GEMEINSAME PRESSEMITTEILUNG:
Deutsche Rentenversicherung, Caritas, Diakonie und Deutsches Rotes Kreuz e.V. - Pressemitteilung vom 15.05.2025
Erster bundesweiter Forschungsbericht zu ehemaligen Kinderkurheimen
Deutsche Rentenversicherung, Caritas, Diakonie und DRK arbeiten Geschichte des Kinderkurwesens auf und zeigen damalige Missstände auf.
Der Deutsche Caritasverband, die Diakonie Deutschland, das Deutsche Rote Kreuz und die Deutsche Rentenversicherung veröffentlichen heute eine umfassende und unabhängige Untersuchung zur Aufarbeitung des bundesdeutschen Kinderkurwesens zwischen 1945 und 1989. Die wissenschaftliche Arbeit hat ein Forschungsteam der Humboldt-Universität zu Berlin unter der Leitung von Prof. Dr. Alexander Nützenadel verantwortet. Das Forschungsteam arbeitete grundlegende Strukturen der Kindererholungskuren auf und ordnete diese in dem nun vorliegenden Forschungsbericht empirisch, sozialrechtlich, historisch und konzeptionell ein. Zum ersten Mal wurde das einstige bundesdeutsche Kinderkurwesen grundlegend und umfassend als Gesamtphänomen untersucht. Dafür haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler historische Dokumente aus rund 60 Archiven analysiert und zahlreiche Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geführt. Begleitet wurde die Forschung durch einen Projektbeirat. Diesem gehörten auch Vertreterinnen von Betroffeneninitiativen an.
Zwischen 1951 und 1990 verbrachten laut Schätzung der Autorinnen und Autoren 11,4 Millionen Kinder und Jugendliche Aufenthalte in Kinderkur- und -erholungsheimen sowie -heilstätten. Ziel der damaligen Kinderkuren war in der Regel die gesundheitliche Stärkung bei guter Ernährung und an frischer Luft. Verschickt wurden Kinder aus allen sozialen Schichten. Das Kinderkurwesen der alten Bundesrepublik war durch eine komplexe Struktur von Trägern, Fach- und Interessensverbänden, Entsendestellen und nicht zuletzt durch eine große Zahl von Heimen geprägt. Die Kuren wurden meist von Ärzten verschrieben oder von der "Fürsorge", zum Beispiel von Jugend- und Gesundheitsämtern, veranlasst. Die Kosten trugen meistens Krankenkassen und damalige Rentenversicherungen. Die Einrichtungen waren überwiegend in privater Trägerschaft oder wurden von Wohlfahrtsverbänden, Kommunen oder anderen staatlichen Akteuren betrieben. "Auch wenn Kinder und Jugendliche positiv oder neutral von ihren Kuren berichten, war die Realität in den Heimen häufig eine andere. Das Kinderkurwesen erwies sich bis in die 1980er Jahre hinein als sehr beständiges Massenphänomen. Umso schwerer wiegt, dass sich erhebliche strukturelle Missstände ausmachen lassen, unter denen zahlreiche Kurkinder zu leiden hatten", so Professor Nützenadel.
Viele Kinder hatten in den Kinderkureinrichtungen keine erholsame oder heilsame Zeit. Sie berichten von mangelhaften räumlichen und hygienischen Bedingungen und davon, dass sie kontrolliert, eingeschüchtert und zum Teil gedemütigt wurden. Manche waren Gewalt ausgesetzt.
Die Forschungsergebnisse machen deutlich, dass es sich bei den Missständen nicht um Einzelfälle handelte, sondern um strukturell bedingte Vergehen in zahlreichen Einrichtungen. Bedingt unter anderem durch häufig fehlende angemessene pädagogische Konzepte, Mangel an pädagogischem Fachpersonal und eine unzureichende Aufsicht gab es über Jahrzehnte Missstände in den Heimen. An vielen Stellen änderte sich daran über lange Zeit nichts, obwohl es entsprechende Hinweise und Beschwerden gab. Ab Mitte der 1970er Jahre läuteten einschneidende sozialpolitische und sozialrechtliche Veränderungen sowie soziostrukturelle Wandlungsprozesse das Ende der damaligen Kinderkuren ein.
Die Initiative Verschickungskinder, die den Forschungsbericht im Beirat begleitet hat, betonte: "In der Untersuchung der Humboldt-Universität zu Berlin wird das zahlenmäßige Ausmaß des Kinderverschickungswesens sehr deutlich. Forschungsergebnisse wie diese sind unverzichtbar, um den Wahrheitsgehalt und die Relevanz der Erlebnisberichte der vielen Betroffenen zu unterstreichen." Der Deutsche Caritasverband, die Diakonie Deutschland, das Deutsche Rote Kreuz und die Deutsche Rentenversicherung sprechen in Bezug auf die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse ihr großes Bedauern über die damaligen Geschehnisse aus und stellen sich der Vergangenheit. Die Studie sei ein wichtiger Schritt zur Aufarbeitung der damaligen Geschehnisse, mit der man Verantwortung übernehmen wolle.
