Aijaz Ahmad
Der Imperialismus unserer Tage
Die globale Offensive gegen die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts
Buchcover: © by Mangroven Verlag
Die kriegerische Besetzung Afghanistans durch die USA und ihre Verbündeten inner- und außerhalb der NATO, obwohl erst seit drei Jahren beendet, nimmt heute keinen nennenswerten Platz im öffentlichen Bewusstsein Deutschlands mehr ein. 20 Jahre Besatzungspolitik der Bundeswehr bieten angesichts des Verfehlens verkündeter Zielsetzungen kaum Anlass für weihevolle Rituale und festliches Gedenken. So wurde das Scheitern dieser durch die Anschläge des 11. September 2001 legitimierten militärischen Intervention, zumal unheilvoll illuminiert mit dem überstürzten Abzug der Besatzungstruppen im August 2021, unwidersprochen dem kollektiven Vergessen überantwortet. Der Autor des vorliegenden Buches, der marxistische Literaturwissenschaftler Aijaz Ahmad, hatte bereits zu Beginn der Eroberung Afghanistans durch die Truppen der US-Allianz vorausgesagt, dass es diesen niemals gelingen werde, die Taliban vollständig zu besiegen.
Doch auch der auf der nach oben offenen Skala kriegerischer Vernichtung um einiges höher anzusiedelnde Überfall einer US-geführten "Coalition of the Willing" findet 20 Jahre später kaum noch Erwähnung in den mit imperialer Ordnungspolitik befassten Diskursen. Dieser auf erfundenen Tatsachenbehauptungen basierende Angriffskrieg hatte 2003 Millionen Menschen in aller Welt auf die Straße gebracht, um der drohenden Zerstörung insbesondere Bagdads und der Massakrierung der durch langjährige Belagerungspolitik bereits schwer gezeichneten Bevölkerung Einhalt zu gebieten. Ahmad hoffte damals, dass diese Protestbewegung zusammen mit der globalisierungskritischen Mobilisierung den Beginn einer weltweiten Opposition gegen Kapitalismus und Imperialismus markierte, doch es sollte anders kommen.
Es sind insbesondere die Umstände und Auswirkungen dieses Krieges, der sich seit dem Zweiten Golfkrieg 1991 zu einem im Wortsinne mörderischen Sanktionsregime und permanenter Low-Level-Warfare gegen den von allen Außenkontakten abgeschotteten Irak verstetigt hatte. 2004 fasste Ahmad zwölf für das indische Magazin Frontline verfasste Artikel über die Kriege gegen Irak und Afghanistan zu einem Buch zusammen, das er durch einen längeren Essay über den "Imperialismus unserer Tage" vervollständigte.
Die Gründe dafür, ein solches Unterfangen im Jahr 2024 erstmals in deutscher Sprache zu veröffentlichen, dürften weniger historischer als aktueller Art sein. Heute zeigt sich, dass die Aussicht der postkolonialen Welt, sich nach der Implosion der Sowjetunion mit vereinten Kräften aus der Unterlegenheit verlängerter Werkbänke, peripherer RessourcenlieferantInnen und billiger Entsorgungsdeponien herauszuarbeiten, durch die neokoloniale Hegemonialpolitik der G7-Staaten gekontert wurde. Der von Ahmad noch nicht für vorstellbar gehaltene Aufstieg Chinas zu einem weltpolitischen Konkurrenten der USA auf Augenhöhe wiederum hat das erklärte Vorhaben Washingtons, die Etablierung einer gleichwertigen Staatenkonkurrenz unter allen Umständen zu verhindern, als Fiktion neokonservativer Strategieschmieden entlarvt.
Die globale Offensive der USA, nicht nur die realsozialistische Staatenwelt zu zerschlagen, sondern die aus den Kolonalkriegen hervorgegangenen Nationalstaaten via klientilistischer Verwaltungsregimes und durch internationale Finanzagenturen erwirkter Verschuldungsdiktate mit neoliberaler Marktlogik zu bewirtschaften, stößt heute dennoch auf Widerstand. Was für die USA im Verlaufe des 20. Jahrhunderts weitgehend erreicht wurde - "Eindämmung / Verschwinden der kommunistischen Staaten, die eigene Vormachtstellung gegenüber den anderen führenden kapitalistischen Staaten, die Niederlage des wirtschaftlichen Nationalismus in der Dritten Welt" (S. 213) - bedarf zu seiner Konsolidierung daher eines Militärapparates, der über weltweite Projektionsfähigkeit verfügt.
