telegraph
Doppelausgabe 143/144
"In der Migration kommt die globale Ungerechtigkeit zum Ausdruck." Wie bitte? Migration hat einen politischen Hintergrund? Die Menschen migrieren nicht, weil sie sich im schwarz-rot-goldenen Deutschland in die Sozialsystem-Hängematte legen und ein sorgenfreies Luxusleben führen wollen? Diesen Eindruck könnte man zumindest bekommen, wenn man nichts anderes liest, sieht oder hört als das, was die einschlägig bekannten Massenmedien tagein, tagaus zu suggerieren versuchen. Sündenbockpolitik wie aus dem Lehrbuch.
Dass es auch anders geht, zeigt der "telegraph", eine aus der ostdeutschen Umweltbewegung hervorgegangene Zeitschrift, die es bis heute geschafft hat, dem Systemwechsel vom Realsozialismus zum manchmal irreal wirkenden Kapitalismus und allen damit verbundenen ökonomischen Fährnissen zum Trotz jedes Jahr Unbequemes, Nachdenkenswertes und Diskussionswürdiges zu veröffentlichen. Das obige Zitat stammt von Gerhard Hanloser, der einen Essay mit dem Titel "Auch eine Frage der Moral - Versuch zum aktuellen Rechtsruck" (S. 13) geschrieben hat.
Man muss Hanlosers Ausführungen über die Linke und deren Niedergang, über die einst nach Regierungsbeteiligung strebende PDS, über Antideutschtum und Identitätspolitik als Ablenkung vom Klassenkampf, über Wilhelm Reichs Faschismustheorie, Paolo Virnos These einer "Multitude" und viele Vor- bzw. Nachdenker aus dem linken Spektrum mehr nicht in jeder Hinsicht folgen, eines aber ist gewiss: Hier wird der Finger in die Wunde gesellschaftlicher Widersprüche gelegt und Position bezogen.
Die These von der Migration als Phänomen globaler Ungerechtigkeit mag in der heutigen Zeit unpopulär erscheinen und eine Partei, die diesen Standpunkt vertritt, Wahlstimmen kosten. Aber für Hanloser steht fest: "Es ist auch eine Frage des ethischen Überlebens der Linken, hier nicht einzuknicken. Den menschenverachtenden Zynismus zurückzuweisen und dem nationalistischen Opportunismus die kalte Schulter zu zeigen, müsste der nicht ganz so neue aufrechte Gang von Linken sein." (S. 26)
Das schrieb Hanloser zu einem Zeitpunkt, als die Partei die Linke noch nicht überaus erfolgreich mit 8,8 Prozent der Stimmen aus der Bundestagswahl hervorgegangen und mit 64 Abgeordneten ins Parlament eingezogen war.
Peter Nowak macht in seinem Aufsatz "Alles Faschismus oder was?" (S. 27) darauf aufmerksam, dass der Faschismus in der Ukraine hierzulande gerne negiert wird, während Jörg Kronauer die Ambitionen der Bundesmarine im pazifischen Raum aufs Korn nimmt (S. 37). Robin Welsch von der Informationsstelle Militarisierung e.V. (IMI) verschafft einen Überblick über die Wehrpflichtdebatte (S. 53), und passend dazu Lutz Greisingers empfehlenswerter Aufsatz zu "Russland als endzeitlicher Angstgegner" (S. 73). Er schreibt über religiös begründete antirussische Vorstellungen und geht dabei weit zurück bis in die frühjüdische Literatur, die Bibel und den Koran. In ihnen ist von Barbaren die Rede, die meist "Gog und Magog" genannt werden und in gewaltigen Horden von Norden her in Jerusalem einfallen.
An das hochumstrittene und zur Zeit fast täglich durch neue Meldungen aktualisierte Thema Künstliche Intelligenz hat sich José Méndez unter der Überschrift "KI und Individualität" gewagt (S. 64). In seinem Essay wäre vielleicht etwas weniger "name dropping" geeigneter gewesen, um die gesellschaftlichen Folgen der Anwendung Künstlicher Intelligenz auf das Individuum, das unter den vorherrschenden kapitalistischen Verhältnissen nichts anderes hat, als seine Arbeitskraft zu Markte zu tragen, und in Zukunft von den KI auskonkurriert werden könnte, zu analysieren. Das abschließende Plädoyer für ein "geeignetes Regelwerk" (S. 71), wenn Maschinen Entscheidungen für Menschen treffen, scheint als Ergebnis der Ausführungen zur KI dann doch etwas dünn.
Die aktuelle Ausgabe des "telegraph" umfasst neun Essays, eine Reihe von Gedichten, eine Abhandlung zu Audiobeiträgen und Neues vom Büchermarkt. Angereichert werden die 170 Seiten durch eine Vielzahl von Antikriegs-Grafiken aus der Hand von Otto Dix.
"Als letztes authentisches Projekt der Umwelt-Bibliothek Berlin und damit auch der linken DDR-Opposition, versucht der telegraph bis heute in einem ihm schon immer eigenen Verhältnis von Kontinuität und Brüchen für die nicht eingelösten Ziele der DDR-Opposition zu streiten. Die Redakteure verstehen sich als Teil der außerparlamentarischen Opposition, nicht als Ex-Oppositionelle und nicht als Opfer", heißt es in der Selbstdarstellung des "telegraphen" im Internet.
Nein, es handelt sich nicht um Ewiggestrige, die den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik beklagen. Die Betonung liegt auf "nicht eingelöste" Ziele der DDR-Opposition. Daran festzuhalten ist nicht das Schlechteste, auch und erst recht nicht in der heutigen Phase der Zeitenwende, erodierter Umwelt- und Sozialstandards und unter dem immer lauteren Klang der Kriegstrommeln. Zeitschriften wie der "telegraph" entreißen dem allgemeinen Vergessenstaumel, dass die vorgesehene gesellschaftliche Entwicklung nicht alternativlos sein muss.
25. Mai 2025
Prenzlberg Dokumentation e.V. (Hrsg.)
telegraph
Nr. 143/144, 2024/2025
Berlin
170 Seiten, 10,00 EUR
ISSN: 0863-3991
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 183 vom 5. Juli 2025
Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang