Christoph Hein
Unterm Staub der Zeit
von Christiane Baumann
Buchcover: © 2023 by Suhrkamp Verlag
Entstaubtes hoch aktuell. Zu Christoph Heins Roman Unterm Staub der Zeit
Christoph Hein "entstaubt" ein ungewöhnliches Stück deutscher Geschichte, das durch die Biografie des Autors als historisch verbürgt gelten kann. Die Romanhandlung beginnt Ende August 1958 mit Daniels Abschied von Guldenberg, jenem Ort, der bei Hein, angefangen mit Horns Ende (1985), über Landnahme (2004) bis zum Roman Guldenberg (2021), immer wieder zur Projektionsfläche deutscher Geschichte wurde. Daniel, dem als Sohn eines Pfarrers in der DDR der Besuch des Gymnasiums verwehrt wird, geht nach Westberlin, um dort, wie sein Bruder, das Abitur zu erlangen. Gleich zu Beginn werden Signalworte gesetzt, die an die Vorgängerromane anschließen. "Anständig" sollen Daniel und seine Geschwister bleiben, sich "nicht wie die Zigeuner" aufführen oder "wie die Hottentotten" herumlaufen. Damit ist das den Text grundierende Motiv angeschlagen, das auch schon die Vorgängerromane bestimmte. Waren es in Horns Ende Sinti und Roma, die Ende der 1950-er Jahre in Guldenberg als Fremde kriminalisiert und vertrieben wurden, so in Landnahme die schlesischen Übersiedler, die nach dem Zweiten Weltkrieg als soziale Außenseiter Stigmatisierung und Ausgrenzung in der Stadt erfuhren. Im Roman Guldenberg, der zeitlich bis in die Gegenwart führt, gerieten schließlich minderjährige Migranten ins Visier der städtischen Bewohnerschaft, die diese Fremden ablehnt und auch vor tätlichen Angriffen nicht zurückschreckt.
Daniel wird von seinem Vater im Westberliner Internat, das im reichen Villenviertel des Grunewald liegt, in der Gewissheit abgeliefert, dass er dort mit offenen Armen empfangen wird: "jetzt gehörst du dazu. Endlich. Im Schülerheim wirst du endlich unter deinesgleichen sein. Anders als daheim. Aus Schlesien wurden wir vertrieben, und in Guldenberg blieben wir bis heute die Fremden, die nicht dazugehören. [...] Hier seid ihr keine Außenseiter mehr, hier seid ihr willkommen." Was Daniel tatsächlich im christlich geführten Schülerheim und im Westberliner Gymnasium, dem angeblich besten am Ort, erlebt, ist kollektive Ausgrenzung. Die sogenannten Ostklassen bilden den C-Zweig, der zu den Westberliner Gymnasiasten keinen Kontakt hat. "Man übersieht sich [...] für die sind wir die Russen", erklärt Bruder David. Die "Ostler" sind schon daran zu erkennen, dass sie ihre Bücher nur mit einem Gürtel zur Schule tragen. Sie versuchen, der Ablehnung mit Leistung und schulischen Erfolgen zu begegnen. Auch sonst ähnelt sich vieles in Ost und West. Der Gemeinschaftskunde-Unterricht entspricht dem ostdeutschen Fach Staatsbürgerkunde. Fehlten im ostdeutschen Literaturunterricht französische und amerikanische Autoren, so kennt das Westberliner Gymnasium russische und sowjetische Dichter ebenso wenig wie Bertolt Brecht oder Johannes R. Becher. Ideologische Prämissen hüben wie drüben. Die Trennung zwischen Ostlern und Westlern ist eine strukturelle, eine ökonomisch bedingte. Die Westberliner Elite mit den dickeren Brieftaschen bleibt unter sich. Die Ostler waren "Hungerleider", "die aus der Staatskasse finanziert wurden, nichts hatten, nichts konnten und überdies in ihrer Kindheit von einem kommunistischen Staat indoktriniert worden waren". Die Schere zwischen Arm und Reich tritt als Ursache von Fremdenfeindlichkeit und sozialer Ausgrenzung zutage, was sich vor dem Hintergrund der Flüchtlingsfrage brandaktuell liest. Nicht zuletzt drückten diese sozialen Mechanismen 1989 der "Wende" ihren Stempel auf.