Vorwandslagen wie die des "humanitären Interventionismus" oder gar "wohlwollenden Imperialismus" sollten legitimieren, was allein im Irak mindestens eine Million Kriegstote, hunderttausende durch Mangelernährung und unzureichende medizinische Versorgung gestorbene Kinder und die großflächige Zerstörung der zivilen Infrastruktur hinterlassen hat. Die gegen missliebige Regimes in diversen Ländern des Globalen Südens geführten Kriege zeichnen sich allesamt dadurch aus, dass nach dürftiger Begründung internationales Recht stark verbogen werden musste, um zumindest eine Scheinlegitimation dessen zu erwirtschaften, was aufgrund der Asymmetrie der eingesetzten Waffen und des kaum vorhandenen rüstungsindustriellen Potentials der angegriffenen Staaten an die Brutalität kolonialistischer Strafexpeditionen gemahnte.
Der für unbegrenzt erklärte "Globale Krieg gegen den Terrorismus" (GWOT) wurde von Ahmad denn auch als Chiffre eines nach innen wie außen gewandten Herrschaftsinteresses von zunehmend repressiver und aggressiver Art gedeutet. Einziger Garant für den notdürftigen Erhalt des Status quo sei das militärisch-ökonomische Zwangskorsett der vermeintlich "unverzichtbaren" Weltmacht, die maßgeblich für die Ausdehnung der vertraglich festgelegten Verteidigung des Bündnisgebietes der NATO auf die weltweite Durchsetzung der hegemonialen Ziele ihrer Mitgliedsstaaten verantwortlich zeichnet.
Dennoch hat sich die Zukunft der Militärallianz nur bedingt so entwickelt, wie sie der Autor anhand der Übernahme des ISAF-Kommandos in Afghanistan durch die NATO prognostiziert hat. Zwar hat sie seitdem vor allem in Richtung Russland expandiert, doch von einer militärischen Handlungsfähigkeit, die die Interessen der USA und EU weltweit sicherte, ist sie vielleicht noch weiter entfernt als vor 20 Jahren. Das liegt zum einen daran, dass Washington bevorzugt auf bilaterale Bündnisse zurückgreift, um die vollständige Kontrolle über die jeweilige Kriegführung zu behalten. Zum andern hat das militärische Erstarken Chinas und Russlands dem Vorhaben, die Verstetigung des GWOT zum Mittel unhinterfragbarer globaler Hegemonie zu machen, neue Grenzen gesetzt. Drittens ist die NATO alles andere als geeint, sondern von aus nationalen Logiken bestimmten Bruchlinien durchzogen, die die Zweckentfremdung dieses Systems kollektiver Sicherheit nach dem Ende der Blockkonfrontation mit neuer Aktualität aufladen.
Diese Brüche untersucht Ahmad anhand des Konzepts der "interimperialistischen Rivalität" der Leninschen Imperialismustheorie. Dabei gelangt er zu dem Schluss, dass der "momentane imperialistische Kern - bestehend aus den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern - weder aus Rivalen noch aus Gleichartigen besteht" (S. 223). Während er die "gegenseitige Durchdringung der nationalen Kapitale, insbesondere im Finanzbereich" als den "Schlüsselaspekt des 'Imperialismus unserer Zeit'" (S. 223) benennt, sei die große Diskrepanz zwischen EU und USA in wirtschaftlicher wie militärischer Hinsicht dafür verantwortlich, dass die EU kein ernstzunehmender Rivale der USA sein könne. Das gelte umso mehr für China, meinte Ahmad vor 20 Jahren in Unkenntnis dessen, was dort an ökonomischen wie militärischen Potentialen seitdem aufgebaut wurde. Dennoch diskutiert er die Möglichkeit einer in der pazifischen Zone angesiedelten zwischenimperialistischen Rivalität, die heute von den USA geostrategisch bis an den Rand des Krieges ausgespielt wird.
Lehrreich und interessant ist das Buch - und dabei vor allem sein titelgebender Exkurs - überall dort, wo die Geschichte des europäischen Kolonialismus und der imperialistischen Staatenkonkurrenz in ihrer vielfältigen Interdependenz untersucht und seziert wird. Dies tut der Autor aus Sicht des kolonisierten Globalen Südens, wobei er insbesondere die Schwächen nationalbourgeoiser Dekolonisierung und die Ablösung sozialistischer Aufbrüche durch religiös fundamentalistische Akteure und ihre reaktionären Ideologien kritisch reflektiert. Dabei steht außer Frage, dass er kein Parteigänger Saddam Husseins oder der Taliban war, in denen er vor allem Ergebnisse der antikommunistischen Konterstrategie sieht, panarabische Regimes wie Akteure des politischen Islam systematisch zu Hilfstruppen gegen die sozialistische Agenda antikolonialistischer RevolutionärInnen aufzubauen.
