Konrad Lotter
Realer Humanismus
Begriff und Geschichte
Buchcover: © by Mangroven Verlag
"Menschlichkeit" - der anheimelnde Klang des Wortes verweist auf eine Utopie, auf ein niemals realisiertes Ideal. Wäre es anders, bedürfte es keiner Beschwörung des Prinzips der Menschenliebe, ihre Praxis wäre an die Stelle dessen getreten, was weltweit im Argen liegt und kein Zeichen umfassender Besserung aufweist.
Ideal und Wirklichkeit eines gewaltfreien Umgangs miteinander in Deckung zu bringen ist der Anspruch des klassischen Humanismus, ob er den Menschen nun durch zivilisatorische Höherentwicklung oder bildungsbürgerliche Verfeinerung dazu ermächtigen will. Unabgegolten ist beides zumindest in Sicht auf jene humanitas, die dem Begriff des Menschen das Ideal der Liebe hinzufügt, von der in allen Sprachen viel gesungen und geträumt wird, gerade weil ihre universale Verwirklichung aussteht.
Um diese Leerstelle kreist auch der Versuch des Philosophen, Literaturwissenschaftlers und Journalisten Konrad Lotter, die zwischen unhinterfragtem Alltagsverständnis und wissenschaftlicher Definition weit ausschwingende Deutung dieses weltanschaulichen Begriffs auf den Punkt praktischer Handhabbarkeit zu bringen.
Die von ihm in Angriff genommene geschichtliche Betrachtung bedarf des Anscheins von Neutralität und Objektivität nicht, um faktisches Wissen zur Geschichte des Begriffs vom Humanismus zu vermitteln. Auch dort, wo Lotter dessen Stationen und Wandlungen chronologisch von der Antike bis zu heutigen Positionierungen, die sich einer Erweiterung oder gar Überwindung klassischer Rezeption verpflichtet fühlen, umfassend bespricht, zieht sich sein Anliegen, die Idealisierung des Humanismus zugunsten einer historisch-materialistischen Gegenposition zu verwerfen, wie ein roter Faden durch die Lektüre.
Von daher ist die Analyse dessen, was bisher unter diesem Etikett zu Markte getragen wurde, vom Grundton produktiven Scheiterns bestimmt. Um dem Humanismus im globalen Zustand spätkapitalistischer Krise, fortgesetzter kolonialistischer Ausbeutung, nationalchauvinistischer Identitätsbildung und interimperialistischer Kriege etwas abzugewinnen, bedarf es der schonungslosen Kritik idealistischer Entwürfe, die im schlimmsten Fall das Gegenteil ihrer Hoffnung spendenden Zielsetzung bewirken. Wo dem Attribut des Menschlichen - wie etwa im Namen der Menschenrechte geführter Aggressionskriege - die Funktion eines Wundpflasters zugewiesen wird, das die Misere nicht beseitigt, sondern mit kosmetischen Mitteln beschönigt, machen sich Zynismus und anwachsende Zustimmung zu faschistischem Krisenmanagement breit.
"Wirklicher Humanismus lässt sich nicht in den Grenzen des Staats verwirklichen. Wirklicher Humanismus besteht nicht in der Emanzipation der Staatsbürger von der Religion, sondern in der Emanzipation der Menschheit von der 'Unmenschlichkeit der heutigen Lebenspraxis, die im Geldsystem ihre Spitze hat'." (S. 62)
Ob "wirklich" oder "real" - für Lotter kann der Humanismus nur in der Überwindung des Privateigentums und der damit entfesselten Gewaltverhältnisse aufgehen. Unter Berufung auf Karl Marx macht der Autor die Eigentumsfrage zum Dreh- und Angelpunkt seiner Untersuchung. Schritt für Schritt zeigt er anhand der Untersuchung der philosophischen Positionen, die im Disput zwischen Hegel, Feuerbach, Marx, Bauer, Heß, Stirner und anderen im sogenannten Vormärz von 1830 bis 1848 bezogen wurden, wie die Abkehr von der Religion in Wirklichkeitsauffassungen mündete, deren Spektrum wiederum von idealistischer Verklärung bis historisch-materialistischer Widerspruchsbewältigung reichte.
Insbesondere die große Bedeutung Ludwig Feuerbachs und seiner Rückführung der Theologie auf Anthropologie für die Überwindung religiöser Glaubensvorstellungen nimmt in dem Text viel Raum ein. Der Autor zitiert aus der berühmten Schrift "Zur Kritik der Hegelschen Rechts-Philosophie", in der Marx 1844 zum Abschluss der Kritik an der Religion den kategorischen Imperativ aufstellte, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". Lotter ergänzt: "Real wird der Humanismus aber erst dann, wenn er nicht bei der Kritik des Staats, der Politik oder der Verhältnisse stehenbleibt, sondern dazu übergeht, diese Schranken praktisch umzuwerfen und alle Fremdbestimmungen zu beseitigen." (S. 68)
Darauf zu hoffen, dass die sozialen und gesellschaftlichen Gewalten mit bloßer Menschlichkeit einzuhegen seien, entspräche hingegen dem humanistischen Appell, die Welt möge an der vermeintlichen Höherentwicklung des Homo sapiens genesen gemäß der Hoffnung, dass die Evolution schon jene zivilisatorischen Früchte tragen werde, die in Sicht auf eine Befreiung vom Naturzwang in Aussicht gestellt werden. Die verbreitete Annahme, die Bewegungsrichtung des Fortschritts gehe mit allgemeiner Verbesserung der Lebensverhältnisse einher, hat allerdings bis heute nur für eine Minderheit der Menschen gestimmt.
