Hermann Theisen / Helmut Donat (Hrsg.)
Bedrohter Diskurs
Deutsche Stimmen zum Ukrainekrieg
Buchcover: © by Donat Verlag
Mit jedem weiteren Tag des Krieges in der Ukraine steigt die Zahl der Toten und Verwundeten, wachsen die Leiden der Bevölkerung, eskalieren die Zerstörungen, führen die immensen Aufwände des Waffengangs und dessen weltweite Folgen zu ungeheuren Verwerfungen und Armutsfolgen. Mit jedem weiteren Tag rückt die Gefahr eines Atomkriegs näher, da nun die Beteiligung der NATO Zug um Zug vorangetrieben und Teile des russischen Abwehrschirms angegriffen werden. Die atomare Verwüstung Mitteleuropas ist keine ferne Dystopie mehr, sie steht in einem Maße vor der Tür wie seit den Hochzeiten des Kalten Krieges nicht mehr. All dies sind gute Gründe, die Stimme für einen sofortigen Waffenstillstand und die Einleitung von Friedensverhandlungen zu erheben.
Doch diese Stimme findet hierzulande weniger denn je Gehör. Schon die traditionelle Friedensbewegung war mehr und mehr geschrumpft und brachte bei den Ostermärschen nur noch wenige Menschen auf die Straße. Sie fristete eine Existenz am Rande des gesellschaftlichen Geschehens, hatte ihren vormaligen Einfluss verloren und wurde weithin ignoriert. Mit dem Ukrainekrieg ist der vordem milde Gegenwind der Nichtbeachtung plötzlich zu einem Sturm aggressivster Bezichtigung angeschwollen, der Argumente zur umgehenden Beendigung des Ukrainekriegs verhöhnt, diskreditiert und nicht davor zurückschreckt, Menschen massiv auszugrenzen und Karrieren zu zerstören. Ein ideologisches Trommelfeuer aus Politik und Medien fegt durch das Land, um alle zum Schweigen zu bringen, die sich dem deutschen Kriegskurs entgegenstellen. Abermals scheint eine bleierne Zeit angebrochen, die letzte Reste des Aufbegehrens versiegen lässt.
Wer sich jemals gefragt hat, wie die Menschen seinerzeit sehenden Auges in die Weltkriege gestürmt sind, muss nun in Echtzeit erleben, wie dieser Prozess des Verhängnisses vorangetrieben wird, ohne dass es zu wirksamer Gegenwehr kommt. So ist der Titel des vorliegenden Buches "Bedrohter Diskurs" treffend gewählt, werden doch die Stimmen des Widerspruchs nicht länger als akzeptabler Bestandteil einer demokratisch geführten Diskussion gewertet und in einer offenen Auseinandersetzung erörtert. Sie werden vielmehr unter feindseligsten Anwürfen verdreht und verzerrt, schlichtweg als Kollaboration mit dem Feind verteufelt und sanktioniert. Jene deutschen Stimmen zum Ukrainekrieg zu versammeln, die sich dieser Bedrohung nicht fügen, ist daher als Ansatz zu würdigen, das Feld nicht einer Kriegshetze zu überlassen, welche die rasende Fahrt in den Abgrund beschleunigt.
Als Band 52 in der von Wolfram Wette und Dieter Riesenberger (+) herausgegebenen Schriftenreihe Geschichte & Frieden erschienen, versammelt das Buch mehr als 50 Autorinnen und Autoren, die für eine sofortige Beendigung der Kampfhandlungen in der Ukraine eintreten und einem Friedensschluss das Wort reden. Sowohl die beachtliche Zahl der Beiträge als auch der mit 368 Seiten stattliche Umfang des Sammelbands zeugen davon, dass die Herausgeber Hermann Theisen und Helmut Donat, die beide auch mit einem eigenen Beitrag vertreten sind, keine Mühe gescheut haben, ein Zeichen zu setzen. So bedroht der Diskurs auch sein mag, gilt es doch um so mehr, sein fast schon verlöschendes Feuer anzufachen.
Wer die Kontroversen um Aufrüstung und Kriegsbeteiligung verfolgt hat oder gar mit den Positionen der Friedensbewegung vertraut ist, wird nicht überrascht sein, welche Autorinnen und Autoren hier präsent sind. Da an dieser Stelle natürlich nicht alle aufgezählt werden können, mag die Nennung einiger Namen zumindest andeuten, welch breites Spektrum aus Politik, Medien, Kirchen, Gewerkschaft, Wissenschaft, Kunst und Initiativen an der Basis zu Wort kommt. Vertreten sind Sahra Wagenknecht, Michael von der Schulenburg, Christoph Butterwegge, Kathrin Vogler, Günter Verheugen, Gabriele Krone-Schmalz, Margot Käßmann, Eugen Drewermann, Franz Alt, Peter Brandt, Peter Bürger, Leo Ensel, Michael Müller, Heribert Prantl, Jürgen Rose und viele andere mehr. Dies deutet an, dass bei aller Übereinkunft im grundsätzlichen Anliegen die Zugänge und Auffassungen recht breit gestreut sind. Und diese Breite ist seitens der Herausgeber durchaus gewünscht, soll doch der bedrohte Diskurs nicht gleich wieder beschnitten, sondern zu einer freien Entfaltung in gegenseitigem Respekt angeregt werden.
