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REZENSION/784: Löwy/Besancenot - Das Reich der Freiheit beginnt mit der Verkürzung des Arbeitstages (SB)


Michael Löwy / Olivier Besancenot


Das Reich der Freiheit beginnt mit der Verkürzung des Arbeitstages




Buchcover: Das Reich der Freiheit beginnt mit der Verkürzung des Arbeitstages - © by Mangroven Verlag

Buchcover: © by Mangroven Verlag

Dem Blick auf die Länge des Arbeitstages und die wöchentliche Arbeitszeit in Deutschland eröffnet sich ein höchst widersprüchlich anmutendes Bild. Feststehen dürfte, dass über alle Generationen hinweg ein Wunsch nach weniger Arbeit besteht. Einer Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zufolge hat sich die Wunscharbeitszeit zwischen 2007 und 2021 in allen Altersgruppen um rund drei Stunden verringert. [1] Als widerlegt gelten kann damit die vielfach kolportierte Bezichtigung, den jungen Leuten von heute fehle es im Unterschied zu älteren Menschen an der dringend gebotenen Leistungsbereitschaft. Doch auch die Vorwurfslage, die abhängig Beschäftigten neigten in ihrer Gesamtheit zu überzogenen Ansprüchen an Freizeit, steht auf tönernen Füßen. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) haben die abhängig Beschäftigten 2023 rund 55 Milliarden Stunden gearbeitet. Das sei der höchste Wert seit der Wiedervereinigung. [2]

Der Vorwurf fehlender Arbeitsmoral in Zeiten eskalierender Krisen trifft auf begründeten Widerspruch. So haben die Beschäftigten hierzulande im vergangenen Jahr 1,3 Milliarden Überstunden geleistet, davon mehr als die Hälfte unbezahlt. Wenn viele Menschen weniger arbeiten möchten und insbesondere Frauen in Teilzeit gehen ist das nicht auf eine Häufung individueller Arbeitszeitpräferenzen, sondern auf eine strukturelle Überbelastung zurückzuführen: Die Luft zum Atmen wird im System immer dünner. Da 92 Prozent aller Väter bereits in Vollzeit erwerbstätig sind, richtet sich die Aufforderung, mehr zu arbeiten, vor allem an die Mütter. Nach einer Prognos-Studie haben Frauen mit durchschnittlich mehr als 39 Stunden Sorgearbeit bereits einen Vollzeitjob - allerdings einen unbezahlten. Kämen 40 Stunden Erwerbsarbeit hinzu, liefe das auf eine 80-Stunden-Woche hinaus.

Derart extreme Arbeitszeiten sind für 300.000 bis 700.000 meist osteuropäische Frauen längst Realität, die hierzulande mehr als 4 Millionen pflegebedürftige Menschen in privaten Haushalten oftmals rund um die Uhr betreuen. Arbeitsrechte und Gesundheitsschutz werden dabei systematisch ignoriert. Überlange Arbeitszeiten und ständige Erreichbarkeit sind indessen auch in anderen Branchen Standard. So erzwingt die rasant fortschreitende Digitalisierung unablässige Anpassungsprozesse, deren enormer Aufwand zunehmend in Projektarbeit verlagert wird. Dabei müssen Angestellte in Teams eigenverantwortlich nach ökonomischen Prinzipien arbeiten, so dass sie unmittelbar vom Druck des Marktes angetrieben werden. Erschöpfungszustände bis hin zum Burnout sind in dieser Gruppe von Beschäftigten besonders weit verbreitet. [3] Dem ließen sich zahlreiche weitere Beispiele verlängerter Arbeitszeiten beispielsweise im Gesundheitswesen, im Home-Office oder aufgrund mehrerer Jobs im Niedriglohnsektor hinzufügen.

