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REZENSION/058: Clemens Meyer - Über Christa Wolf (SB)


Clemens Meyer

Über Christa Wolf

von Christiane Baumann


Nachdenken über Christa Wolf. Ein überraschender Essay von Clemens Meyer über die Literatur der DDR

Clemens Meyer ist den meisten Literaturinteressierten vermutlich durch seinen erfolgreich verfilmten Debütroman Als wir träumten (2006) bekannt. Seitdem erschienen zahlreiche Werke, darunter die eindrückliche Antikriegserzählung Nacht im Bioskop (2020). Clemens Meyer ist ein Enkel des Halleschen Malers Otto Möhwald, auf den die kürzlich im Künstlerort Ahrenshoop eröffnete, bedeutende ostdeutsche Kunstausstellung Halle am Meer zu sprechen kommt. Möhwald gehörte zu jenen Kunststudenten der Burg Giebichenstein, die im Sommer 1951 mit ihrem Lehrer Ulrich Knispel einige Wochen in der berühmten Künstlerkolonie verbrachten und dort mit einer kleinen Ausstellung Aufsehen erregten. Die Ausstellung wurde zum Auslöser der sogenannten Formalismus-Debatte in der DDR. Die beteiligten Künstler erlebten in der Folge Diskriminierung und Ausgrenzung. Knispel und Charles Crodel verließen die DDR. Otto Möhwald blieb, wurde aber zwangsexmatrikuliert. Davon ist am Anfang von Clemens Meyers Essay über Christa Wolf zu lesen. Dabei erscheint Möhwald nicht als Märtyrer, sondern als ein Künstler, der sich den Widrigkeiten stellte - ob als Zeichenlehrer für die Arbeiter in Leuna und Buna oder ob als "Entroster oder Erdarbeiter" - und der Jahrzehnte später davon "ohne Groll" erzählte. Die Arbeitswirklichkeit wurde zum Erfahrungsschatz, der das eigene Schaffen prägte. Da ist Meyer auch schon beim Bitterfelder Weg, dessen Idee, wie er schreibt, in seiner "DNS" lag. Doch der Reihe nach.

Der Essay von Clemens Meyer über Christa Wolf ist in der von Volker Weidermann herausgegebenen Edition Bücher meines Lebens erschienen, in der unter anderem Helga Schubert und Florian Illies publizierten. Prägend wurden für Meyer Christa Wolfs Kindheitsmuster als "Erinnerungsmonument, Erinnerungsfragment, als Fund-Buch über die dunklen Jahre und über die Aufbruchsjahre", die Auskunft geben, "wie sind wir so geworden, wie wir heute sind ..." Sein Essay ist dabei weitaus mehr als eine Auseinandersetzung mit Wolfs einst in der DDR heiß diskutiertem Werk, das Meyer während seiner Bauarbeiterjahre täglich bei sich trug. Meyer entfaltet im Dialog mit der Schriftstellerin, mit einem in seinem Arbeitszimmer stehenden Bronze-Kopf, seine Sicht auf die Literatur der DDR, auf das was bleibt, was bereits verschüttet ist, und auf das, was nicht in Vergessenheit geraten darf und sollte. Er erinnert daran, dass es sich um bedeutende deutsche Literatur handelt, die uns und künftigen Generationen etwas zu sagen hat, und daran, dass das Vergangene nicht tot ist, "es ist nicht einmal vergangen". Mit dieser Zitat-Variation von William Faulkner eröffnete die Wolf ihre Kindheitsmuster. Es durchzieht wie ein Motto Meyers Essay.

Programmatisch eröffnet wird der Essay mit Zitaten aus einem der wichtigsten Texte der deutschen Exilliteratur. Es ist Bertolt Brechts Gedicht An die Nachgeborenen, das Ende der 1930-er Jahre entstand. Brecht vergewisserte sich seines Standortes als politischer Autor. Es ist ein Text, der die "finsteren Zeiten" des Nationalsozialismus in Erinnerung ruft und zugleich auf eine deutsche Literaturtradition weist, die sich engagiert Krieg und Barbarei entgegenstellte und an die nach 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR angeknüpft wurde. Damit sind Voraussetzungen und Bedingungen einer Literatur genannt, deren Bedeutung aus gesellschaftlicher Relevanz erwuchs und die eine überraschende Vielfalt aufwies. Zu den heute nahezu vergessenen Autoren zählt Meyer Anna Seghers aber auch Louis Fürnberg, den er als "zu Unrecht auf sozialistische und agitatorische Dichtung" reduziert sieht. Wer Fürnbergs Gedicht Epilog liest, mit dem Meyers Essay endet, ahnt, welche literarischen Schätze es zu bewahren gilt. Im Nachdenken über Christa Wolf wird Wolfgang Hilbig, ein Autor der die DDR 1985 verließ, zum Gegenspieler: der "lyrisch Suchende und die Prosadichterin, der Stilist und die Essayistin", die einander schätzten und die unterschiedlicher nicht sein konnten. Christa Wolf wird als wichtige Gesprächspartnerin nicht nur Hilbigs, auch vieler anderer Autoren sichtbar und als Persönlichkeit, die die Entwicklung der Literatur in der DDR mit gestaltete. Kritisch hinterfragt Meyer ihr angehängte Etiketten wie das der "Staatsdichterin", das zurückgewiesen wird. In diesem Kontext fällt der Name Hermann Kants, der in der DDR ein gefeierter Autor und als Präsident des DDR-Schriftstellerverbandes eine Institution war. Hatte nicht einst der bedeutende westdeutsche Kritiker Fritz J. Raddatz in der Zeit Kants Roman Der Aufenthalt aufgrund seiner literarischen Intensität als "Meisterwerk" anerkannt, provoziert Meyer. Gilt es nicht, ein solches ungeachtet der umstrittenen Persönlichkeit des Autors zu bewahren? Meyers Essay schlägt den Bogen zu Christa Wolfs berühmter Rede am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexander-Platz, die gewissermaßen das Ende der Literatur der DDR markierte. Er präsentiert und erörtert Texte und Werke, die eben gerade nicht, wie Volker Weidermann in seinem Vorwort meint, uns als "Gegenreich der Wirklichkeit" begegnen. Es entsteht vielmehr das Bild einer Literatur, die in gesellschaftlichen Prozessen verwurzelt war und sich einmischte. Meyer stellt auch klar, dass es in den Debatten nach der sogenannten "Wende" nicht um literarische Qualität ging, sondern dass das von Weidermann eingangs postulierte "Abräumen" der DDR-Literatur von "moralischen Scharfrichtern aus dem Westen" in Wirklichkeit eine ideologische Sortierung nach "Staatskonformität versus Dissidententum" war.

