- und Knechtsverhältnisse", auf die sich der Rassismus stützt, verändern. Das aber seien keine "Kopfentscheidungen", die sich durch "sprachliche Raffinessen" aus der Welt bügeln ließen. Der Kampf gegen Rassismus müsse "vom Kopf auf die Füße gestellt werden" (S. 11), was bedeute, die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft zu beenden. Das sei der Boden, auf dem Rassismus gedeihe. Den Nutzen davon hätten einstige Kolonial- und heutige Kapitalherren, analysiert Meier und führt weiter aus: "Leicht wird aus dem Fremden, - schnell zu erkennen an seiner Haut- und Haarfarbe, seiner Religion, seiner Sprache -, ein Konkurrent am Arbeitsplatz (...)"
Aber mit "erhobenem Zeigefinger" sei der Ausbeutung und dem Prinzip von Teile und Herrsche nicht beizukommen, sondern man müsse immer wieder auf das gemeinsame Sein als ausgebeutete Arbeitskräfte und "den gemeinsamen Kampf um eine Welt ohne Ausbeutung, Krieg und Unterdrückung" verweisen.
Auch wenn dem Bemühen Meiers beizupflichten ist, dass eine Sprachregulation für sich genommen nicht genügt, um den Widerspruch zwischen dem Interesse des Ausbeuters und dem des Ausgebeuteten aufzuheben, ließe sich der vom Autor angesprochene gesellschaftliche Diskurs, der unter anderem an der Verwendung des N-Worts entbrannt ist, sicherlich noch vertiefen. Denn könnte nicht das Hinterfragen eines diskriminierenden oder rassistischen Sprachgebrauchs ein Einstieg sein, um die dahinterstehenden Interessen aufzudecken und in Frage zu stellen, um schlussendlich mit ihnen zu brechen? Umgekehrt ist zu fragen, ob nicht der Kampf gegen Ausbeutung von vornherein zum Scheitern verurteilt sein muss, wenn dabei nicht auch die Sprache hinterfragt wird, mit der die beteiligten Interessen vorgebracht werden.
Niemand, der sich wie Meier gegen den "erhobenen Zeigefinger" (in unserem Beispiel: das N-Wort-Verbot) ausspricht, ist gezwungen, sich davon abhalten zu lassen, jenseits moralischer oder sonst wie gearteter Disziplinierungsversuche überkommene Sprachmuster und eigene, unreflektierte Sprachgewohnheiten auf den Prüfstand zu stellen. Im Idealfall - von dem der Rezensent nicht annimmt, dass er in absehbarer Zeit eintritt - könnte sogar die Verwendung des N-Worts wieder möglich werden, sofern dies nicht mehr mit diskriminierenden Absichten konnotiert wäre. Aber auch das kann nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg und mit erhobenem Zeigefinger, nur in umgekehrte Stoßrichtung, erreicht werden. Nach dem Motto, endlich darf man wieder sagen ...
Mit Verweis auf die US-amerikanische Schwarze Aktivistin und Bürgerrechtlerin Angela Davis, die am 7. Oktober 2022 auf einer Protestkundgebung in Berlin eine "radikale Transformation" gefordert und erklärt habe, dass Rassismus "global" ist, "von Kolonialismus und Sklaverei" herrührt und dass "Diversität und Inklusion (...) nicht funktionieren", schreibt Meier, dass sich verändern wollen "immer einen Weltbezug" (S. 11) hat. Denn: "Sich verändern wollen ist stets ein Beginn, die Welt, in der wir leben, ein Stück zu verändern, denn sonst hat es keinen Sinn, sich ändern zu wollen." (S. 12)
Diese Weltbezogenheit ist dem Autor sehr wichtig. Es geht ihm nicht (allein) um die individuelle Weiterentwicklung, sondern um gesellschaftliche Veränderungen als Folge individueller Entscheidungen, mithin die Beendigung vorherrschender, nicht zuletzt patriarchaler Strukturen.
