In Deutschland ist es lebensgefährlich, alt, schwach oder auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Schon heute ist die Pflegesituation hochproblematisch, und für die Zukunft droht die vollkommene Katastrophe. Aktuell gelten rund fünf Millionen Bundesbürger als pflegebedürftig. Nach Hochrechnungen des Statistischen Bundesamtes soll ihre Zahl über 5,6 Millionen Ende 2035 auf nicht weniger als 6,8 Millionen Ende 2055 ansteigen. Dabei ist noch nicht einmal eingerechnet, dass der Pflegebedürftigkeitsbegriff 2017 weiter gefasst wurde. Nimmt man das hinzu, könnte die Zahl sogar knapp acht Millionen erreichen. Bei einer Gesamtbevölkerung von 83,4 Millionen Menschen beträgt der Anteil der Pflegebedürftigen somit aktuell knapp sechs Prozent und droht bis 2055 auf fast zehn Prozent anzusteigen.
Dabei gelten für die Hochrechnungen nur jene als pflegebedürftig, die Leistungen aus der Pflegeversicherung beziehen, wofür sich die Betroffenen einer Prüfungsprozedur des MDK (Medizinischer Dienst der Krankenkassen) unterziehen müssen. Nicht nur die hohe Durchfallquote bei der Erstbegutachtung sorgt dafür, dass die Dunkelziffer noch viel höher ausfällt, da oftmals aus falscher Scham, Unwissenheit oder Fehleinschätzung der eigenen Fähigkeiten der Zeitpunkt für die Beantragung von Pflegeleistungen auf die lange Bank geschoben oder der Antrag gar nicht erst gestellt wird. In der Folge lebt eine beträchtliche Zahl an Menschen, die dringend Hilfe benötigen, unter unbeschreiblichen Umständen in den heimischen vier Wänden. Würden nicht Familienangehörige oder Freunde in vielen Fällen einspringen, wäre die Situation schon jetzt unhaltbar.
Nicht weniger als vier Fünftel der als pflegebedürftig anerkannten Menschen werden zu Hause versorgt. Unterstützt wird das häufig durch einen der rund 15.400 mobilen Pflegedienste. Die übrige eine Million Hilfsbedürftige ist in einem der 16.100 Pflegeheime untergebracht. Ihnen stehen 1,25 Millionen Pflegekräfte gegenüber (Stand 2021). Das scheint auf den ersten Blick eine hohe Zahl zu sein. Bedenkt man jedoch, wie viele von ihnen verwalterische Aufgaben zu erfüllen haben, reduziert sich die Zahl derer beträchtlich, die sich um die zu Pflegenden kümmern sollen. Studien unter anderem des Malteser Hilfswerks kommen zu dem Ergebnis, dass Pflegekräfte aufgrund der Unterbesetzung in den Heimen kaum die Möglichkeit haben, sich wirklich um die ihnen Anempfohlenen zu kümmern. So bleibt beispielsweise deren seelisches Befinden auf der Strecke. Berechnungen zufolge hat jede in einem Pflegeheim beschäftigte Kraft pro Betroffenem und Schicht nur durchschnittlich 40 Minuten Zeit für die Pflege, Betreuung und Dokumentation. Und Letzteres ist nicht wenig: Pflegekräfte müssen mittlerweile ein Drittel ihrer Arbeitszeit für Bürotätigkeiten verwenden. Insgesamt 870 Seiten Verordnungen regeln die Pflege alter Menschen.
Viele Pflegekräfte halten diese Belastungen nicht länger als fünf Jahre durch und scheiden dann aus dem Beruf aus. Laut Fachverband der diakonischen Altenpflege fehlen allein in Niedersachsen 1.500 examinierte Pflegekräfte. Etwa 80 Prozent der ambulanten Dienste schreiben seit Jahren rote Zahlen. 31 Prozent sollen direkt von der Insolvenz bedroht sein. Das führt dazu, dass an den Arbeitskosten gespart und der Druck auf die Pflegekräfte erhöht wird. Das schlägt sich in der Qualität der Pflege nieder. In den Pflegeheimen sieht es nicht anders aus. Dort liegt die durchschnittliche Überlebenszeit laut dem Statistischen Bundesamt gegenwärtig bei 25 Monaten. Tendenz fallend.
Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass zwischen 40 und 60 Prozent der alten Menschen in Akutkrankenhäusern und Pflegeheimen mangelhaft ernährt sind. Laut Professor Herbert Lochs vom Berliner Universitätsklinikum Charité sind mehr als die Hälfte aller Menschen über 70 Jahre, die ins Krankenhaus kommen, unterernährt, was sich unter anderem massiv auf den Heilungsverlauf auswirkt. In der Folge ist die Sterblichkeitsrate unter diesen Patienten bei der Entlassung aus dem Krankenhaus viermal so hoch wie bei wohlgenährten Patienten. Dabei wird das in Kliniken und Heimen angebotene Essen nur in weniger als 10 Prozent der Fälle als schlecht bewertet. Das Problem soll vielmehr in den auf Effizienz und Kostenersparnis ausgerichteten Strukturen der Institutionen liegen. Nicht selten führt das zu mangelnder, den Bedürfnissen der älteren Menschen nicht angemessener Hilfe.
In einer vom Auswertungs- und Informationsdienst für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten e.V. (AID) in Auftrag gegebenen Studie zum Ernährungsstatus älterer Menschen zeigt sich, dass die Mehrzahl der in staatlichen oder privaten Institutionen untergebrachten Personen alle Zeichen einer Unterversorgung mit essentiellen Nährstoffen aufwiesen. Über 50 Prozent der Bewohner von Pflegeheimen waren unterernährt. Besonders bei den Spurenelementen Zink und Eisen, dem Vitamin B12 und den Albuminwerten war der Mangel am offensichtlichsten zu Tage getreten. Und diese Werte stimmten mit einer erhöhten Sterberate überein: Die Betroffenen sind am Verhungern und haben maximal eine 50-prozentige Chance, das nächste Jahr zu erleben. Hier nicht Systematik zu vermuten, hieße, die Augen vor der Realität zu verschließen.
Überhaupt herrschen in vielen Pflegeheimen erschreckende Missstände: Wundliegen mit großen, lebensbedrohlichen Geschwüren, Vernachlässigung, Fixierungen, unhygienische Zustände sind keineswegs eine Seltenheit. Aufs Klingeln der Bewohner wird oftmals nur sehr verzögert reagiert, so dass Pflegebedürftige nicht rechtzeitig zur Toilette geführt werden können. Statt dessen erhalten sie einen Katheter oder eine Einlage und bleiben dauerhaft im Bett mit der Gefahr, dass sie sich wundliegen. Die ehemalige MDK-Gutachterin und Pflegeexpertin Margot Lucke bezeichnet ein Liegegeschwür als eine Körperverletzung, die alle Konsequenzen des deutschen Strafrechts nach sich ziehen sollte. Aber nur in Ausnahmefällen werde so etwas verfolgt.
Während ältere Menschen, die sich noch selbst versorgen können, eher zu Übergewicht neigen, sind die Pflegeheiminsassen, die auf die Hilfe anderer angewiesen sind, vielfach unterernährt. Für Menschen, die sich nicht mehr selbständig versorgen können, heißt das, dass sie durch das Vorenthalten von pflegerischen Maßnahmen und ausreichender Ernährung langsam dahinsiechen. Die sogenannte Altersschwäche als Folge des Hungers gibt davon ein beredtes Zeugnis. Auch wenn dann die Todesursache oftmals eine sogenannte Krankenhausinfektion ist, die genauso in den Pflegeheimen ihre Opfer findet, geht dieser häufig Unterernährung und unterlassene Pflege voraus.
Betagte Menschen werden in deutschen Pflegeheimen oftmals nicht genügend angehalten, ausreichend zu trinken. Daran ändern auch die unzähligen, Besorgnis signalisierenden Plakate nichts, die zum vermehrten Trinken auffordern. Gerade weil die Heiminsassen immer wieder erleben, dass auf ihr Klingeln niemand oder erst nach langer Zeit jemand erscheint und sie deswegen vermeintlich inkontinent geworden sind, wissen sie sich häufig nicht anders zu behelfen, als das Trinken drastisch einzuschränken. Außerdem lässt das Durstgefühl im Alter immer mehr nach und in der Folge dickt das Blut ein. Dadurch steigt nicht zuletzt die Gefahr einer Thrombose. Auch wird die Haut überempfindlich, so dass kleine Verletzungen zu großflächigen Schäden auswachsen können. Verstopfungen sowie Harnwegsinfekte nehmen ebenfalls deutlich zu. Darüber hinaus wird das Gehirn infolge des unzureichenden Trinkens nicht genug durchblutet: einer der Gründe für die nachlassende Hirnleistung - bis hin zu Verwirrtheitszuständen - im Alter.
