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INTERVIEW/004: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Geschlossene Gesellschaft, Dr. David Schneider-Addae-Mensah im Gespräch (SB)


Auf der dunklen Seite der Demokratie

Interview am 22. November 2013 in der Universität Essen



Der Menschenrechtsanwalt Dr. David Schneider-Addae-Mensah ist in Strasbourg und Karlsruhe tätig. Er war Kläger in einem wegweisenden Prozeß vor dem Bundesverfassungsgericht, das am 23. März 2011 den Beschluß faßte, daß die Zwangsbehandlung psychiatrisierter Menschen unvereinbar mit der Verfassung und geltenden Gesetzen sei.

Auf der Konferenz "Psychiatrie ohne Zwang - Was ist das?" am 22./23. November 2013 in der Universität Essen leitete Dr. Schneider-Addae-Mensah den Workshop "Recht und Unrecht der psychiatrischen Zwangsbehandlung" und hielt einen Vortrag mit dem Thema "Der Zwangsmedikationsbeschluß des Bundesverfassungsgerichts und seine Bedeutung". Im Anschluß daran beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Dr. David Schneider-Addae-Mensah
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Dr. Schneider-Addae-Mensah, in Ihrem Vortrag bezeichneten Sie die Psychiatrie als die dunkle Seite der Demokratie. Könnten Sie das näher ausführen?

Dr. David Schneider-Addae-Mensah (DS): In der Psychiatrie gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, Gewalt auf Menschen auszuüben. Gleichzeitig ist sie als gesellschaftliche Institution zumindest bislang in hohem Maße anerkannt gewesen. Das birgt Risiken für Übergriffe auf Patienten. Zudem beschäftigt sich die Gesellschaft nicht gern mit dem Komplex Psychiatrie. Allgemein herrscht die Meinung vor, daß die Leute dort angeknackst sind oder aus dem Rahmen fallen und so wohl zu Recht weggesperrt gehören. Deswegen gibt es in der Gesamtbevölkerung kein wirkliches Interesse daran, was in den Psychiatrien mit den Patienten passiert. Die psychiatrische Klinik ist eine Welt, in der sie sich ganz schwer wehren können. Von daher ist es kaum möglich, Beweise zu sichern oder an Zeugen heranzukommen. Dadurch ist die Gefahr des Mißbrauchs erheblich größer als in jedem anderen gesellschaftlichen Bereich. Deswegen spreche ich von der Psychiatrie als einem dunklen Kapitel bzw. als einem Graubereich der demokratischen Gesellschaft.

SB: Die deutsche Geschichte kennt sehr finstere Kapitel der Psychiatrie, die eigentlich als überwunden galten. Steht zu befürchten, daß sich die alte Geschichte in neuer Form bis heute fortsetzt?

DS: Psychiatrie ist Psychiatrie, und sie ist immer von verschiedensten staatlichen Autoritäten und Regimen genutzt oder besser mißbraucht worden. Davon spreche ich keines dieser Systeme wirklich frei. Die Psychiatrie ist sicherlich zu ganz schlimmen Zwecken eingesetzt worden. Jetzt wird sie unter dem Deckmantel der Hilfe geführt. Daß man sie in dieser Form forciert, hat eher einen ökonomischen Grund. Denn natürlich gibt es Alternativen. Jedes politische System trägt eine Mitschuld an den Verbrechen der Psychiatrie. Und es gibt kein politisches System, in dem diese Verbrechen nicht existieren, in dem einen mehr und in dem anderen weniger.

SB: Müßte man daher konsequenterweise die Abschaffung der Psychiatrie fordern?

DS: Jedenfalls fordern die Betroffenenverbände die Abschaffung der Zwangspsychiatrie. Das ist schließlich auch das Thema dieser Tagung. Wenn dieser Zwang abgeschafft wäre, hätte man sicherlich einen großen Teil dieses Graubereichs reduziert. Ob die Psychiatrie komplett abschaffbar ist, weiß ich nicht. Aus meiner Sicht wäre das durchaus möglich, aber es handelt sich dabei sicherlich um ein sehr dickes Brett, das zu bohren ist. Bis dahin werden noch einige Jährchen ins Land gehen.