"Der Imperialismus unserer Tage" versieht denn auch die These fast uneinholbarer US-amerikanischer Vorherrschaft mit der Einschränkung, dass selbst die mit Abstand größte Militärmacht der Welt nicht mehr in der Lage ist, eine Monopolstellung uneingeschränkter weltpolitischer Handlungsmacht zu erlangen. Ökonomisch befinden sich fast alle Länder, so auch die USA, in einer Überakkumulationskrise, in der sich Produktivitätsgewinne nicht mehr auf eine Weise verwerten lassen, die die finanzkapitalistische Betriebsweise, stetig anwachsende Verschuldung mit neuen Krediten, immateriellen, keinen Mehrwert durch Arbeit erzeugenden Profitquellen und der Erweiterung der Geldmengen durch die Notenbanken gegenstandslos machte.
Angesichts der sich permanent steigernden Klimakatastrophe wird zwar versucht, den fossilen Kapitalismus durch sein grünes Pendant zu ersetzen, doch die dazu benötigte weitere Nutzung fossiler Energie und mineralischer Ressourcen lässt nichts anderes erkennen als die Fortsetzung dessen, was als Herrschaft des Kapitals über die Lohnabhängigenklasse schon zuvor abzuschaffen war. Der zur Erwirtschaftung ausgewiesener Net-Zero-Ziele forcierte Extraktivismus vor allem im Globalen Süden produziert Szenarien der Ausbeutung und Unterwerfung, die die nahtlose Fortsetzung der ursprünglichen Akkumulation ins vermeintlich neue Zeitalter eines "nachhaltigen", Ressourcenverbrauch und technologische Effizienz angeblich erfolgreich voneinander entkoppelnden Kapitalismus als Kolonialismus 2.0 erkennen lassen.
Technokratische "Lösungen" wie die umfassende Digitalisierung der Gesellschaften und die AI-generierte Rationalisierung menschlicher Arbeitskraft werfen ihren Schatten voraus in Form unerbittlicher Herrschaftstechniken und an Intensität und Zerstörungskraft finaler Formen der Kriegführung. Die nun auch die imperialistischen Metropolengesellschaften erfassende Kriegsgefahr macht dementsprechend "Sinn" - zum einen wird um die knapper werdenden Verwertungspotentiale physischer Art gekämpft - agrarisch nutzbares Land, erschließbare Lagerstätten fossiler Energie und mineralischer Ressourcen, Entsorgungspotentiale für die Net-Zero-Wirtschaft in Form handelbarer CO2-Senken wie Wälder, Moore, Gewässer. Zum andern ist es immer noch leichter, Staatenkriege, ob unter ethnonationalistischer oder wertebestimmter Agenda, als gewaltförmige Steigerung imperialistischer Wirtschaftskonkurrenz zu führen als der Einsicht, Kapitalismus und Imperialismus als Hindernis für eine Natur schonende und Menschen erfreuende Lebensweise zu überwinden, kollektiv Folge zu leisten.
"Die Menschheit" dient als abstraktes Kollektiv dem Gegenteil dessen, was zu verwirklichen sie im Sinne einer produktiven Strategie zur Überwindung von Kriegen, Unterdrückung und Naturzerstörung leisten sollte. Indem Ahmad Klassenwidersprüche, rassifizierte Herrschaftstechniken, kolonialistischen Extraktivismus und imperialistische Kriegführung in den Mittelpunkt seiner Imperialismusanalyse stellt, bringt er so idealistische wie folgenlos bleibende Appelle zurück auf den Boden einer historisch-materialistischen Kritik, die im Kontext des Globalen Südens kennenzulernen allein die Lektüre dieses und anderer Werke des indisch-pakistanischen Literaturwissenschaftlers empfehlenswert macht.
Wie der im Mittelpunkt des Buches stehende Krieg gegen den Irak gezeigt hat, legitimiert der Zweck hegemonialer Expansion fast alle Mittel ideologischer Zurichtung und "postfaktischer" Begründung aggressiver Kriegspolitik. Vor dem Hintergrund dessen, dass heute eine große Schar von PolitikerInnen und Meinungsführern bemüht ist, die These eines Übergreifens des Krieges Russlands gegen die Ukraine auf östliche NATO-Staaten als festen Plan des Kreml auszuweisen, um mit Truppen der Militärallianz direkt in der Ukraine einzugreifen, setzt die Erinnerung daran, mit welch fadenscheinigen Argumenten die Angriffe auf Afghanistan und den Irak legitimiert wurden, eine wertvolle historische Analogie frei. Ahmads unerfüllt gebliebene Hoffnung, dass "die weltweite Revolte gegen das imperiale Amerika, die wir am Vorabend der Irak-Invasion erlebt haben, wieder an Fahrt gewinnen könnte" (S. 249), wäre denn auch dahingehend zu erweitern, das imperialistischen AkteurInnen aller politischen Couleur und nationalen Identität Widerstand zu leisten ist, denn nichts Geringeres als unser aller Zukunft steht auf dem Spiel.
5. Juni 2024
Aijaz Ahmad
Der Imperialismus unserer Tage
Die globale Offensive gegen die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts
Mangroven Verlag Kassel 2024
268 Seiten
978-3-946-94638-0
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 181 vom 29. Juni 2024
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