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REZENSION/787: Thomas Metscher - Faust und die Dialektik (SB)


Thomas Metscher


Faust und die Dialektik

Studien zu Goethes Dichtung




Buchcover: Faust und die Dialektik - © by Mangroven Verlag

Buchcover: © by Mangroven Verlag

In der westlichen Kultur und ihrer Geschichte gibt es kaum eine Figur, die allen so geläufig ist wie Faust: der Mann, der aus materialistischen Beweggründen die eigene Seele an den Teufel verkauft oder zumindest mittels einer Wette mit dem satanischen Mephistopheles ewige Verdammnis in der Hölle riskiert. In verschiedenen Abwandlungen begegnet man stets aufs Neue der Legende vom "faustischen Pakt", der in zahlreichen Sprachen als geflügeltes Wort Eingang gefunden hat. 1587 veröffentlichte der Frankfurter Buchdrucker Johann Spies eine erste schriftliche Version der damals in deutschen Landen unter anderem als Puppenspiel kursierenden Unheilsgeschichten um den 41 Jahre zuvor verstorbenen Alchimisten und Nekromantiker Johann Georg Faust. Prompt erschienen in England, Frankreich und den Niederlanden erste Übersetzungen des für die frommen Christenmenschen der Ära der westeuropäischen Hexenverfolgungen lasterhaften Stoffs.

1589, nur zwei Jahre nach der Spiesschen Veröffentlichung, verfasste William Shakespeares großer Rivale, Christopher Marlowe, eine eigene "tragische Historie von Doktor Faustus", die wiederum ab 1600 von englischen Schauspieltruppen nach Deutschland reimportiert wurde. Jene Marlowe-Interpretation der Gruselgeschichte hat der walisische Schauspieltitan Richard Burton 1967 auf die Kinoleinwand gebracht, mit sich selbst in der Rolle des Gelehrten Faust und seiner damals angehimmelten Gattin, Hollywood-Diva Elizabeth Taylor, als die durch Hokuspokus wieder ins Leben gerufene Helena von Sparta, die tragische Heldin aus Homers Ilias, deren unübertroffene Schönheit ihr bekanntlich den unsterblichen Ruhm als "the face, that launched a thousand ships" (Marlowe) einbrachte.

Bereits 1926 auf dem Höhepunkt des expressionistischen Films in Weimar-Deutschland hat Nosferatu-Regisseur F. W. Murnau eine schwarzweiße Stummfilmfassung der Faust-Geschichte gedreht, die auch heute durch überwältigende Bilder beeindruckt, wie zum Beispiel von oben herab eine harmlose gothische Kleinstadt von den übernatürlichen Kräften eines riesenhaften, geflügelten Prinzen der Dunkelheit heimgesucht wird. Hartnäckig hält sich in Musikerkreisen die These, 1936 habe der bettelarme, vagabundierende Gitarrist und Sänger Robert Johnson an einer staubigen Straßenkreuzung in Clarksdale, Mississippi, seine Seele dem Teufel verkauft und sei dadurch zum unbestrittenen König des Delta Blues aufgestiegen - eine sonderbare Begegnung, an die das vielfach, unter anderem von Jimi Hendrix, Eric Clapton und den Cowboy Junkies, gecoverte Stück "Crossroads" erinnert.

1947 wagte der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann mit dem Roman "Doktor Faustus" eine allegorische Erklärung für das Abgleiten Deutschlands in die Herrschaft der Nazis um Adolf Hitler und deren Entfesselung der Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Die in Pestzeiten des späten Mittelalters angesiedelte cineastische Moralität "Das siebente Siegel" des schwedischen Ausnahmeregisseurs Ingmar Bergman von 1957, vor allem das immer wieder reproduzierte Bild des Schachspiels zwischen dem Ritter und dem Tod, weckt unweigerlich faustische Assoziationen. Ähnliches gilt für den vielgelobten Horrorthriller "The Devil's Advocate" ("Im Auftrag des Teufels") aus dem Jahr 1997 mit Al Pacino als ruchloser Satan an der Spitze der New Yorker Geschäftswelt und Keanu Reeves als sein junger, allzu ambitionierter Rechtsbeistand. Im Rahmen der künstlerisch bahnbrechenden und weltumspannenden Zoo-TV-Tournee 1992/1993 hat Bono, Sänger und Frontmann der irischen Rockgruppe U2, mit seiner allabendlichen Verwandlung in die schalkhafte, zwielichtige Figur des MacPhisto dem Faustmotiv eine weitere Seite abgewonnen bzw. hinzugefügt - je nachdem, wie man es beurteilt.