Andererseits erheben Gewerkschaften die Forderung, die Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich zu verkürzen. Eine Viertagewoche ist im Gespräch, mehr als 35 Stunden wöchentlich sollte nicht gearbeitet werden müssen. Der Ruf nach Verlängerung der Arbeitszeit ist für viele Unternehmen in Europa eine ausgemusterte Idee aus der Vergangenheit. Pilotprojekte zur Reduzierung der Arbeitstage in mehreren Ländern ziehen eine positive Bilanz, da die Beschäftigten zufriedener sind, weniger krank werden und seltener kündigen. Hierzulande läuft derzeit ein Pilotversuch in 45 Unternehmen, wobei die Arbeitszeit sechs Monate lang auf vier Arbeitstage in der Woche reduziert wird, ohne das Gehalt zu kürzen.

Dessen ungeachtet beschwören politische und wirtschaftliche Führungskreise im Lande angesichts der ökonomischen Talfahrt mehr oder weniger offen eine Verlängerung der Arbeitszeit. Spitzenpolitiker der CDU fordern eine 40-Stunden-Woche für alle, da nur so Wachstum und Vollbeschäftigung zu gewährleisten seien. Die FDP macht sich für ein Ende des gesetzlichen Achtstundentages stark und strebt eine vollständige Umstellung von der Tages- auf eine Wochenhöchstarbeitszeit an. Sie übernimmt damit die Argumentation der Unternehmensverbände, die auf europarechtliche Regelungen verweisen, welche lediglich eine Ruhezeit von elf Stunden innerhalb eines 24-Stunden-Zeitraumes vorsehen. Demnach könnte die durchschnittliche Arbeitszeit pro Siebentageszeitraum 48 Stunden betragen. Die Ampelkoalition wollte Überstunden und Arbeiten über das Renteneintrittsalter hinaus attraktiver machen.

Dabei ist keineswegs überprüfbar bekannt, wie lange die Beschäftigten im Einzelnen bezahlt oder unbezahlt arbeiten. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat alle EU-Staaten zur Einführung einer objektiven, verlässlichen und zugänglichen Arbeitszeiterfassung verpflichtet und 2019 auch die Bundesregierung zum Handeln aufgefordert. Im September 2022 fällte das Bundesarbeitsgericht (BAG) die bahnbrechende Entscheidung, dass Unternehmen die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten dokumentieren müssen. Bundesarbeitsminister Hubert Heil kündigte umgehend ein entsprechendes Gesetz an, doch sind seither mehr als zwei Jahre ins Land gezogen, ohne dass es dazu einen Beschluss des zerstrittenen Bundeskabinetts gegeben hätte.

Wie diese Gemengelage unterstreicht, ist der Kampf um die Länge des Arbeitstages wie eh und je ein zentraler Zankapfel auf dem Schlachtfeld gesellschaftlicher Widersprüche. Wenngleich er angesichts der alle Aufmerksamkeit absorbierenden Kriege und globalen Krisen nur ein Schattendasein in der medialen Präsenz fristet, haben sich Michael Löwy und Olivier Besancenot mit diesem Buch keineswegs eines abseitigen oder belanglosen Themas angenommen. Sein überraschender Titel "Das Reich der Freiheit beginnt mit der Verkürzung des Arbeitstages" erinnert an die Brisanz und Tragweite der Auseinandersetzung um den tagtäglichen Verkauf der Arbeitskraft, dessen Konditionen maßgeblich die Lebensqualität und Lebensdauer zahlloser Menschen mitbestimmen.

