Leibniz-Institut für Bildungsverläufe 06/2025
INTERVIEW
"Integration passiert nicht von allein" - Was das deutsche
Bildungssystem jetzt braucht
Weltflüchtlingstag am 20. Juni: Wo stehen wir bei der Integration Geflüchteter in Kita und Schule?
Wie gelingt Integration, wenn Tausende geflüchtete Kinder und Jugendliche auf ein Bildungssystem treffen, das auf deren Ankunft kaum vorbereitet ist?
Anlässlich des Weltflüchtlingstags sprechen die Bildungsforscherinnen Dr. Jutta von Maurice und Dr. Gisela Will über Erfolge, Defizite und Lehren aus fast 10 Jahren Forschung dazu - und erklären, warum sich die Erfahrungen aus ihren Erhebungen nicht einfach auf die Situation der geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland übertragen lassen.
Vor rund zehn Jahren war der Zuzug Geflüchteter aus dem Nahen und
Mittleren Osten nach Deutschland auf seinem Höhepunkt. Wie erinnern
Sie diese Zeit?
Dr. Jutta von Maurice (JvM): Mich hat die Situation damals sehr berührt. Ich bin in der Bahn einer Frau begegnet, die wenige Stunden zuvor entbunden hatte. Das Kind hatte noch nicht einmal etwas zum Anziehen; dieses Bild begleitet mich noch heute. Als Wissenschaftlerin habe ich zugegebenermaßen eher die Herausforderungen im Blick gehabt, die auf das Bildungssystem zukommen.
Was war damals denn schon absehbar?
JvM: Es kamen in sehr kurzer Zeit viele Menschen aus Syrien und anderen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens nach Deutschland. Unsere Systeme waren nicht auf diese große Anzahl von Menschen vorbereitet - es fehlte an Unterkünften, an Versorgungsstrukturen und vor allem auch an Bildungsangeboten. Gerade mit Schulen und Kindergärten wurde damals eine große Hoffnung auf eine schnelle Integration der Geflüchteten verbunden. Uns war es sehr wichtig, in die ganze Diskussion und Gefühlslage empirische Evidenz einzubringen. Um diese Lücke zu schließen, haben wir mit einer der Längsschnittstudie "ReGES - Refugees in the German Educational System" begonnen, die es uns erlaubt, die Integration geflüchteter Kinder und Jugendlicher in den Blick zu nehmen.
Hat sich die Hoffnung auf diese Integration durch das Bildungssystem denn letztlich erfüllt?
Dr. Gisela Will (GW): Die Kitas und Schulen haben sich einer Riesenherausforderung gestellt und heute wissen wir, dass sie Enormes geleistet haben. Nach einer Aufenthaltsdauer von durchschnittlich 2,5 Jahren besuchen 80 Prozent der geflüchteten Kinder aus unserer Stichprobe im Alter von über 4 Jahren eine Kindertageseinrichtung. Diese Besuchsquote ist höher als wir das erwartet hätten, aber immer noch deutlich niedriger als bei Kindern ohne Migrationshintergrund oder bei Kindern aus Familien mit Migrationsgeschichte, die schon länger in Deutschland leben. Der Hauptgrund, den die meisten Eltern dafür angeben, ist, dass sie keinen Platz für ihr Kind bekommen konnten. Hier spielen vor allem die regionale Betreuungsquote und die Aufenthaltsdauer der Familien in Deutschland eine wichtige Rolle.
Und wie sieht es in der Grundschule aus?