All dies und viel mehr steht jedoch ganz im Schatten der Verarbeitung des Faust-Mythos durch Johann Wolfgang von Goethe. Mit "Faust. Eine Tragödie" von 1808 und "Faust. Der Tragödie zweiter Teil" von 1832, auch Faust I & II genannt, hat der in Frankfurt geborene und aufgewachsene Dichter, Dramatiker, Jurist, Romancier, Naturwissenschaftler, Politiker und Philosoph einen künstlerischen Meilenstein gesetzt, der jedem Vergleich mit Shakespeares Oeuvre oder Dante Alighieris "Göttlicher Komödie" aus dem 14. Jahrhundert standhält. Dabei ist anzumerken, dass Goethe die beiden berühmten Vorgänger verehrte und sich von ihnen inspirieren ließ. Was auch vollends gelungen ist, denn so wie sie durch geniale Zeilen und Redewendungen mehr als jede(r) andere jeweils die moderne englische und italienische Sprache geprägt haben, hat sich Goethe um die deutsche verdient gemacht. Nicht umsonst ist Faust I nach wie vor das meistgespielte Stück auf deutschen Bühnen, während in 151 Goethe-Instituten in 98 Staaten, weitgehend aus dem Bundeshaushalt finanziert, Deutsch als Fremdsprache angeboten und kulturelle Zusammenarbeit gepflegt wird.

Dennoch hat 2021 in einer hochumstrittenen Entscheidung und trotz erheblicher Kritik das Bildungsministerium im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen Faust I vom Lehrplan für das Abitur gestrichen. Offenbar meinten die Verantwortlichen in Düsseldorf, in einer digital vernetzten und zunehmend säkularen Gesellschaft interessiere sich niemand, insbesondere nicht die leicht zerstreute TikTok-Jugend, für die Erzählung vom Konflikt zwischen einem verstaubten alten Akademiker und einem möglicherweise nicht einmal existierenden, sondern lediglich herbeifabulierten Plagegeist. Wie sehr die pädagogischen Entscheidungsträger in Düsseldorf damals im Unrecht waren, geht zweifelsfrei aus dem neuen Buch Thomas Metschers, Deutschlands führendem marxistischen Literaturwissenschaftler, hervor. Einerseits ist die 610-seitige Lektüre "Faust und die Dialektik - Studien zu Goethes Dichtung" eine veritable Hommage an Deutschlands größten Schriftsteller im allgemeinen und dessen wichtigstes Werk im besonderen, andererseits eine akribisch durchgeführte philologische Untersuchung, die jedem Leser klarmachen dürfte, mit welch geistig-philosophischer Schärfe und beeindruckendem Sprachwitz Goethe in Faust I & II die existentiellen Probleme des Menschen in der bürgerlichen Moderne nicht nur analysiert, sondern auch noch Lösungsansätze dafür präsentiert hat.

Metscher vertritt den Standpunkt, dass Goethes Faust in den rund zweihundert Jahren seit seinem Erscheinen weitgehend missverstanden bzw. falsch interpretiert worden ist. Dafür gibt es aus seiner Sicht zwei Hauptgründe, die sich gegenseitig bestärken. Hier zu benennen ist erstens der schiere Umfang des Werks, zweitens die relative Zugänglichkeit von Teil I und die angebliche Unspielbarkeit von Teil II. Faust I umfasst 4.600 Verse, Faust II 7.600. Ungekürzt ergäbe das eine Spielzeit von über 20 Stunden. Im Mittelpunkt von Teil I, der ein Vierteljahrhundert vor Teil II herauskam, steht die Tragödie um Gretchen, die brave, herzensgute Bürgerstochter, die vom Lüstling Faust durch allerlei Liebeseinflüsterungen sowie die zauberische Mithilfe von Mephistopheles verführt, geschwängert und sitzengelassen wird, nur um etwas mehr als neun Monate später als gesellschaftlich Ausgestoßene ihren Säugling aus Verzweiflung zu ertränken und dafür auf dem Schafott den Kopf zu verlieren. Dazu stellt Metscher fest: "Faust I - Gretchens Tragödie - ist eine der härtesten Tragödien der deutschen, ja der weltliterarischen Theaterliteratur". (S. 177)

Die überschaubare Handlung, gepaart mit der emotionalen Wucht der von Goethe eigens ausgedachten Parabel von der Vernichtung des unschuldigen, gutmütigen Gretchens führte dazu, dass Faust I im Laufe des 19. Jahrhunderts zum festen Bestandteil des theatralischen Kanons im deutschsprachigen Raum wurde. Teil II, der erheblich länger und dessen Dramaturgie wegen der weit höheren Anzahl historischer und mythologischer Figuren und Schauplätze um ein Vielfaches komplexer ist, wurde bis heute höchst selten gespielt und blieb mehr oder weniger dem Lesepublikum überlassen. Eine Aufführung beider Teile zusammen hat es nur im absoluten Ausnahmefall gegeben und dann auch nur in einer mehr oder minder stark gekürzten Form wie zuletzt in der Inszenierung Peter Steins für die Expo 2000 in Hannover mit Bruno Ganz als Faust.

Für Metscher ist Faust I & II nur in Gänze richtig zu verstehen und zwar wegen der darin enthaltenen Fülle philosophischer, sozialer, theologischer und wirtschaftlicher Widersprüche, die Goethe auf höchstem ästhetisch-künstlerischen Niveau und "in singulärer Radikalität" (S. 138) hervorhebt, durch bestimmte Personen und Ereignisse repräsentieren lässt und dialektisch weiterentwickelt. Goethe hat 60 Jahre lang, praktisch bis zum letzten Lebenstag im Jahre 1832, an Faust gearbeitet. Eingeweiht in das Mammutvorhaben, machte sich sein Freund am Deutschen Nationaltheater in Weimar und Schriftsteller-Kollege Friedrich Schiller recht früh Sorgen, ob es Goethe gelingen würde, die selbstgestellte Herkules-Aufgabe zu bewältigen. Goethe war das Anliegen mit Faust II so wichtig, dass die Endfassung des Manuskripts erst nach seinem Tod veröffentlicht werden durfte.

In Faust I führt uns Goethe das engstirnige christliche Spätmittelalter vor, wo der Hauptprotagonist die Fesseln des thomistischen Scholastizismus abwirft, um mit Unterstützung eines neuen, wundersamen Verbündeten aus der Unterwelt die Suche nach der finalen Erkenntnis, "was die Welt im Innersten zusammenhält", zu unternehmen. Bis dahin ist es ein langer und steiniger Weg, der manches Opfer kosten wird - allein in Teil I Gretchen, ihrer Mutter und ihrem Bruder das Leben und Faust seine Unschuld.

Ganz am Ende des ersten Teils wird Gretchens Seele doch noch durch göttliche Gnade gerettet, während für Faust im zweiten Teil die eigentliche Probe bevorsteht. Dort fungiert er als das neuentstandene bürgerliche Subjekt. Zusammen mit Mephisto steigt er zum Berater am kaiserlichen Hof auf, löst eine Finanzkrise durch die Einführung des Papiergelds aus und leitet damit gleichzeitig den Untergang des Feudalismus ein. Der Landadel wird durch den Kapitalisten abgelöst mit allen verheerenden Konsequenzen: Piraterie, Kolonialismus, Kriege, Vertreibung der ländlichen Bevölkerung in die Städte. Mit der Verbrennung des pfälzisch-deutschen Kaisers spielt Goethe auf die französische Revolution und die napoleonischen Kriege samt den damit einhergehenden Umwälzungen der damaligen Staatenwelt Europas an.

War Marlowes Helena im Grunde nur eine elisabethanische Chimäre, so macht Goethe aus ihr eine eigenständige Akteurin, in die sich der gute Faust gleich nach ihrer Heraufbeschwörung aus dem Hades verliebt, sie zur Gattin macht und mit ihr ein Kind, Euphorion, zeugt. Helena verkörpert zwar die Schönheit in Vollendung, doch durch ihre Erscheinung schafft es Goethe, den ganz großen Bogen über die Jahrtausende zu schlagen zwischen dem antiken Griechenland, dem alten Rom und der Renaissance, der Wiedergeburt von Kultur und Wissenschaft in Europa, und von der Schlacht von Pharsalos, wo 48 v. Chr. der Imperator in spe Gaius Iulius Cäsar die republikanischen Kräfte des Senats um Gnaeus Pompeius Magnus, entscheidend schlug, zum Tod seines englischen Brieffreunds, des schon zu Lebzeiten berühmt-berüchtigten britischen Romantikers Lord Byron, der 1824 in Messolonghi bei der Teilnahme am griechischen Unabhängigkeitskrieg gegen das Osmanische Reich fiel. Die Figur des ungestümen Euphorion, der auf den elterlichen Rat von Faust und Helena partout nicht hören will, immer höher in den Himmel fliegt und genau wie Ikarus einen tödlichen Absturz erleidet, ist auf Byron gemünzt.