Allerdings handelt auch Meier mit Wahrheiten, und ontologische Bestimmungen mit scheinkausal verketteten Behauptungen liefern ihm das Gerüst. Beispielsweise ist folgendes Zitat bemerkenswert:
"Die einzelnen, partikularen vielen Menschen machen die Gesellschaft. Sie bleiben und fühlen sich im Kapitalismus allerdings partikular, solange sie in ihrer eigenen Lebensanschauung verharren. Als partikulare Subjekte können sie sich nicht zum echten Individuum erheben, also zum bewussten Teil der menschlichen Gattung werden. Dazu bedarf es allerdings einer Weltanschauung, die sich auf das Natur-Sein und auf das konkrete gesellschaftliche Sein als prägende Basis des Lebens eines jeden Menschen und der Menschheit konzentriert. Der Sinn des Lebens eines einzelnen Menschen entsteht letztlich aus der Dialektik von Lebens- und Weltanschauung." (S. 16)
Werden hier nicht all jene Individuen diskriminiert, denen der Autor nicht das Prädikat "echt" zubilligt? Und wer sich nicht zum echten Individuum "erheben" und kein bewusster Teil der menschlichen Gattung werden kann, dem wird von Meier logischerweise umgekehrt ein zuvor niedrigerer Stand attestiert. Worin, bitte schön, unterscheidet sich diese vermeintlich über dem Geschehen stehende Sichtweise von jenen rassistisch-diskriminierenden, soziobiologisch konnotierten Zuordnungen, in denen Menschen in Über- und Untermenschen geordnet wurden?
Unter Berufung auf Immanuel Kants (1724 - 1804) "Wahlspruch der Aufklärung", der Mensch möge den Mut haben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, paraphrasiert Meier: "Jeder Mensch müsse sich aus seiner Unmündigkeit heraus arbeiten und nicht alles glauben, was andere Menschen sagen." (S. 27) Dies sei ein guter Schutz vor Manipulationen.
An dieser Stelle wäre Meier zu entgegnen: Vielleicht sollte man gleich mit denen anfangen, die anderen Menschen den "eigenen Verstand" absprechen und sie für "unmündig" erklären ...
Dieses und das längere Zitat weiter oben bieten die Gelegenheit zu zeigen, wie diskriminierend Sprache sein kann und dass mit der Debatte über das N-Wort oder auch über gendergerechte Begriffe gerade mal an der Oberfläche der Diskriminierung mit Hilfe von Sprache gekratzt wird. Im Gegensatz zum Standpunkt des Autors scheint nicht weniger, sondern noch viel mehr Sprachempfinden angebracht zu sein. Im Übrigen benutzt auch Meier Sprache und legt sehr viel Wert auf die Bedeutung von Begriffen; wie zum Beispiel "Ästhetik". Damit bewegt er sich auf dem gleichen Spielfeld wie jene, die er zu kritisieren meint, weil sie seiner Meinung nach zu sehr auf Sprachregulation abheben und dabei den Klassenkampf aus dem Blick verlieren.
Auf ein Stichwortregister hat der Verlag verzichtet. Liegt das vielleicht daran, dass die kulturphilosophischen Ausführungen Meiers durch die zahlreichen angerissenen Themenkomplexe mäandern? Nur weil ein Buch nicht leicht verdaulich ist, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass es deshalb besonders ergiebig sein muss. Am Ende bleibt die Frage offen, an wen sich der Autor eigentlich wendet. Man erfährt, wie Jürgen Meier "tickt", das heißt, welche Ansichten er zu diesem oder jenem Thema hat. Richtet er sich an seinesgleichen, um ihnen mitzuteilen, wo innerhalb der Riege marxistisch orientierter Autoren er sich vorzugsweise einfindet? Also mehr Georg Lukács, weniger Walter Benjamin? Mehr Klassenkampf, weniger Identitätspolitik? Oder verfolgt er gar ein quasireligiöses Anliegen, indem er sich den mutmaßlich niederen "partikularen Subjekten" zuwendet, um ihnen den Sinn des Lebens angedeihen zu lassen, wenn sie nur seine Weltanschauung teilten? Diese Fragen geben wir an die geneigte Leserschaft weiter, möge sie sich einen eigenen Eindruck verschaffen.
5. Juni 2024
Jürgen Meier
Vom Kopf auf die Füße
Verändern - Weltbezogen - Selbst sein
Mangroven Verlag, Kassel 2023
288 Seiten
ISBN 978-3-946-94637-3
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 181 vom 29. Juni 2024
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