Die Beiträge wurden zu unterschiedlichen Zwecken und in verschiedenen Zusammenhängen verfasst, so dass ihr jeweiliger Charakter von Reden, über Vorträge und Zusammenfassungen bis hin zur Herausarbeitung ganz bestimmter Aspekte variiert. Zwangsläufig kommt es zu manchen Überschneidungen, da einige grundsätzliche Aussagen und Einschätzungen fast überall vertreten sind, was aber der inhaltlichen Auseinandersetzung mit diesen Texten keinen Abbruch tut. In einigen Fällen mutet es allerdings doch erstaunlich an, wie weit die Positionen insbesondere in der Gewichtung der beiderseitigen Verantwortung für den Ausbruch dieses Krieges auseinanderliegen. Zieht man die jeweilige Autorenschaft zu Rate, kann es wiederum nicht verwundern, woher der Wind weht.
Da alle Beitrage dem Versuch geschuldet sind, den Ukrainekrieg angemessen zu charakterisieren und sich Gedanken darüber zu machen, auf welche Weise er beendet werden könnte, dürfte wohl das gesamte Arsenal der Friedensbewegung zur Sprache kommen. Das macht schon für sich genommen den Sammelband zu einer vielversprechenden Zusammenschau und Fundgrube. Vertreten sind Ansätze der Konfliktforschung, Friedensarbeit, historischen Einbettung, sozialen Verhältnisse, Ost-West-Beziehungen, des Völkerrechts auf höchster Ebene, aber auch der grenzüberschreitenden Erfahrungen mit Menschen aus dem heutigen "Feindgebiet", nicht zuletzt auch der Umgang mit Kriegsdienstverweigerern und Fahnenflüchtigen aller beteiligten Lager.
Wer für ein sofortiges Ende des Krieges in der Ukraine und Verhandlungen eintritt, wird diesen Sammelband mit Freude lesen. Dessen ungeachtet gilt es natürlich, sich der Frage zu stellen, welche Wirkung im genannten Sinne von diesem Buch ausgehen könnte, denn es soll ja nicht einer bloßen Selbstvergewisserung schwindender Reste einer deutschen Friedensbewegung dienen. Insbesondere ist dabei zu prüfen, wie es um die Resonanz einer Antikriegsbewegung auf der Straße und deren öffentliche Wahrnehmung bestellt ist. Schien die von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht angeführte große Demonstration in Berlin angesichts massenhafter Beteiligung von einem langersehnten Aufschwung, wenn nicht gar einer Wende zu künden, so ist der Ertrag doch fast schon sang- und klanglos verpufft. Dafür ließen sich verschiedene Gründe anführen, nicht zuletzt aber die Einverleibung eines Bewegungsmoments in ein neugegründetes Parteiprojekt, also Stimmenfang als Leitmotiv. Und dies ist nur ein prominentes Beispiel dafür, dass der Wunsch, angesichts der bedrängten Lage die Messlatte tief zu hängen, was die Einschätzung von prominenten Bündnispartnerinnen betrifft, Fallstricke zu eigenen Lasten tarnen kann. Sich in den Motiven und Ambitionen der Mitstreitenden zu täuschen, könnte sich als verhängnisvoll erweisen.
Wie häufig beklagt wird, gehen heute die verschiedenen Bewegungen in der Regel getrennte Wege, trifft sich die Jugend zum Klimastreik auf der Straße, während die arg dezimierten Reste zumeist älterer friedensbewegter Menschen andernorts ihre Schilder hochhalten. Dann und wann kommt es natürlich auch zu Berührungen und Begegnungen, doch von einem begründeten und belastbaren Schulterschluss kann kaum die Rede sein. So nahe es liegen mag, die beiderseitigen Anliegen zu verbinden und damit etwas hervorzubringen, das womöglich bedeutsamer als die bloße Summe der Teile ist, fehlt es doch an Substanz und Bindekraft. Denkt man an einstige Sternstunden der Friedensbewegung wie die vielzitierte weil legendäre Massendemonstration im Bonner Hofgarten gegen den NATO-Doppelbeschluss zurück, gerät doch allzu leicht in Vergessenheit, auf welcher Grundlage die Zusammenkunft so vieler Menschen damals möglich war. Sie teilten ein Anliegen zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik, woraus auch der antimilitaristische Kampf hervorging.
Ein grundsätzliches Manko der gegenwärtigen deutschen Friedensbewegung bleibt demgegenüber das weitgehende Fehlen einer kritischen Staats- und Gesellschaftstheorie, aus der heraus erst angemessen zu entschlüsseln wäre, welche gesellschaftlichen Grundwidersprüche jene Verfügungsgewalten und Verwertungsregime hervorbringen, die angesichts nicht zu bewältigender Krisen zum Krieg drängen, sowohl auf westlicher Seite als auch in Russland. So notwendig es ist, den drohenden Atomkrieg abzuwenden und den Waffengang in der Ukraine zu beenden, sollte doch nicht außer Acht gelassen werden, dass mit der ersehnten Rückkehr des Friedens in Europa das unablässige Schlachten und Schlingen keineswegs gebannt wäre. Was wir als friedlichen Alltag und gutes Auskommen erleben mögen, gründet auf der massenhaften Ausbeutung und Unterdrückung, im eigenen Land wie insbesondere anderswo auf der Welt. Das gilt nicht nur für Kriege, die in Afrika toben, aber hierzulande kaum Erwähnung finden, sondern auch für die Zähne und Klauen einer als friedlich missdeuteten alltäglichen Wirtschaftsweise, die unablässig Elend und Tod hervorbringt.
5. Juni 2024
Hermann Theisen / Helmut Donat (Hrsg.)
Bedrohter Diskurs
Deutsche Stimmen zum Ukrainekrieg
Donat Verlag Bremen 2024
368 Seiten
ISBN 978-3-949116-21-6
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 181 vom 29. Juni 2024
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