Über die Autoren

Michael Löwy wurde 1938 in São Paulo als Kind aus Österreich emigrierter Juden geboren. Er ist ein marxistischer Soziologe und Philosoph. Löwy promovierte an der Pariser Sorbonne über die Theorie der Revolution des jungen Karl Marx und arbeitete als Forschungsdirektor am Centre nationale de la recherche scientifique. Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren führten ihn unter anderem nach Israel, in die USA und nach Deutschland. Seine Veröffentlichungen widmen sich einem breiten Themenspektrum wie etwa der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung, der Romantik oder der Philosophie Walter Benjamins. Löwy schloss sich der trotzkistischen Bewegung an und ist ein wichtiger Theoretiker der Vierten Internationale. Zusammen mit Joel Kovel entwarf er deren Ökosozialistisches Manifest. Von seinen zahlreichen Veröffentlichungen sind etliche auf Deutsch zugänglich, etwa: Ökosozialismus. Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe (Hamburg 2016) und Franz Kafka. Träumer und Rebell (Wiesbaden 2023).

Olivier Besancenot, geb. 1974 in Paris, ist ein französischer Politiker des linken Spektrums. Er war Sprecher und Präsidentschaftskandidat der trotzkistischen Ligue communiste révolutionnaire (LCR) sowie Gründungsmitglied der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA). Der studierte Historiker arbeitet als Postbote. Seine Veröffentlichungen widmen sich vor allem den Bedingungen von Klassenkampf und Revolution im 21. Jahrhundert. Auf Deutsch zugänglich ist sein zusammen mit Michael Löwy verfasstes Buch: Revolutionäre Annäherung. Unsere roten und schwarzen Sterne (Berlin 2016).

Daniel Bensaïd (1946-2010), dem das Buch gewidmet ist, war eine der bekanntesten Persönlichkeiten der französischen Studentenbewegung, undogmatischer marxistischer Philosoph und trotzkistischer Politiker. Er schloss sich in den 1960er Jahren trotzkistischen Positionen an und gehörte 1968 gemeinsam mit Daniel Cohn-Bendit und dem späteren Direktor der Zeitung Libération, Serge July, zu den bekanntesten Aktivisten des Mouvement du 22 mars an der Universität Nanterre und der von dort ihren Ausgang nehmenden Studentenrevolte, welche in den Generalstreik und aufstandsartige Zustände im Mai 1968 mündete. Nach dem Ende der Revolte kurzzeitig in Haft, war Bensaïd seit 1968 Leitungsmitglied der Ligue Communiste bzw. der 1973 aus ihr hervorgegangenen Ligue communiste révolutionnaire (LCR), zu deren bekanntesten Köpfen er zählte, sowie des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale. Beeinflusst von Marx, Trotzki, Walter Benjamin, Nietzsche und dem französischen Dichter Charles Péguy, arbeitete er hauptsächlich auf dem Gebiet der Philosophiegeschichte. Sein bekanntestes Werk, Les irréductibles, ist eine grundlegende und viel diskutierte Kritik des französischen Postmodernismus in seiner philosophischen und politischen Bedeutung. Daniel Bensaïd war Professor der Philosophie an der Pariser Universität-VIII (Saint-Denis) und galt als eine der bedeutendsten kritischen Stimmen der französischen Linken.