GW: Da sehen wir ein gemischtes Bild. Für die Kinder, die mit ausreichend Vorlauf zum schulpflichtigen Alter in Deutschland ankommen, funktioniert der Übergang ganz gut. Über 90 Prozent der von uns untersuchten Kinder wurden altersadäquat eingeschult. Nach Einschätzung der Eltern geht die große Mehrheit der Kinder zudem gern in die Schule und hat Freude am Lernen. Wir sehen aber auch, dass knapp 7 Prozent der Kinder separate Klassen für Neuzugewanderte besuchen. Da stellt sich schon die Frage, warum Kinder, die bereits mehrere Jahre in Deutschland leben, in der Grundschule nicht integriert beschult werden. Sowohl die Zurückstellung als auch die separate Beschulung hängen mit den Deutschkompetenzen der geflüchteten Kinder zusammen. Umso erstaunlicher ist es, dass im Vorschulalter nur knapp 30 Prozent der Kinder Sprachförderung erhalten haben. Diese Quote ist wesentlich geringer, als wir erwartet hätten.
"Eine bessere Ausstattung der Bildungseinrichtungen würde nicht nur geflüchteten, sondern allen Kindern und Jugendlichen zugute kommen."
Was kann man denn generell über die Deutschkenntnisse der
geflüchteten Kinder sagen?
JvM: Zum ersten Messzeitpunkt bleiben die geflüchteten Kinder unserer ReGES-Studie weit hinter den Wortschatzkompetenzen einer Vergleichsgruppe von Kindern zurück, die schon länger in Deutschland leben. Dies ist zunächst auch nicht verwunderlich. Ein erneuter Deutschtest zwei Jahre später zeigt, dass die geflüchteten Kinder ihren Wortschatz zwar verbessern konnten - die Vergleichsgruppe hat ihren Wortschatz aber auch weiter ausgebaut. Wir müssen also leider festhalten, dass die geflüchteten Kinder auch im Zeitverlauf nicht substanziell zu den einheimischen Kindern aufschließen und damit auch mit geringeren Sprachkenntnissen in die Grundschule starten. Die Sprachförderung ist definitiv der Knackpunkt.
Wie lief die Integration an weiterführenden Schulen?
GW: Unsere Daten zeigen unter anderem, dass die Schullaufbahn der befragten Jugendlichen aufgrund der Flucht und im Zuge des Ankommens in Deutschland durchschnittlich länger als ein Jahr unterbrochen war. Und danach besuchen sie oft separate Klassen für Neuzuwanderer, weniger anspruchsvolle Schulformen und werden in niedrigeren Klassenstufen beschult, als man dies ihrem Alter nach erwartet hätte. Das alles hängt mit bildungspolitischen Regelungen der einzelnen Bundesländer zusammen, die sich teils sehr stark voneinander unterscheiden. Die Zuweisung zu einem Bundesland und der Wohnort bestimmen also maßgeblich mit, welche Ausgangssituation geflüchtete Jugendliche in der Schule haben. Neben dem Wohnort spielt teilweise auch die soziale Herkunft der Jugendlichen eine Rolle. Geflüchtete Jugendliche, die ihre Schulleistungen im Herkunftsland besser einschätzen, und die aus einem Elternhaus mit hoher Bildung kommen, besuchen eher ein Gymnasium und werden etwas schneller eingeschult.
Sind die Ergebnisse, die sich auf die Situation Mitte der 2010er Jahre beziehen, heute übertragbar auf die Situation der Geflüchteten aus der Ukraine?
GW: Die Ausgangslage der geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer ist eine andere. Wir haben es hier mit Menschen zu tun, die einen vergleichsweise hohen Bildungsstand haben, und die nach relativ kurzer Fluchtdauer zu uns gekommen sind - dadurch ist der Bruch in den Bildungsbiografien nicht so groß. Die Systeme in Deutschland waren besser vorbereitet und nach der Pandemie waren auch Online-Angebote viel besser ausgebaut. Auf der anderen Seite waren die Bildungseinrichtungen - nicht zuletzt auch aufgrund der Pandemie - teilweise an ihrer Belastungsgrenze. Darüber hinaus gelten für Geflüchtete aus der Ukraine weniger strikte Regelungen bei der Wohnortwahl. Die Verteilung innerhalb von Deutschland ist daher eine andere. Das kann zur Herausforderung für Bildungssysteme werden, wenn Geflüchtete sich in bestimmten Städten gehäuft niederlassen.