Es ist letztlich unerheblich, ob Pflegeheiminsassen verhungern, weil im Rahmen der allgemein zunehmenden Vernachlässigung nicht sichergestellt wird, dass sie ausreichend Nahrung aufnehmen, oder weil an der Bereitstellung der Nahrungsmittel gespart wird. So oder so, der Tod ist ihnen gewiss. Wenn also Menschen zunehmend die ambulante Betreuung verweigert wird und sie in Pflegeheime getrieben werden, bedeutet das für sie nicht nur eine Isolation von ihrem gesellschaftlichen Umfeld, sondern eine direkte Bedrohung für Leib und Leben.
Gerade angesichts der aufflammenden Sterbehilfedebatte und des von der Politik immer wieder gerne angeführten Kostendrucks im Gesundheitswesen steht nicht zu erwarten, dass alte Menschen, die von nicht wenigen sogar als gesellschaftlicher Ballast angesehen werden, zu mehr Lebensqualität verholfen wird. In einer Zeit, in der die Bestrebungen immer mehr Gewicht gewinnen, am Ende und am Anfang des Lebens zu selektieren, sind es gerade Menschen wie jene, die der Hilfe bedürfen, denen immer mehr Lebenswille und Lebensrecht abgesprochen wird. Man braucht daher gar nicht weit auszuholen oder tief zu graben, um darauf zu stoßen, dass wehrlose Menschen regelrecht in den Hungertod getrieben werden. Und selbst wenn es nur Einzelfälle von unterernährten alten Menschen wären, ist die Frage nicht kontrovers zu beantworten, inwieweit die Institutionen und die bei ihnen angestellten Arbeitskräfte zumindest nachlässig mit der ihnen anvertrauten Aufgabe, sich um das Wohl der Pflegebedürftigen zu kümmern, umgegangen sind.
Schließlich sollen diese sich nach dem Anspruch jener Anstalten gerade deswegen dort befinden, weil sie nicht mehr selbst für sich sorgen können. Daher müsste zu den Selbstverständlichkeiten gehören, für gute, ausgewogene und altersgerecht dargebrachte Nahrung zu sorgen, wozu auch alle dafür erforderlichen Handreichungen gehören. Jede unterlassene Hilfeleistung und jede Gleichgültigkeit in der Auswahl und Zubereitung der Nahrung ist gleichzusetzen mit dem Ausüben von Gewalt gegenüber den Pflegebedürftigen. Weder sind Verfehlungen oder Böswilligkeiten einzelner Pflegekräfte, der Anstaltsleitungen oder Heimkomplexe verantwortlich zu machen, noch führen einzelne Exzesse von Gewalt zu jenem Elend und Hunger von Heiminsassen.
Pflegebedürftige Menschen, die ambulant versorgt werden, haben das Recht auf einen Lebensraum, über den sie bis zu einem bestimmten Maß selbst bestimmen können. Ihnen dient die Möglichkeit der ambulanten Pflege geradezu als Schutz davor, in Heimen oder Krankenhäusern kaserniert und somit von der Gesellschaft an deren Rand - in die Bedeutungslosigkeit zum baldigen Sterben - gedrängt zu werden. Sie können noch ein selbstbestimmtes Leben führen, auch wenn dieses zum Teil drastisch eingeschränkt ist. Doch die oben angeführten Zahlen zeigen, wohin die weitere Entwicklung schon in naher Zukunft führt. Während die Investoren und Verwaltungen der Pflegeheime den erhöhten Andrang auf ihre Anstalten mit Wohlwollen betrachten, sind die dort beschäftigten Pflegekräfte schon heute mehrheitlich überlastet.