Zentrales Kampffeld gesellschaftlicher Auseinandersetzungen

Wie Löwy und Besancenot darlegen, nahm mit der Durchsetzung des Kapitalismus die Arbeitszeit gegenüber den vorkapitalistischen Gesellschaften zu. Ende des 19. Jahrhunderts wuchs sich daher die Auseinandersetzung um die Länge des Arbeitstages zu einem zentralen Kampffeld aus und hatte geraume Zeit sogar einen bedeutenderen Stellenwert als die Höhe der Löhne. So entstand die Tradition des 1. Mai als "Arbeiterkampftag" 1886 im Zusammenhang mit Aktionen für den Achtstundentag. Vielfach konnten die Gewerkschaften nur durch lange Streiks Verhandlungen zu Arbeitszeitfragen erzwingen. Erst im Zuge der Novemberrevolution 1918 gelang es in Deutschland, die Arbeitszeit für alle Lohnabhängigen auf acht Stunden pro Tag zu begrenzen. Solche Erfolge waren jedoch nie von Dauer, da die Arbeitszeit stets Ausdruck der beiderseitigen Kräfteverhältnisse und Kampfkraft blieb. War die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in der Industrie aufgrund der Weltwirtschaftskrise von 49,9 Stunden im Jahr 1927 auf 41,5 Stunden im Jahr 1932 gesunken, so stieg sie im NS-Staat wieder auf 47,9 Stunden (1938) und 48,3 Stunden (1944) an. Nach dem Krieg wurde dank des langjährigen Kampfes der IG-Metall die Arbeitszeit in der Metallindustrie stufenweise auf 40 Stunden pro Woche gesenkt, welche die große Mehrheit der westdeutschen Arbeiterschaft aber erst 1978 genießen konnte. Mitte der 1980-er Jahre kam es schließlich nach langen und schweren Arbeitskämpfen um die 35-Stunden-Woche zu einem Kompromiss von 38,5 Stunden, dem erst 1995 eine weitgehende Verallgemeinerung der 35-Stunde-Woche folgte. Dass solche Errungenschaften keinen Bestand haben, wenn die forcierte Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft abermals vorangetrieben wird, zeigt die eingangs angesprochene aktuelle Auseinandersetzung um die Dauer der Arbeitszeit.

Die Autoren verstehen den vorliegenden Text weder als eine rein wissenschaftliche Analyse noch als eine politische Kampfschrift, die sich auf aktuell anstehende Kontroversen beschränkt. Er versuche vielmehr, das philosophische und historische Studium mehrerer Texte von Karl Marx, die Geschichte vergangener Kämpfe und die Analyse aktueller Debatten miteinander zu verbinden, um schließlich in ein fiktives "futuristisches" Szenario zu münden. Ausgangspunkt bildet dabei ein Gedanke, den Marx im dritten Band seines Hauptwerkes "Das Kapital" formuliert hat: "Das Reich der Freiheit beginnt mit der Verkürzung des Arbeitstages" (vgl. MEW 25, 82). Es gelte, die von ihm aufgeworfenen Fragen als eine Denkwerkstatt aufzufassen, die uns mit Waffen ausstattet, um die brutale neoliberale Offensive für die Verlängerung des Arbeitstags, eine Erhöhung des Renteneintrittsalters und die Abschaffung der in langen Kämpfen errungenen sozialen Rechte abzuwehren wie auch der bourgeoisen Religion der "Arbeit" und "Produktion" Widerstand zu leisten, von der die Arbeiterbewegung nur allzu oft infiziert worden sei.

"Reich der Notwendigkeit" - "Reich der Freiheit"

Das erste der fünf Kapitel, die das Buch umfasst, thematisiert die von Marx vorgenommene Unterscheidung zwischen zwei Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, dem "Reich der Notwendigkeit" und dem "Reich der Freiheit", wobei jedem der beiden eine bestimmte Art von Freiheit entspricht. Der erste Bereich betrifft "die Sphäre der materiellen Produktion" und damit der Arbeit, die "durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist". Die Freiheit in diesem Gebiet könne nur darin bestehen, dass die assoziierten Produzenten ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als einer blinden Macht beherrscht zu werden. Gelingt es, ihn unter dem geringsten Kraftaufwand und unter den der menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen zu vollziehen, so bleibt dies doch ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gibt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung, schreibt Marx (MEW 25, 828).

Ohne die von den herrschenden Klassen ausgeübte Macht zu verkennen, bezeichnet Marx den Kapitalisten als "Charaktermaske", als Personifizierung des Kapitals mitsamt seinen Zwängen. Die Emanzipation von der "blinden Macht" kann sich nicht darin erschöpfen, autokratische und parasitäre Kräfte zu beseitigen, gilt es doch weit darüber hinaus die Akkumulation des Kapitals, die Zwänge des kapitalistischen Marktes und den Fetischismus der Ware zu überwinden. Denn diese durchdringen alle Bereiche des Lebens und bestimmen das Schicksal der Menschen. Marx bestreitet die Unveränderbarkeit dieser Wirtschaftsordnung und setzt darauf, dass die ausgebeuteten Klassen ihre Gefangenschaft brechen und sich vom unerbittlichen Zwang dieses Systems befreien. Dank einer kollektiven Neuorganisation der Gesellschaft und einer entsprechenden Planung der Produktion könne die erste Art von Freiheit erschlossen werden.