Geistige Orientierung findet Daniel bei dem älteren Faro, ein sprechender Name, ein "Leuchtturm", der den Leser an die südportugiesische Stadt erinnert, die ein kulturträchtiger Ort ist und deren Historie, bis zur Steinzeit zurückreichend, bestimmt von machtpolitischen Interessen ein stetes Auf und Ab zwischen Zerstörung und Wiederaufbau, exemplarisch für Menschheitsgeschichte steht. Der Leuchtturm Faro eröffnet Denkräume, die die Romanhandlung fundieren. Der "Adjunkt" Faro, eine Bezeichnung für den "Gehilfen" eines Beamten, hilft Daniel geistig auf die Sprünge. Selbst aus ärmlichen Verhältnissen in Schleswig-Holstein stammend und zu den Ausgegrenzten gehörend, schreibt Faro an seiner Doktorarbeit zur Staatstheorie. Seine "Bibel" ist Machiavellis 1513 entstandenes Werk Il principe (Der Fürst), das Faro als Standardwerk zeitgenössischer Staatsraison begreift. Machiavellismus steht für skrupellosen Machterhalt. Faro will in seiner Doktorarbeit den "Machiavelli unserer Zeit" beschreiben. Schon Machiavelli habe die Gefahr einer "Pöbelherrschaft" umgetrieben, denn um "eine demokratische Selbstbestimmung" aufrechtzuerhalten, bedürfe es des mündigen Bürgers. Die Frage der selbstverschuldeten Unmündigkeit hatte Hein 2020 unter Bezug auf Kant in seiner Lessing-Erzählung Ein Wort allein für Amalia beschäftigt. Sein neuer Roman kreist um die Fragilität einer Demokratie, die auf den Schultern unmündiger Bürger ruht. Machtmenschen machiavellischer Prägung, bei denen sich Führungsstärke und Charisma mit Geld verbinden, haben so ein leichtes Spiel, zu einer Wirkungsmacht zu gelangen, die früher nur als Gewaltherrschaft funktionierte. Dieses Herrschaftsprinzip Il Democratico hebelt die "ehrwürdigsten Demokratien" aus. Es ist nur ein kleiner Schritt von der Demokratie in die Tyrannei. Wie das funktionieren kann, hat Wolfgang Martynkewicz in seinem Buch Salon Deutschland (2011) aufgezeigt, das die unselige Allianz von Geist und Macht nachzeichnet, die letztlich einem Adolf Hitler und der radikalen Rechten in der Weimarer Republik den Weg ebnete.
Als moderner Machiavelli erscheint im Roman der amerikanische Erweckungsprediger Billy Graham, den Daniel in Westberlin live erlebt und der als "Maschinengewehr Gottes" auf Menschenfang geht. Während Daniel und seine Freunde den Auftritt eher distanziert und amüsiert verfolgen, warnt Faro vor solchen charismatischen Führungsfiguren, die in ihrer eindimensionalen Denkart "verführerisch" wirken. Billy Graham wird in die Tradition eines Bernhard von Clairvaux gestellt, der "einer der schlimmsten Kriegstreiber in der Zeit der Kreuzzüge" war, denn "mit seinen feurigen Worten begeisterte er ganz Europa für diese mörderischen Kriege". Geldmacht und Demagogie bilden jenen gefährlichen Mix, der in der Geschichte immer wieder verheerende Folgen zeitigte. Geradezu schmerzhaft wird die aktuelle Gefährdung in einem Europa bewusst, das im Kriegs-Rhythmus tickt und sich in einer Aufrüstungsspirale befindet, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hat. Auch die 1950-er Jahre waren durch politische Fragilität und akute Kriegsgefahr geprägt. Der "Kalte Krieg" interessiert Daniel und seine Freunde nicht, wird aber schon bald mit dem Bau der Mauer 1961 politische Fakten schaffen, die ihr Leben folgenreich verändern.