Die drastische Zunahme an Hilfsbedürftigen in den kommenden Jahren stellt eine gewaltige Bedrohung der Pflege in Deutschland dar. Gegenwärtig spricht vieles dafür, dass die ambulante Pflege mit exponentiell zunehmender Geschwindigkeit zusammenbrechen wird. Ohne sie werden Angehörige, auf deren geschundenen Schultern bislang die Hauptlast der Pflege hierzulande liegt, den auf sie einstürzenden Belastungen nicht mehr standhalten können. Pflegeheime werden sich einem Ansturm durch Pflegebedürftige gegenübersehen. Dabei kommen zu jenen, die im Rahmen des demografischen Wandels sowieso vermehrt eine vollstationäre Versorgung benötigen, noch jene, die durch den Zusammenbruch der mobilen Pflege in den heimischen vier Wänden nicht mehr versorgt werden können. Zwar könnten durch den zunehmenden Wegfall der ambulanten Pflegestellen vermehrt Arbeitskräfte in die Pflegeheime drängen, doch werden dort kaum neue Arbeitsstellen geschaffen. Dass sich dieser Umstand nicht eben günstig auf die Lohnentwicklung ausgewirkt, liegt ebenso auf der Hand wie die Tatsache, dass diese Situation aus arbeitsbezogener Überlastung und finanzieller Minderentlohnung den Nährboden von Gewalt, Missachtung und Misshandlungen bildet.
Trotz der Existenz der verschiedenen Sozialverbände wie des Malteser Hilfsdienstes oder des Sozialverbands Deutschland haben Pflegebedürftige hierzulande keine Lobby. Dabei wäre das dringend erforderlich. Bekanntlich verlieren viele Menschen mit zunehmendem Alter immer mehr an Stimme. Die Durchsetzungsfähigkeit geht mehr und mehr verloren. Auch wird bei vielen die Stimme immer leiser, bis sie nahezu ganz verstummen. Wer zudem den Stempel einer Demenz aufgedrückt bekommt, ist vollkommen ausgeliefert. Wer sich dem entgegenstemmt, wer nicht akzeptieren kann und will, dass aus ihm ein inkontinentes, oftmals nach Urin oder Fäkalien riechendes, windeltragendes Wesen gemacht wird, gilt als aggressiv und wird gegebenenfalls medikamentös ruhiggestellt. Denn nicht der Mensch, sondern der reibungslose Ablauf des Pflegeheimbetriebes steht im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Daran beteiligt sind alle: Familie, Freunde, Pflegekräfte, Verwaltung und viele mehr. Die ganze Gesellschaft ist dabei, diese durch Alter oder Krankheit hilfsbedürftig gewordenen Menschen auszugrenzen und an den Rand zu drängen. Hier sitzen all jene, die sich von Kranken, Lahmen und Krüppeln auf welche Art auch immer zu distanzieren suchen, tief im Sumpf der Beteiligung. So sind sie schließlich froh, noch nicht einmal durch den Anblick dieser Menschen belästigt zu werden. Erst einmal weg aus dem Gesichtsfeld fehlt auch jedes Verständnis für das Leid und die Not der in den Heimen Kasernierten.
Älteren und pflegebedürftigen Menschen droht noch ein weitaus radikalerer Schritt. Wie dieser aussehen könnte, zeigt nicht nur die Geschichte Deutschlands mit all den Verbrechen an als krank und behindert selektierten Menschen. Zwar nicht so offen wie in den Niederlanden, Belgien oder Kanada, wo Euthanasie auch an sogenannten nicht-einwilligungsfähigen Menschen gesetzlich erlaubt betrieben wird, sondern still und leise durch das Unterlassen oder Verhindern von Hilfe. Unter dem Deckmantel der Patientenvollmacht darf der Betroffene selbst oder dürfen Angehörige, da seine Zustimmungsfähigkeit bezweifelt wird, für ihn bestimmen, wann und unter welche Bedingungen keine lebensverlängernden Maßnahmen mehr unternommen werden dürfen. Wenn man sich noch einmal vor Augen führt, welche Lawine an Pflegebedürftigkeit in den nächsten Jahren auf die Gesellschaft zukommt, bedarf es keiner Fantasie, um sich auszumalen, wer die Leidtragenden sind und welches Grauen unaufhaltsam auf sie zurollt.
8. Dezember 2024
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 182 vom 21. Dezember 2024
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