Themen, die Anfang des 21. Jahrhunderts nicht aktueller sein könnten, hat Goethe bereits in Faust II vorweggenommen bzw. problematisiert. Faust betreibt im großen Stil Landgewinnung und trotzt mit einem Arbeiterheer dem Meer fruchtbaren Boden ab. Vorbild dafür war der badische Ingenieur Johann Gottfried Tulla, der 1817 mit der Rheinbegradigung begann und in den darauffolgenden zehn Jahren die wesentlichen Maßnahmen des pharaonisch anmutenden Eingriffs in die Natur vorantrieb. Dabei stellt Goethe ganz im pantheistisch-spinozistischen Sinne klar, dass der Mensch als Teil der Natur nur im Einklang mit ihren Schöpfungen agieren und nicht wie Urvater Adam in der Bibel schlicht als Herr und Gebieter über sie verfügen darf.

In Faust II begegnen wir auch dem Homunculus, einem von Fausts Schüler Wagner geschaffenen künstlichen Menschen, der nur in einer Phiole existiert und sich bei der versuchten Befreiung daraus gänzlich im Meer auflöst. Der Homunculus stellt zweifelsfrei eine Frühform dessen dar, was man heute unter "künstlicher Intelligenz" versteht, und sein eingeschränktes Dasein und trauriges Ende werfen ähnlich wie Mary Shelleys 1818 erschienener Schauerroman "Frankenstein; or, The Modern Prometheus" ernsthafte Fragen bezüglich des Strebens nach der Überwindung der Mortalität durch den Griff zu technologischen Hilfsmitteln - Stichwort Transhumanismus - auf.

Ein Faden, der sich durch Faust I & II zieht, ist die Anthropodizee. Um sie zu erklären, muss man auf ein Problem zurückgehen, das entstand, als in weiten Teilen Europas, Nordafrikas und Westasiens der Monotheismus den Polytheismus ablöste, nämlich wie man sich Leid und Übel wie mütterliche Mortalität, Kindersterblichkeit, Seuchen, Erdbeben, Dürren, Hungersnot et cetera in einer göttlich geschaffenen Welt erklärt. Die Polytheisten hatten es da leichter; für das Auftreten von Unheil machten sie böse Kräfte verantwortlich, die sie personifizierten und mit jeweils eigenen Namen versahen. Mit dem Umstieg auf den einen Allmächtigen war das weitaus schwieriger. Hat Gott Böses und Unheil in die Welt - unter anderem in Form des Satans - gebracht und wenn ja, warum? Um uns zu prüfen, oder ist Gott vielleicht selbst böse? Solche Fragen beschäftigen nicht nur jüdische, christliche und islamische Theologen bis heute.

Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts hat Gottfried Wilhelm Leibniz, ein Vordenker der Aufklärung, die Theodizee (Rechtfertigung Gottes) erdacht, die darauf hinausläuft, Gott habe die bestmögliche Welt erschaffen; darin seien Übel und Leid als Strafe, als Anreiz zu moralischem Handeln und als Kontrast zum Guten notwendig. Als Humanist, der ohne die Berufung auf jenseitige Kräfte oder Instanzen auskommen sollte, sah sich Goethe verpflichtet, eine Rechtfertigung des Menschen, der ebenfalls seit seiner Entstehung Unheil anrichtet, zu formulieren. Dies tat er mit der Geschichte des Faust, des Tatmenschen, dessen unermüdliches Streben nach Höherem ungeachtet aller Fehltritte ihn am Ende doch noch rettet. Wie Metscher bereits 2023 im Buch "Sein und Bewußtsein - Ontologische Reflexionen" schrieb; "Der Mensch ist, nach Marx 'bewußte Lebenstätigkeit' - 'freie bewußte Tätigkeit'." [1] Nicht umsonst verwirft Faust, ganz der Exeget, am Beginn des Schauspiels in seinem Arbeitszimmer die herkömmliche Übersetzung des bedeutungsschweren Satzes um den Logos aus dem Johannes-Evangelium, "Am Anfang war das Wort", und ersetzt ihn mit "Am Anfang war die Tat", weil er diese Auslegung sinnvoller findet.