So wie die antiken Philosophen der Sklaverei bedurften, um den Höhenflug ihrer Ideen auch ganz materiell zu befeuern, so basierte der Renaissance-Humanismus auf feudalistischen Ausbeutungsverhältnissen, die in den modernen Industriegesellschaften in Form der bis heute unabgeschlossenen ursprünglichen Akkumulation brutal ins Werk gesetzt werden. Das Hervorbringen humanistischer Ideale hat die Aufhebung dieser Gewaltverhältnisse bis heute nicht ermöglicht, und an der Ernsthaftigkeit dieses Vorhabens können angesichts der geringen Anstrengungen, die gemacht werden, um die desaströse Polykrise zwischen Krieg, Klimakatastrophe und neofeudalem Kapitalismus zu überwinden, mehr Zweifel denn je geltend gemacht werden. So fristet der klassische Humanismus seine Existenz in den institutionellen Apparaten des bürgerlichen Legitimationsbetriebs, dessen in die Spiegelkabinette widerspruchsbereinigter Selbstvergewisserung führende Produktivität den jeweiligen Stand gesellschaftlicher Verwerfungen recht genau markiert.
Dies ist dem Autor bei seinem Versuch, den Humanismus als Motor sozialen Widerstands und Protests zu reanimieren, bewusst. Um der auf eine positive und idealistische Zukunftsperspektive, die allzu leicht als Ersatz für reale Veränderung missbraucht wird, orientierten Lesart des Humanismus entgegenzutreten, schlägt Lotter die Bewegungsform fortgesetzter Negation vor: "Stattdessen definiert er sich negativ, als fortschreitende Überwindung von Fremdbestimmungen, die die Menschen daran hindern, so frei und selbstbestimmt zu leben, wie es aufgrund der Entwicklung der Produktivkräfte und des gesellschaftlichen Reichtums möglich wäre." (S. 84)
Davon unberührt bleibt ein Begriff vom Menschen, der sich im Sinne evolutionärer Höherentwicklung gegen alle anderen Bioorganismen abgrenzt, als habe seine tierliche Herkunft nie stattgefunden. Mit beiden Beinen im Feuer metabolischer Wechselverhältnisse stehend bleibt der Mensch ein höchst flüchtiges Wesen und das Haus des affirmativen Humanismus akut einsturzgefährdet.
Ob der Mensch in Bezug auf antike Quellen als "Maß aller Dinge" (S. 12) gesetzt oder seine Existenz mit Kant im "Zweck an sich selbst" (S. 217) angesiedelt wird, ob "die Rückführung der Substanz auf das Selbstbewusstsein oder, anders ausgedrückt, die Erklärung der Substanz (des objektiven und absoluten Geistes) als Produkt oder Objektivation des Selbstbewusstseins" (S. 57) bestimmt wird, gemahnt der Versuch, mit dem Mittel sprachlicher Definition dingfest zu machen, was in den vielen Komposita mit dem Präfix "selbst" in zirkelschlüssiger Reflexion auf der Stelle tritt, an eine Form religiöser Beschwörung.
Welcher Seinsanspruch auch immer mit "Ich" oder "Selbst" erhoben werden mag, im Endeffekt bedarf es stets weiterer Instanzen, um ontologisch festzuklopfen, was schon vom binären Charakter sprachlicher Bestimmung her frei im Universum permanenter Veränderung schwebt. Die Unterstellung eines vermeintlichen Wesenskerns - der Mensch - ist eingebettet in ein Umfeld - die Natur - und vice versa. Ist die Beschwörung derartiger Seinspostulate noch so sehr von selbstevidenter Gültigkeit untermauert, bleibt der quasi religiöse Charakter derartiger Seinsbestimmungen doch unübersehbar.
Konsequente Negation der philosophischen und anthropologischen Befestigung des Begriffs vom Menschen führte allerdings in Bereiche, die sich gesellschaftlich nur bedingt vermitteln lassen. Der zweckrationale Konsens, die Stellung des Menschen im Kosmos anhand universaler Werte zu bestimmen, stößt wiederum auf den Widerstand jener Kräfte, die die hierarchische Ordnung des Lebens nicht zuletzt zu eigenen Gunsten als Norm setzen. Konrad Lotter nennt hier an erster Stelle Friedrich Nietzsche, dessen Idee von Humanität das Prinzip des Teilens und Herrschens auf die Spitze treibt.