SB: Dazu müßte man wahrscheinlich auch den Krankheitsbegriff neu definieren.

DS: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Man müßte den Krankheitsbegriff wieder auf seine Ursprünge zurückführen und auf seinen eigentlichen Sinn beschränken. Es kann nicht sein, jede psychische Regung als Krankheit zu definieren. Niemand kann in Menschen hineinschauen oder ihre Reaktionen beurteilen. Wenn ein Psychiater einen Patienten nicht wirklich kennt und nicht weiß, was ihm gefällt bzw. nicht gefällt, läßt sich auch nicht von einer Diagnose sprechen.

SB: Sie haben heute auch die Wissenschaftlichkeit der Diagnosen und überhaupt den Beruf des Psychiaters in Frage gestellt. Welche Erfahrungen liegen Ihrer Kritik zugrunde?

DS: Ich habe sehr schlechte Erfahrungen gemacht, wenn Psychiater zu einem Patienten hingehen und sagen, der Mann hat diese und jene Vorliebe und das ist aus meiner persönlichen Sicht krank. Sie sagen zwar nicht persönliche Sicht, sondern daß dies in der Wissenschaft anerkannt ist. Aber letzten Endes steckt oftmals eben doch eine moralische Wertung dahinter, wenn Psychiater ihre sogenannten Diagnosen stellen. Natürlich ist das nicht Wissenschaft, sondern eine Art Ersatzreligion, und die Gerichte übernehmen die Diagnosen, und das ist nicht rechtsstaatlich.

SB: Sie haben vor dem Bundesverfassungsgericht ein bahnbrechendes Urteil herbeigeführt. Welche Tragweite hat das für die Praxis?

DS: Das Urteil wird natürlich nicht zu 100 Prozent umgesetzt. Denn das hieße zum einen, daß man neue Regelungen schafft, sofern das überhaupt im Rahmen dieser juristischen Entscheidung möglich ist, und zum anderen, daß sich die Ärzte entsprechend danach richten. Aber ich stelle seit dieser Entscheidung schon ein Umdenken fest, sowohl bei Juristen als auch bei Medizinern. Das ist, wie ich finde, schon ein gewaltiger Erfolg. Aber man wird weitere Schritte gehen müssen und auch weitere Erfolge brauchen, damit sich die Einstellung wirklich ändert. Was Psychiater gemacht haben, ist jahre- und jahrzehntelang akzeptiert gewesen, und ein Wandel wird daher nicht von heute auf morgen stattfinden. Es wird eine gewisse Zeit brauchen, bis wir die Mißstände korrigiert haben.

SB: Da Sie den Wandel unter Juristen ansprechen: Kämpfen Sie in Ihrer Berufssparte allein oder haben Sie breitere Bündnismöglichkeiten?

DS: Ich habe die Erfahrung gemacht, daß ich als Einzelkämpfer noch immer am besten fahre. Auch in Karlsruhe bin ich als Einzelanwalt tätig geworden. Ich habe zwar Kollegen, mit denen ich sowohl in Deutschland als auch in Frankreich kooperiere - so haben wir Bürogemeinschaften mit mehreren Anwälten -, aber es gibt nur wenige Kollegen, die sich mit dem Thema Psychiatrie intensiv beschäftigen. Es ist sicherlich kein leichtes Thema, und auch die Mandanten sind nicht immer leicht zu nehmen. Hinzu kommt, und das ist für Anwälte immer wichtig, daß man in diesem Bereich nicht viel verdienen kann. Aber wir versuchen, mehr Kollegen für dieses Feld zu interessieren, denn es ist eigentlich Anwaltsarbeit pur, was man da macht. Man sollte vielleicht nicht nur dieses Thema bearbeiten, aber ich würde mir wünschen, daß mehr Kollegen sich darin ein weiteres Standbein zulegen, um so einen Beitrag zur Rechtsstaatlichkeit zu leisten. Denn der Rechtsanwaltsberuf ist ein Organ der Rechtspflege. Dafür ist dieses Thema sehr gut geeignet.