Ein wichtiges Element von Faust ist Goethes Einsatz von Ironie. Dafür ist Mephistopheles mit seinen verächtlichen, aber dennoch meist humoristischen Einwürfen und Kommentaren berühmt geworden. Laut Metscher haben jedoch die Besucher der allermeisten Faust-Aufführungen und sogar nicht wenige Goethe-Experten die wichtigste Pointe des ganzen Stücks gar nicht begriffen, entweder weil sie die eigentliche Schlussszene gar nicht zu sehen bekommen oder nicht richtig ernst genommen haben. Der sterbende und inzwischen erblindete Faust hält in der vorletzten Szene, "Grablegung", den Schlussmonolog über seine positive Vision der menschlichen Zukunft in Harmonie mit der Natur. Seine letzten Worte lauten wie folgt:

"Ein Sumpf zieht am Gebirge hin,
Verpestet alles schon Errungene;
Den faulen Pfuhl auch abzuziehn,
Das letzte wär das Höchsterrungene.
Eröffn' ich Räume vielen Millionen,
Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen.
Grün das Gefilde, fruchtbar! Mensch und Herde
Sogleich behaglich auf der neusten Erde,
Gleich angesiedelt an des Hügels Kraft,
Den aufgewälzt kühn-emsige Völkerschaft!
Im Innern hier ein paradiesisch Land:
Da rase draußen Flut bis auf zum Rand!
Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschießen,
Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen.
Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben,
Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß!
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!
Zum Augenblicke dürft ich sagen:
'Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdentagen
Nicht in Äonen untergehn.'-
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick."[2]

Faust glaubt, die eifrigen Lemuren schafften gerade diesen "freien Grund"; tatsächlich schaufeln sie im Auftrag von Mephistopheles sein Grab. Als Faust nach der obigen Aussage seinen letzten Atem aushaucht, triumphiert Mephistopheles mit der bissigen, sarkastischen Bemerkung, "Er fällt! es ist vollbracht", denn er glaubt die Wette gewonnen und eine weitere Menschenseele ins Verderben gestürzt zu haben. Doch der Meister der Ironie hat sich verrechnet, denn in der allerletzten Szene, "Bergschluchten", in der allerlei singende Engel, heilige Anachoreten und selige Knaben auftreten, die Fausts Erlösung begleiten und deuten, steigt Gretchen vom Himmel herab, erteilt dem Geliebten doch noch die Gnade und nimmt ihn mit in die Ewigkeit.

Eros, der Lebenstrieb, mit dem alles begann, ist Agape, der selbstlosen Liebe, gewichen. Gretchen hat das Versprechen, das sie im ersten Teil durch das Singen der Ballade "Der König in Thule" durchklingen ließ, nämlich die Liebe über den Tod hinaus, eingelöst und ist damit selbst zur Göttin geworden. Mit dem Verweis auf die selbstlose Liebe als wichtigsten Schlüssel hin zu einer menschenfreundlichen, gerechten Gesellschaft, die diesen Namen verdient, hat Goethe am Ende seine wichtigste Botschaft der Nachwelt übermittelt. Sie ist auch nicht ungehört geblieben. Albert Einstein zum Beispiel soll in einem Brief an seine Tochter die Liebe als "universelle Kraft" des Kosmos bezeichnet haben. Vielleicht deshalb drehten sich zwei der erfolgreichsten Science-Fiction-Filme der letzten Jahre, Luc Bessons "Das fünfte Element" von 1997 und Christopher Nolans "Interstellar" von 2014, um das Prinzip Liebe, das alle anderen Kräfte und Dimensionen übertrifft.

Auch wenn Thomas Metschers "Faust und die Dialektik" in erster Linie an ein philologisches Fachpublikum gerichtet zu sein scheint, hat er zweifelsohne mit unzähligen gut nachvollziehbaren Erläuterungen, Ausführungen und Querverweisen sein Hauptziel erreicht, nämlich einen jeden Leser damit zu ermutigen, in die wunderbare Welt des Sprachgenies Goethe einzutauchen.

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Fußnoten:

[1] REZENSION/772: Thomas Metscher - Sein und Bewußtsein (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar772.html

[2] Alle Faust-Zitate nach: Johann Wolfgang Goethe, Faust - Eine Tragödie. Erster und Zweiter Teil, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1977

28. Mai 2025



Thomas Metscher Faust und die Dialektik
Studien zu Goethes Dichtung
610 Seiten
ISBN 979-3-946946-41-0
 
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 183 vom 5. Juli 2025


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