Gundula Roßbach, Präsidentin der Deutschen Rentenversicherung Bund:
"Das Schicksal ehemaliger Verschickungskinder betrifft auch die
Deutsche Rentenversicherung. Mit der vorliegenden Untersuchung wurde
erstmals diese Vergangenheit wissenschaftlich aufgearbeitet. Allen
Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die den Mut aufgebracht haben, ihre
Erinnerungen zu teilen und so am Gelingen der Studie mitgewirkt haben,
gilt unser aufrichtiger Dank. Diese haben uns tief berührt. Heute sind
Kinderschutz, Mitbestimmung und Qualitätssicherung zentrale
Grundpfeiler in der Kinder- und Jugendreha der Deutschen
Rentenversicherung. Bei allen Fortschritten mahnen uns die Ergebnisse
eindringlich, für die Zukunft wachsam zu bleiben."
Eva Welskop-Deffaa, Präsidentin Deutscher Caritasverband:
"Statt Fürsorge und Geborgenheit haben viele der verschickten Kinder
Demütigung und Schmerz erfahren. Die Erkenntnisse des
Forschungsberichts erschüttern uns. Wir können das erlittene Leid
nicht ungeschehen machen, aber wir stehen zu unserer Verantwortung und
sprechen den Betroffenen unser tief empfundenes Bedauern aus. Die
Durchführung von Kindererholungsmaßnahmen ist Teil der Geschichte
verschiedener Einrichtungen und Träger in der verbandlichen Caritas.
Wir haben diese Geschichte sichtbar gemacht und dürfen sie nicht
vergessen - dafür müssen wir Orte oder Momente der Erinnerung
schaffen."
Rüdiger Schuch, Präsident der Diakonie Deutschland:
"Auch in Kinderkureinrichtungen der Diakonie haben Kinder und
Jugendliche in der damaligen Zeit Gewalt und Erniedrigung erfahren.
Das bedauere ich sehr. Mir ist wichtig, dass die vorliegende Studie im
Dialog mit Betroffenen entstanden ist. Die wissenschaftliche Expertise
und die Wahrnehmung erlittenen Leids - beides zeichnet diesen Beitrag
zur Aufklärung der festgestellten Missstände aus. Die Kinder- und
Jugendpädagogik hat sich seither sehr viel weiterentwickelt und stellt
heute die Rechte und die Würde von jungen Menschen in den Mittelpunkt.
Das ist zentrales Leitmotiv diakonischer Kinder- und Jugendhilfe."
Christian Reuter, Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes:
"Mein besonderer Dank gilt den Betroffenen, die im Rahmen der
Untersuchung ihre Schicksale geteilt und so an der notwendigen
Aufklärung mitgewirkt haben. Die damaligen Missstände in einigen
unserer Einrichtungen sind erschütternd und beschämend sowie mit
unseren Grundsätzen unvereinbar. Ich möchte im Namen des DRK bei allen
Betroffenen aufrichtig um Verzeihung bitten. Auch wenn unsere
Einrichtungen heute nach komplett anderen Standards arbeiten, bei
denen das Wohlergehen und die Rechte von Kindern und Jugendlichen
oberste Priorität genießen, sind die damaligen Missstände auch eine
Mahnung, alles dafür zu tun, dass so etwas nie mehr passiert."
Das Forschungsprojekt wurde an der Humboldt-Universität zu Berlin unter Leitung von Prof. Dr. Alexander Nützenadel durchgeführt. Herr Nützenadel lehrt und forscht dort seit 2009 als Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Er und sein Team haben in der nun vorliegenden Studie die grundlegenden Strukturen des bundesdeutschen Kinderkurwesens zwischen 1945 und 1989 umfassend untersucht. Um der Komplexität der in vielen Teilen wissenschaftlich bisher kaum erforschten Thematik gerecht zu werden, wurde diese aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und es wurden differenzierte und multimethodische Ansätze herangezogen. Näher betrachtet wurde das Verhalten zentraler Akteure der Kinderkuren: medizinisches Fachpersonal, Gesundheitsämter, Eltern, Schulen, Krankenkassen, Rentenversicherungen, Aufsichtsbehörden, die Träger der Erholungsheime und das Heimpersonal. Im Rahmen der Studie wurden zahlreiche Zeitzeuginnen und Zeitzeugen von den Forschenden befragt, darunter auch viele Betroffene. Zudem haben Personen der bundesweiten Initiative Verschickungskinder im wissenschaftlichen Beirat mitgewirkt, der das Forschungsprojekt begleitet hat.
Mehr Informationen zur Untersuchung finden Sie unter dem folgenden Link:
https://www.drk.de/das-drk/geschichte/verschickungskinder/wissenschaftliche-studie-zu-kinderkurheimen/
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Quelle:
Pressemitteilung vom 15.05.2025
Deutsches Rotes Kreuz e.V.
Carstennstraße 58, 12205 Berlin
Telefon: 030 / 854 04-0
E-Mail: drk(at)drk.de
Internet: https://www.drk.de
Deutsche Rentenversicherung Bund
Ruhrstraße 2, 10709 Berlin
Telefon: 030/865-0, Fax: 030/86 52 72 40
E-Mail: drv@drv-bund.de
Internet: https://www.deutsche-rentenversicherung.de
Deutscher Caritasverband e.V.
Karlstraße 40, 79104 Freiburg
Deutschland
Telefon: 0761-200-0
E-Mail: info@caritas.de
Internetseite: www.caritas.de
Diakonie Deutschland
Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V.
Caroline-Michaelis-Str. 1, 10115 Berlin
Telefon: 030/652 11-0, Telefax: 030/652 11-33 33
E-Mail: diakonie@diakonie.de
Internet: https://www.diakonie.de
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 23. Mai 2025
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