Da jede Gesellschaft einer materiellen Tätigkeit bedarf, geht es nicht darum, die notwendige Arbeit abzuschaffen, wohl aber sie zu reduzieren. Denn wo sie endet, beginnt das Reich der Freiheit, also die freie Verfügung über die Zeit für Tätigkeiten, die nicht länger Mittel zur Befriedigung materieller Bedürfnisse, sondern Zweck an sich sind. Marx bricht mit der bürgerlichen Religion der Arbeit, deren Ursprung Max Weber in der protestantischen Ethik ausmacht. Wie Weber bemerkt, wolle der Arbeiter getreu der vorkapitalistischen Arbeitsmoral nicht immer mehr Geld verdienen, sondern einfach so leben, wie er es gewohnt ist, und so viel erwerben, wie dazu notwendig ist. Daher reize ihn der Mehrverdienst weniger als die Minderarbeit, weshalb er dem Druck der Bourgeoisie, mehr zu arbeiten, "unendlich zähen Widerstand" entgegensetze.

Im Laufe der Zeit wurde jedoch die bürgerliche Ideologie so übermächtig, dass sie auch erhebliche Teile der Arbeiterbewegung infizierte. So trägt das Gothaer Programm von 1875, woraus die SPD hervorging, bereits Spuren der Verwirrung in sich. Es definiert die Arbeit als "die Quelle allen Reichtums und aller Kultur", worauf Marx entgegnet, dass der Mensch kein anderes Eigentum besitze als seine Arbeitskraft und daher Sklave anderer sein müsse, die sich zu Eigentümern aufgeschwungen haben. Dessen ungeachtet brach sich die Glorifizierung der Arbeit und des Fortschritts in der Naturbeherrschung Bahn, die einen technokratischen Bogen vom "Helden der Arbeit" über "Umerziehung durch Arbeit" bis hin zur Vernichtungsparole "Arbeit macht frei" schlug.

Marx bringt hingegen die Ausbeutung der Arbeitskraft und der Natur in einen unmittelbaren Zusammenhang derselben räuberischen Logik von kapitalistischer Großindustrie und Landwirtschaft. Sie steigerten den Raub an der Arbeitskraft und der Fruchtbarkeit des Bodens für eine gewisse Frist, bis deren Quellen ruiniert seien. So untergrabe die kapitalistische Produktion die Springquellen allen Reichtums: die Erde und den Arbeiter (MEW 23 529-530).

"Versteckter Bürgerkrieg" zwischen den Klassen

Im zweiten Kapitel befassen sich Löwy und Besancenot mit dem Kampf um die Verkürzung der Arbeitszeit, wie ihn Marx dargestellt hat, der von einem "versteckten Bürgerkrieg zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse" gesprochen hat (MEW 23, 316). Wie die Autoren warnen, sei das Marxsche Werk immer wieder reduktionistischen und dogmatischen Lesarten ausgeliefert, die darin ein gleichsam schicksalsmäßig vorgegebenes und allgemeingültiges Entwicklungsgeschehen sehen, das rein wissenschaftlichen Gesetzen im Sinne des positivistischen Modells der Naturwissenschaften folge. Demgegenüber habe Marx jedoch deutlich hervorgehoben, dass er die Gesetze der kapitalistischen Ökonomie erforsche, die Herausbildung dieser Produktionsverhältnisse jedoch nicht vom Prozess des Klassenkampfes zu trennen sei. Er vertritt keine "objektive" Wissenschaft ohne Werturteil, sondern ergreift entschieden Partei, seine ethisch-politischen Werte sind untrennbar mit der wissenschaftlichen Argumentation verflochten.