Das Opfern großer Teile der Menschheit auf dem Altar der Höherentwicklung ist das explizite Credo seines "Elite-Humanismus" (S. 94), dessen verächtliche Haltung gegenüber der Masse jener Menschen, die nicht zur Entwicklung einer "stärkeren Species Mensch" (S. 94) taugen und daher entbehrlich sei, zur Legitimation des deutschen Faschismus gerne in Gebrauch genommen wurde. Für Nietzsche hat der Humanismus den Menschen in seinen Möglichkeiten beschränkt und herabgesetzt. Dessen "Entwilderung" setzt der Philosoph mit "Zähmung" und "Dressur" gleich, er verliere "seine ursprüngliche Größe, Freiheit, Schönheit und Würde und wird zum Massenmenschen und 'Hausthier' domestiziert" (S. 12).
Der Philosoph Peter Sloterdijk habe an das von Nietzsche attestierte Scheitern des Humanismus mit seiner Rede und seinem Buch 1999 zu den "Regeln für den Menschenpark" angeknüpft, kritisiert Lotter. Indem er den Begriff der "Züchtung" positiv bewertet und ihn lediglich im Kontext humanistischer Orientierung in Frage gestellt habe, soll sich Sloterdijk dem Post- oder Transhumanismus Julian Huxleys angedient haben. Der Bruder des Verfassers dystopischer Romane Aldous Huxley war ein Vordenker des evolutionären Humanismus und hat den Gedanken eugenischer Selektion durch wissenschaftliche Einflussnahme auf die Höherentwicklung des Menschen ganz so propagiert, wie es sein Bruder 1932 im Roman "Schöne neue Welt" auf hellsichtige Weise als dystopisches Szenario einer humangenetisch verfügten Welt in Szene setzte.
Die insbesondere in Bezug auf die Ermordung als "minderwertig" eingestufter PsychiatriepatientInnen und Sterilisierung für den NS-Rassestaat vermeintlich ungeeigneter Frauen allgemein verworfene Praxis staatlicher Bevölkerungspolitik findet sich heute wieder im ideologischen Überbau einer um "Biotechnologie, KI-Forschung, Robotik, Nanomedizin, Computer- oder Informationstechnik" (S. 14) kreisenden Innovationsoffensive. Deren Vordenker haben nichts Geringeres als die Entwicklung des Menschen über seine biologischen Grenzen hinaus zum Ziel. Der Elitencharakter transhumanistischer Zukunftsentwürfe lässt sich anhand der Aussagen und Forschungsprojekte jener Tech-Milliardäre studieren, für die sich die Menschheit in einem Übergangszustand zur totalen Entkörperlichung in virtuellen Welten und zur Auswanderung ins All befindet.
Die dazu erforderliche Überwindung egalitärer Werte, die der Dynamik marktförmiger Innovation im Wege stehen, wird unter dem Etikett "Longterminism" damit begründet, es sei effizienter, anstatt die zur Verfügung stehenden Ressourcen für den Erhalt ohnehin zum Untergang verdammter ErdenbewohnerInnen zu verschwenden, sie in die Zukunft einer lebenstüchtigeren, technologisch optimierten und mikroelektronisch transformierten Menschheit zu investieren.
Seit die BigTech-Entrepreneure um Elon Musk und Peter Thiel maßgeblichen Einfluss auf die Regierungspolitik des Trump-Regimes nehmen, hat die materielle Umsetzung derartiger Fantasmen deutlich an Fahrt aufgenommen. Sie fügt sich nahtlos ein in die scheinbar unaufhaltsame Durchsetzung nationalchauvinistischer und rassistischer Identitätspolitiken, die als Sprungbrett expliziter Ermächtigungsbestrebungen eine Form faschistischer Herrschaft ins Werk setzen, die nur bedingt die vertrauten Merkmale ihrer historischen Vorläufer aufweist. Was sich heute als KI-beschleunigtes Stadium der technologischen Moderne inszeniert, verfügt über Mittel den Menschen maximal atomisierender und determinierender Verfügungsgewalt, die für sich genommen erhebliche Gefahren autoritärer Ermächtigung mit sich bringen.
Ob ein antikapitalistischer Humanismus dieser technophilen Überwältigung etwas entgegenzusetzen hat, hängt nicht zuletzt davon ab, ob eine emanzipatorische Kritik bisheriger Menschheitskonzepte außerhalb philosophischer Diskurse, deren Reichweite auf kleine Minderheiten besonders interessierter Kreise beschränkt ist, Widerhall findet. Konrad Lotters Analyse und Kritik des Humanismus und seine Präzisierung als Instrument sozialökonomischer Gesellschaftstransformation leistet dazu wichtige Vorarbeit und ist zur Auseinandersetzung mit bürgerlich-säkularen Emanzipationsbestrebungen bestens geeignet.
28. Mai 2025
Konrad Lotter
Realer Humanismus
Begriff und Geschichte
Mangroven Verlag Kassel 2024
269 Seiten
978-3-946-94630-4
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 183 vom 5. Juli 2025
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