Das literarische Panorama, das Heins Roman um die Hauptfigur Daniel entfaltet, bewegt sich auffallend im Umfeld des Ersten und Zweiten Weltkriegs, jenen unsäglichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die uns Warnung und Mahnung sein sollten. Da sind Friedrich Wilhelm Murnaus Filme zu nennen, insbesondere Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens (1922). Der Film verarbeitete die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs, eingeschlossen die überstandene Spanische Grippe, eine Pandemie, die diesen begleitete, und die daraus resultierende kollektive Verunsicherung angesichts politischer und gesellschaftlicher Instabilität, die Demokratien anfällig werden lassen. In der Westberliner Vagantenbühne erlebt Daniel Wolfgang Borcherts Drama Draußen vor der Tür (1947), dessen Kriegsheimkehrer Beckmann in die Gesellschaft nicht mehr zurückfindet. Er sieht Jean Paul Sartres Stück Geschlossene Gesellschaft (1944), in dem die Lüge das Miteinander bestimmt und dieses zur Hölle werden lässt. Schließlich wird er Mitwirkender an der Probenarbeit zu Jean Anouilhs Stück Der Reisende ohne Gepäck (1936), in dem die Hauptfigur nach dem Ersten Weltkrieg unter Amnesie leidet, was beispielhaft den Vorgang des kollektiven Gedächtnisverlusts symbolisiert. Daniel, der Dramatiker werden will, treibt es immer wieder zum Theater. Im Theaterzirkel erlebt er Arthur Schnitzlers Burleske Zum großen Wurstel, in dem nur noch der Tod Menschen und Marionetten voneinander zu unterscheiden weiß. Die Aufführung der Plautus-Komödie Der prahlerische Soldat in Latein offenbart die geistige Hohlheit eines Bildungsbürgertums, das sich mit dem Besuch schmückt, ohne den Text zu verstehen. Kunst wird zum Dekor. Für Daniel wird Schreiben zum Rückzugsort. Literatur und Kunst sind die Leuchttürme, die er einer fragilen, verstörenden, geradezu apokalyptischen Welt entgegensetzt. Sein Name weist nicht zuletzt ins Mythologische und lädt ein, das apokalyptische Daniel-Buch im Alten Testament mitzudenken, das die zerstörerische Weltgeschichte prophetisch in einer neuen, gerechten Gottes-Herrschaft aufhebt.
Im Roman Guldenberg wird das Gedächtnis als "stachlige Kehrseite unseres Lebens" bezeichnet, die das Verstehen der Gegenwart ermöglicht. Heins neuer Roman Unterm Staub der Zeit ist eine stachlige Chronik, ein Ausschnitt deutscher Nachkriegsgeschichte, in dem sich Ost und West für einen Moment in der Biografie Daniels treffen. Sich der Vergangenheit zu erinnern, ist Programm, wenn es eingangs heißt: "man sollte andere Nationen und Staaten nie leichtfertig verurteilen, sondern immer nach ihrer Geschichte fragen, denn nur so kann man verstehen, wie eine Nation zu dem geworden ist, was sie ist". Erzählt wird nüchtern und ohne Schnörkel, aber beziehungsreich und mit Tiefgang, den zu erschließen sich lohnt. Der stark autobiografisch geprägte Ich-Erzähler berichtet aus der zeitlichen Distanz humorvoll, flicht das eine oder andere pubertäre Abenteuer ein, weiß aber auch ironisch-bissig auszuteilen. Der Roman gehört in unsere verstörende Zeit und wird getragen von der Gewissheit, dass das Erzählen die Zeiten überdauert, denn "eine Geschichte endet, eine Geschichte beginnt".
25. September 2023
Christoph Hein
Unterm Staub der Zeit
Berlin: Suhrkamp Verlag 2023
Roman
220 Seiten
ISBN 978-3-518-43112-2
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 180 vom 4. November 2023
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