SB: Die 1970er Jahre waren in der Geschichte der Psychiatrie in Deutschland und Europa eine Phase, in der eine starke Bewegung der Patientinnen und Patienten für ihre Rechte existierte. Deren Position wurde damals sehr kämpferisch bis hin zu der Schlußfolgerung, daß die Insassen die Produzenten seien, von denen die psychiatrischen Berufsstände leben, vorgetragen. Gibt es heute wieder eine entsprechende Bewegung von unten oder einen Zusammenschluß der Psychiatrie-Erfahrenen, der eine maßgebliche Rolle bei der Durchsetzung ihrer Forderungen spielen könnte?

DS: Ja, es gibt entsprechende Initiativen wie den Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener, die schon durch diese Diskussion Rückenwind bekommen haben. Diese Initiativen sind selbstverständlich wichtig, weil sie die Patienten in ihrem Selbstbewußtsein stärken. Natürlich muß der Patient im Mittelpunkt stehen. Er entscheidet, ob eine Behandlung durchgeführt wird oder nicht, und sonst niemand. Es war eine Fehlentwicklung, daß die Ärzte geglaubt haben, sie könnten über andere entscheiden. Das ist nicht die Aufgabe der Ärzte. Ein Arzt, der so etwas macht, ist kein guter Arzt.

SB: Demnach steht die Selbstbestimmung des Patienten im Mittelpunkt Ihres Anliegens.

DS: Die Selbstbestimmung des Patienten steht immer im Mittelpunkt des Geschehens. Auch ich kann dem Patienten die Entscheidung nicht abnehmen. Es gibt durchaus Leute, die mich fragen: Soll ich mich medikamentieren lassen oder nicht? Darauf antworte ich: Die Entscheidung kann ich Ihnen nicht abnehmen. Das ist auch für die Patienten eine Herausforderung, weil sie sich nämlich daran gewöhnt haben, daß jemand für sie entscheidet. So müssen sie plötzlich selbst Verantwortung übernehmen. Da fordere ich von den Patienten tatsächlich mehr Eigenverantwortung. Sie können sie nicht auf die Ärzte abschieben.

SB: Haben Sie hinsichtlich der Zwangsbehandlung noch weitere juristische Projekte im Auge?

DS: Die nächsten konkreten Schritte müssen darauf abzielen, die jetzigen Rechtsgrundlagen für die Zwangsbehandlung im BGB wieder zu kippen. Auch die Neuregelungen in Baden-Württemberg müssen gekippt und weitere Neuregelungen möglichst verhindert werden. Mir persönlich liegt vor allem die Frage am Herzen, ob man bei akuten angeblichen Anfällen zwangsbehandeln darf oder nicht. Häufig sind es reine Wutanfälle, die manchmal etwas heftig ausfallen, aber dennoch handelt es sich dabei um keine psychotischen Ereignisse, als die sie häufig dargestellt werden. Ich würde mir wünschen, daß die Zwangsbehandlung in diesen sogenannten Akutsituationen verboten wird.

SB: Sie erwähnten im Vortrag auch, daß viele Verhaltensweisen, die früher unter normal bis leicht schräg liefen, heute psychiatrisiert werden. Handelt es sich dabei um eine fortschreitende Entwicklung?

DS: Ja, das stelle ich in der Tat fest. Wenn Leute früher schreiend durch die Straßen gelaufen sind, hat man gesagt, nun gut, der spinnt eben oder ist ein ganz armer Teufel. Damit war das auch abgehandelt. Jetzt wird die Polizei gerufen, und die Polizisten bringen die Leute in die nächste Psychiatrie. Dann nimmt die Geschichte ihren Anfang. Viele dieser Menschen liegen heute auf dem Friedhof.

SB: Herr Dr. Schneider-Addae-Mensah, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:

Erster Beitrag zur Konferenz "Psychiatrie ohne Zwang - Was ist das?" im Schattenblick unter
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BERICHT/003: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Keine Fesseln und Gewalt (SB)

22. Januar 2014