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NAHOST/272: Der Waffenstillstand muss ein Weg hin zum Ende von Israels Besatzung, Apartheid und Genozid sein


Amnesty International - Schweizer Sektion
Medienmitteilung vom 9. Oktober 2025

Israel/Besetztes palästinensisches Gebiet
Der Waffenstillstand muss ein Weg hin zum Ende von Israels Besatzung, Apartheid und Genozid sein


Das am 9. Oktober 2025 geschlossene Abkommen zwischen Israel und der Hamas lässt auf eine Lösung des Konflikts hoffen. Es muss jedoch auch tiefgreifendere Veränderungen nach sich ziehen, um ein längerfristiges Zusammenleben zu ermöglichen, wie die Generalsekretärin von Amnesty International, Agnès Callamard, festhält.

Israel und die Hamas haben sich auf die erste Phase eines Waffenstillstandsabkommens geeinigt, das die sofortige Öffnung von fünf Grenzübergängen beinhalten soll, um humanitäre Hilfe in den Gazastreifen zu ermöglichen. Er soll die rasche Freilassung aller lebenden israelischen und anderen Staatsangehörigen ermöglichen, die im Gazastreifen als Geiseln gehalten werden - dies im Austausch gegen palästinensische Gefangene. Ausserdem soll er zu einem teilweisen Rückzug des israelischen Militärs aus dem besetzten Gazastreifen führen.

Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International, sagt dazu in einer Erklärung:

Für mehr als 2 Millionen Palästinenser*innen im besetzten Gazastreifen, die zwei Jahre lang qualvolles Leid, unerbittliche Bombardierungen und systematischen Hunger inmitten des andauernden israelischen Völkermords ertragen mussten, aber auch für diejenigen, die von bewaffneten palästinensischen Gruppen als Geiseln gehalten werden, und für diejenigen, die von Israel willkürlich inhaftiert wurden, ist ein Abkommen, das den Schrecken der letzten zwei Jahre ein Ende setzen könnte, überfällig. Allerdings wird das Leid der Betroffenen damit nicht von einem Tag auf den anderen beendet sein. Viele werden nun genau beobachten, ob dies nicht nur eine weitere kurze Atempause ist.

Eine begrenzte Unterbrechung oder eine Verringerung des Ausmasses der Angriffe und nur ein Rinnsal an humanitärer Hilfe für den Gazastreifen sind nicht genug. Es muss eine vollständige Einstellung der Feindseligkeiten und eine Aufhebung der gesamten Blockade erfolgen. Israel muss den ungehinderten Fluss von Grundversorgungsgütern, also Lebensmitteln, Medikamenten, Treibstoff und Wiederaufbaumaterial, in alle Teile des besetzten Gazastreifens ermöglichen. Zudem muss Israel die Wiederherstellung grundlegender Dienstleistungen gewährleisten, um das Überleben der Bevölkerung zu sichern, die durch Hunger, wiederholte Wellen von Massenvertreibungen und einem Vernichtungsfeldzug extrem geschwächt ist. Diese Massnahmen sollten mit dem Rückzug des israelischen Militärs aus dem Gazastreifen und Sofortmassnahmen zum Wiederaufbau und zur Reparatur kritischer Infrastrukturen im gesamten Gazastreifen einhergehen.

Alle Palästinenser*innen, die binnenvertrieben wurden - die meisten von ihnen mehrfach - müssen dorthin zurückkehren können, wo sie gelebt haben, ohne dass Israel vorschreibt, wer zurückkehren darf und wer nicht.

Die Hamas und andere bewaffnete Gruppen müssen die Geiseln freilassen, um ihre seit zwei Jahren andauernde Tortur endlich zu beenden. Und Israel muss alle willkürlich inhaftierten Palästinenser*innen freilassen, die ohne Anklage oder Gerichtsverfahren als Verwaltungshäftlinge oder "ungesetzliche Kombattanten" festgehalten werden, insbesondere medizinisches Personal, das wegen der Versorgung von Patient*innen zu Unrecht inhaftiert ist.

Ein dauerhaftes Waffenstillstandsabkommen kann nur dann erfolgreich sein, wenn es auf der Achtung der Menschenrechte und des Völkerrechts beruht und ein sofortiges Ende des israelischen Völkermords an den Palästinenser*innen im Gazastreifen sowie konkrete Schritte zur Beendigung der rechtswidrigen Besetzung des gesamten besetzten palästinensischen Gebiets und zum Abbau des Apartheidsystems beinhaltet.

Der derzeitige Plan - der so genannte 'Trump-Friedensplan' - ist in dieser Hinsicht bedauerlicherweise unzureichend. Darin wird versäumt, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer von Gräueltaten zu fordern und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Um den Kreislauf von Leid und Gräueltaten zu durchbrechen, muss die seit langem bestehende Straffreiheit für die immer wiederkehrenden Menschenrechtsverletzungen in Israel und dem besetzten palästinensischen Gebiet beendet werden. Alle Staaten müssen ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nachkommen und die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Genozid zur Rechenschaft ziehen.

Israels Pläne, eine 'Sicherheitszone' (Pufferzone) auf dem fruchtbarsten Land des Gazastreifens zu errichten, würden Apartheid und Besatzung weiter festigen und die Ungerechtigkeit noch vergrössern. Jeder Plan, die Besetzung des Gazastreifens anderen zu übertragen, ohne die Bewegungsfreiheit mit dem Rest des besetzten Gebiets zu gewährleisten, wird nur die territoriale Fragmentierung vertiefen, die Israels Apartheidsystem stützt. Ebenso müssen alle Massnahmen, die die Geografie und die demografische Zusammensetzung anderer Teile des besetzten Gebiets, also des Westjordanlands einschliesslich Ostjerusalems, verändern, unverzüglich rückgängig gemacht werden.

Der vorgeschlagene Plan stellt nicht sicher, dass die Palästinenser*innen in vollem Umfang und auf sinnvolle Weise an allen Entscheidungen beteiligt werden, die die Zukunft des besetzten palästinensischen Gebiets, seiner Verwaltung und die Ausübung der Rechte der Palästinenser*innen betreffen. Ein Plan, der die Fehler und Misserfolge früherer Initiativen wiederholt, bei denen die Menschenrechte und die Ursachen des Unrechts ignoriert wurden, wird eine gerechte und nachhaltige Zukunft für alle in Israel und in dem besetzten palästinensischen Gebiet lebende Menschen nicht sicherstellen können.

Nach zwei Jahren beschämender Doppelmoral und Vetos, die den UN-Sicherheitsrat lähmten, während per Livestream ein Völkermord in die ganze Welt übertragen wurde, ist es an der Zeit, diesen Horror zu beenden, heilen zu lassen, was noch heilen kann, und zu retten, was von unserer gemeinsamen Menschlichkeit noch übrig ist."

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Quelle:
Medienmitteilung vom 9. Oktober 2025
Amnesty International, Schweizer Sektion
Speichergasse 33, CH - 3001 Bern
Telefon +41 31 307 22 22, Fax +41 31 307 22 33
Internet: www.amnesty.ch

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 10. Oktober 2025

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