Die Fähigkeit zur Empörung ist bei Marx ein konstitutiver Faktor des Prozesses der Erkenntnisproduktion, der in seinen Untersuchungen verschiedener Formen der Ausbeutung in Sklaverei, feudaler Leibeigenschaft, Manufaktur und schließlich Fabrikarbeit deutlich zum Ausdruck kommt. Wenngleich er die technologische Entwicklung und den Fortschritt der Produktivkräfte in der Großindustrie nicht leugnet, hebt er doch hervor, dass dieser oftmals mit einer dramatischen gesellschaftlichen Rückentwicklung einhergeht, insbesondere was die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Werktätigen betrifft. Der Industriekapitalist teilt mit dem amerikanischen Sklavenhalter das Bestreben, den Arbeitstag mit allen Mitteln auszudehnen und dabei selbst die physiologischen Grenzen der Arbeiterinnen und Arbeiter skrupellos zu überschreiten, was Erschöpfung und frühzeitigen Tod zur Folge hat.

Zur Veranschaulichung des monströsen und unersättlichen Charakters des Kapitals bedient sich Marx des Vergleichs mit einem Vampir: Das Kapital hat den einzigen Lebenstrieb, sich zu verwerten, Mehrwert zu schaffen, mit seinem konstanten Teil, den Produktionsmitteln, die größtmögliche Masse Mehrarbeit einzusaugen. Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich vampirmäßig belebt durch Einsaugen lebendiger Arbeit (MEW 23, 247). Er prangert die Sklaverei aufs Schärfste an und verweist zugleich auf die sklavenähnliche Ausbeutung der Lohnarbeit im Fabriksystem. Grausame Arbeitsbedingungen und extreme Arbeitszeiten geißelt er als Angriff auf die Gesundheit und die Grundlagen des Lebens der Arbeiterschaft. Als unmittelbarste Art des Widerstands weist er die Verweigerung der Mehrarbeit als ein zentrales Moment des permanenten Klassenkampfs aus, das er mit zahlreichen empirischen Beispielen belegt. Die Schlacht um die Reduzierung des Arbeitstages durchzieht als eine wesentliche Form kollektiven Widerstands die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.

Der Kampf um den Achtstundentag

Das dritte Kapitel handelt von dem fortgesetzten Ringen um die Verkürzung der Arbeitszeit, ausgehend vom Kampf um den Achtstundentag. Dieser war Gegenstand erbitterten Streits zwischen den von Richtern und Regierenden unterstützten Fabrikherren unter machtvoller Mitwirkung von Polizei- und Militäreinheiten einerseits und den Organisationen der Arbeiterschaft andererseits. Die Forderung nach dem Achtstundentag war mehr als andere geeignet, verschiedenste Berufsgruppen und soziale Kategorien zu Verbündeten in einem gemeinsamen Kampf zu machen: Unabhängig von ihrer Tätigkeit, ihrem Geschlecht und Alter oder ihrer Hautfarbe fanden sie zusammen. Zugleich war es ein Kampf, der Syndikalisten, Anarchisten, Sozialisten, Kommunisten, Reformisten und Revolutionäre vereinen konnte.

Am 1. Mai 1886 kam es in mehreren Städten der USA zu Streiks und Demonstrationen für den Achtstundentag, an denen sich etwa 300.000 Menschen beteiligten. Das Epizentrum der Aktionen war Chicago, wo 40.000 Arbeiterinnen und Arbeiter in den Streik traten. Zwei Tage später töteten Polizeischüsse vor einer bestreikten Fabrik vier Arbeiter, am 4. Mai fand auf dem Haymarket eine Protestversammlung statt. Als die Polizei gewaltsam zum Angriff überging, warf jemand eine Bombe auf sie, wodurch acht Polizisten starben und sechzig verletzt wurden. Daraufhin schoss die Polizei in die Menge und tötete etwa acht Menschen, während rund 200 Verletzungen davontrugen. Wenngleich der Schuldige für die Bombenexplosion nie gefunden wurde, stellte man acht der wichtigsten Gewerkschaftsführer vor Gericht und verurteilte in einem Schauprozess fünf von ihnen zum Tode, drei weitere zu langen Haftstrafen. Im Jahr 1893 rehabilitierte der Gouverneur von Illinois die hingerichteten Aktivisten, da ein Großteil der eingebrachten "Beweise" eine "reine Fälschung" gewesen seien.

Im Jahr 1889 rief die Zweite Internationale auf ihrem Gründungskongress in Paris den 1. Mai zum weltweiten Tag des Kampfes für den Achtstundentag aus. Dieser Kampf folgte der Losung von den "drei acht": acht Stunden Arbeit, acht Stunden Erholung und acht Stunden, um sich zu bilden und den Körper zu kultivieren. Die folgenden Jahrzehnte waren in zahlreichen Ländern von Auseinandersetzungen geprägt, in deren Mittelpunkt dieses Ziel stand und die auch massivste Repression nicht dauerhaft aus der Welt schaffen konnte. Die Autoren berichten von Kämpfen in Europa, den USA und in Lateinamerika bis hin zur Oktoberrevolution 1917 in Russland, die mit der Einführung des Achtstundentags und der 48-Stunden-Woche den langersehnten Präzedenzfall schuf.

Nachdem der Achtstundentag 1939 in den meisten Ländern durchgesetzt war, schien die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung an Dringlichkeit einzubüßen. Erst gegen Ende des Jahrhunderts kam es zu neuerlichen Kämpfen und Erfolgen auf diesem Gebiet. Diesem langen Stillstand dürfte eine Gemengelage aus verschiedenen Entwicklungen zu Grunde liegen. Gewerkschaftsbürokratien und Parteiapparate hegten die proletarische Mobilisierung ein, andere Forderungen wurden in den Mittelpunkt gestellt, und die zunehmende Verrechtlichung der Arbeitskämpfe grenzte tendenziell systemsprengende Bestrebungen aus. Nicht zuletzt aber setzte die Kapitalseite innovative Methoden der Arbeitsverdichtung und des Einfrierens der Löhne durch, welche die Vorteile einer lediglich formalen Verkürzung der Arbeitszeit, noch dazu begrenzt auf bestimmte Branchen und Betriebsgrößen, für große Teile der Belegschaften zunichte machte.

Forcierter Raubzug des Verwertungsregimes

Kapitel vier ist der Auseinandersetzung um die Arbeitszeit im 21. Jahrhundert gewidmet. Hatte die Existenz zweier konkurrierender Gesellschaftssysteme dem weltweiten Zugriff kapitalistischer Zurichtung Grenzen gesetzt und sozialstaatliche Zugeständnisse erwirkt, so änderte sich das seit Ende der 1980-er Jahre. Die nunmehr für alternativlos erklärte Wirtschaftsweise forcierte ihren Raubzug weltweit, doch aus ihrem goldrauschartigen Höhenflug stürzte sie in eine um so tiefere Krise. Um das Verwertungsregime abermals anzuschieben bedurfte es gravierender Eingriffe und Zwangsmaßnahmen, zu denen die verschärfte Ausbeutung der Arbeitskraft auch in den Metropolen gehört. So werden seit mehr als hundert Jahren erkämpfte Errungenschaften außer Kraft gesetzt, kehrt sich die Tendenz zur Verkürzung der Arbeitszeit in ihr Gegenteil um. Zugleich herrschen am anderen Ende der Lieferketten grausamste Arbeitsbedingungen, wie sie Marx schon vor gut 150 Jahren in England und Deutschland angeprangert hatte: extreme Kinderarbeit, ausgebeutete Frauen, Hungerlöhne und Rechtlosigkeit - wovon jedoch die hiesige Arbeiterschaft größtenteils nichts wissen will.