Im Gespräch mit Christa Wolf entsteht Meyers ganz persönliche Topographie der DDR-Literatur mit Autorennamen und Werken, die ihn prägten: Bertolt Brecht und Louis Fürnberg, Werner Bräunig und Werner Heiduczek, Johannes R. Becher, Erik Neutsch, Hermann Kant, Karl-Heinz Jakobs, Wolfgang Hilbig, Erich Loest, Fritz Rudolf Fries, Anna Seghers, Brigitte Reimann und Irmtraud Morgner, Christoph Hein, Volker Braun, Bernd Jentzsch, Rainer Kirsch, Jurij Brezan, Helga Königsdorf und natürlich immer wieder Christa Wolf. Meyer sucht den europäischen Vergleich, wie bei Konrads Wolf Verfilmungen, die er als "großes europäisches Kino" würdigt, womit er Denkanstöße gibt, auch aus dieser Perspektive neu auf Autoren der DDR und ihre Werke zu schauen und sie im Kontext einer europäischen Moderne zu diskutieren.

Bei allem grundiert Meyers Essay eine tiefe Beunruhigung, die für ihn als Autor existenziell ist. Zum einen steht die Frage im Raum, was Literatur heute noch zu leisten vermag. Überfordern Wolfs Kindheitsmuster als Kriegsroman, Zeitroman, Kindheitsroman, als Roman über das Entstehen eines Romans, aufgrund der Intellektualität und vor dem Hintergrund, dass der "Wissensstand über eine Deutsche Demokratische Republik und ihre Literatur, ihre Romane, ihre Dichter und Schreiber vergilbt in den Bibliotheken" heutige Leser? Meyers Essay ist ein Anschreiben gegen das Vergessen, ein sich Vergewissern, dass das Vergangene wirklich nicht vergessen ist, getrieben vom Wunsch, "dass die Jugend wieder Wolf liest."

Zum anderen gibt es im Frühjahr 2022 "eine Erschütterung". Es ist der Ukraine-Krieg: "Nichts ist mehr dasselbe bei der Lektüre. Bei der Arbeit. Im Schreiben. Kindheitsmuster, das auch ein Buch über den Krieg ist, liest sich nun plötzlich anders." Meyer sucht nach Orientierung und nach Antworten. "Wie sieht er aus, der Krieg?" Er sucht historische Bezüge, erinnert den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, den deutschen Faschismus und daran, dass 1999 deutsche Flugzeuge über Serbien und Montenegro bei den NATO-Bombardements mitwirkten, die bis heute völkerrechtlich umstritten sind, da sie ohne UNO-Mandat erfolgten. Auch das war ein Krieg mitten in Europa. Meyers Petitum: "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg". Das bleibt aktuell und "immer wieder muss man es sagen und schreiben". Sein Essay ist eine Absage an Krieg und "Kriegstermini" jeder Art und ein Plädoyer für Abrüstung und Abrüsten in jeder Form, auch in der Sprache. Sprache und Literatur werden als Ort der Verständigung und des Brückenschlags zwischen den Völkern beschworen: "Kindheitsmuster, Menschheitsmuster, die Kriege dringen ein und brechen alle Brücken hinter sich ab."

Meyer unternimmt "Reisen in eine scheinbar verschwindende Literatur", für die er eine differenzierte Betrachtung einfordert und pauschale Verurteilungen wie Rechtfertigungen ablehnt. Dabei kapriziert er sich auf den Begriff der Soap als Schreibformat, das schlichte Unterhaltung verspricht. Seine "DDR-Literatur-Soap" ist tatsächlich mehr als das und ob man, um die Lektüre leicht verdaulich zu gestalten, eine solche Terminologie braucht, sei dahingestellt. Als ästhetisches Mittel zur Distanzierung funktioniert er nicht, da der Begriff aufgesetzt wirkt, ebenso wie die Variation des Gänsemagd-Märchens oder das Kokettieren mit der Zweitklassigkeit eines Literaturwissenschaftlers, die er im eigenen Schreiben zu sehen meint. Doch ob nun "Roadmovie", "Soap über den wilden, wilden Osten" oder "DDR-Nouvelle-Vague" - unterhaltsam ist der Essay allemal und eine Einladung an eine jüngere Leserschaft, die DDR-Literatur zu erkunden.

8. Dezember 2023

Clemens Meyer:
Über Christa Wolf
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2023
ISBN 978-3-462-00416-8
20,00 Euro
110 Seiten

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 8. Dezember 2023


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