Tödliche Unfälle am Arbeitsplatz und Todesfälle in Verbindung mit Arbeitslosigkeit nehmen auch in den westlichen Industriestaaten zu, Stress, Krankheiten und Suizide sind auf dem Vormarsch, die Lebenserwartung stagniert oder sinkt erstmals seit den 1960-er Jahren. Entfremdung durch Lohnarbeit durchdringt die Beschäftigten bis ins Mark, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwinden. Eine Verkürzung der Arbeitszeit, so argumentieren die Autoren, könnte nicht nur die Beschäftigten entlasten, sondern auch mit einer Umverteilung einhergehen, so dass die Arbeitslosigkeit schwände. Weit darüber hinaus könnte sie sogar der strategische Entwurf einer anderen Gesellschaft sein, die den Raub menschlicher Arbeitskraft zurückdrängt. Dies schüfe Platz, in einem Bruch mit der produktivistischen und konsumistischen Doktrin die notwendige Arbeit in einem kollektiven Prozess umzugestalten, eine ökosozialistische und demokratische Planung der Wirtschaft in Angriff zu nehmen, nicht zuletzt auch die patriarchale Herrschaft zu brechen.

Ein Kampf auf Leben und Tod

Wie eine solche Zukunft aussehen könnte, illustriert im fünften Kapitel der utopische Ausflug in eine emanzipierte kommunistische Gesellschaft, in der die Menschen tatsächlich über freie Zeit verfügen. Als Traumnovelle ausgewiesen, skizziert dieser Entwurf leichten Fußes eine Welt von morgen nach vollzogener Transformation, in deren Gestaltung vorausgedachte konkrete Vorstellungen vom "Reich der Freiheit" eingehen. Nach wie vor sind Probleme zu lösen und Konflikte zu bewältigen, nunmehr jedoch nach erfolgter Ermächtigung, dies in einem solidarischen Prozess zu bewerkstelligen.

Eingedenk dessen, dass heute weltweit mehr Menschen unter sklavenähnlichen Bedingungen ausgebeutet und vernichtet werden als je zuvor in der Menschheitsgeschichte, bleibt der Streit um die Arbeitszeit im wahrsten Sinne des Wortes ein Kampf auf Leben und Tod. Den Finger in diese Wunde zu legen, ohne mit einem Heilsversprechen zu hausieren, erhebt das vorliegende Buch in den Rang einer lesenswerten, weil aufwühlenden und denkanregenden Lektüre. Das "Reich der Freiheit", heben die Autoren hervor, habe eine revolutionäre Veränderung zur Voraussetzung, die kein vorfabriziertes Modell sein könne, sondern eine strategische Hypothese sowie einen ethischen Horizont darstelle, ohne den nach den Worten Daniel Bensaïds "der Wille resigniert aufgibt, der Widerstandsgeist kapituliert, die Treue versagt und die Tradition verlorengeht" (S. 14).

8. Dezember 2024


Fußnoten:

[1] https://www.telepolis.de/features/24-Stunden-Arbeiten-Die-Fortschrittskoalition-sitzt-aus-9809268.html

[2] https://www.telepolis.de/features/CDU-Debatten-ueber-Wehrpflicht-Leitkultur-und-40-Stunden-Woche-im-Sommerloch-9761899.html

[3] https://www.telepolis.de/features/Agiles-Arbeiten-und-Home-Office-Warum-der-Burnout-droht-9807171.html


Michael Löwy / Olivier Besancenot
Das Reich der Freiheit beginnt mit der Verkürzung des Arbeitstages
Mangroven Verlag Kassel 2024
104 Seiten
18,00 EUR
ISBN 978-3-946946-39-7
 
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 182 vom 21. Dezember 2024


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