Was können wir aus den Ergebnissen der Studien über den künftigen Umgang mit Geflüchteten lernen?
JvM: Die große Notwendigkeit des Deutschspracherwerbs als Schlüsselkompetenz und unsere Beobachtung, dass Zweitspracherwerb lange dauert und gezielter Förderung bedarf, würde ich übertragen. Und ganz klar können wir sagen: Integration passiert nicht von allein - die Fachkräfte in Kindergärten und Schulen müssen unterstützt werden in den Aufgaben, die wir ihnen als Gesellschaft übertragen. Sei es durch Weiterbildung oder durch Anerkennung ihrer Leistung. Die Gesellschaft in Deutschland wird immer heterogener und dies spiegelt sich auch in den Klassenzimmern und Kindertageseinrichtungen wider. Eine bessere Ausstattung der Bildungseinrichtungen mit gut qualifiziertem Personal würde nicht nur geflüchteten, sondern allen Kindern und Jugendlichen in unserem Land zugutekommen.
Das Interview wurde im Juni 2025 von Iris Meyer geführt.
Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten
Abbildungen der Originalpublikation:
Dr. Jutta von Maurice
(oben) und Dr. Gisela Will (unten) leiten die am Leibniz-Institut für
Bildungsverläufe (LIfBi) angesiedelten Projekte zur Erforschung der
Integration Geflüchteter in und durch das Bildungssystem.
Die Studie "ReGES - Refugees in the German Educational System" wurde von Juli 2016 bis Dezember 2021 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) verantwortet. Die Teilnehmenden werden in der ebenfalls BMBF-finanzierten Studie "Bildungswege von geflüchteten Kindern und Jugendlichen" bis Juni 2026 weiter begleitet.
Im Zentrum der beiden Studien steht die Integration von geflüchteten Kindern und Jugendlichen in das deutsche Bildungssystem. Es handelt sich um Längsschnittuntersuchungen, die die geflüchteten Familien über einen längeren Zeitraum begleiten. Insgesamt wurden mehr als 2.400 Kinder und mehr als 2.400 Jugendliche aus 5 Bundesländern in die Studie aufgenommen. Auch die Eltern sowie pädagogische Fachkräfte in Kindergarten bzw. Schule wurden einbezogen. Bisher wurden 9 Erhebungen durchgeführt. Die Daten der ersten 7 Erhebungen stehen der wissenschaftlichen Gemeinschaft bereits für Forschungszwecke zur Verfügung.
Die Studien fokussieren zwei Gruppen von Geflüchteten: Die erste sind
Kinder, die zum ersten Erhebungszeitpunkt mindestens 4 Jahre alt
waren, aber noch nicht in die Schule gingen. Diese Gruppe erlaubt
einen Blick auf den Beitrag des Kindergartens, die Grundschulphase und
den Übergang in das gegliederte Schulsystem. Die zweite Gruppe sind
Jugendliche, die zum Start der Studie zwischen 14 und 16 Jahre alt
waren und sich noch in der Sekundarstufe I im allgemeinbildenden
Schulsystem befanden. Bei diesen Jugendlichen steht der Übergang in
die Sekundarstufe II, Berufsausbildung, Studium und der Eintritt in
den Arbeitsmarkt im Zentrum.
Mehr zu den Studien:
lifbi.de/ReGES
lifbi.de/BildungswegeFlucht
Originalpublikation:
Komplettes Interview als Word-Dokument zum Herunterladen
https://www.lifbi.de/Portals/2/News/Interview%20Weltfl%C3%BCchtlingstag_20.6._Integration%20passiert%20nicht%20von%20allein.docx
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Quelle:
Leibniz-Institut für Bildungsverläufe - LifBi 06/2025
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Fax: 0951/700 60-450
E-Mail: kontakt@lifbi.de
Internet: https://www.lifbi.de/de/de
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 20. Juni 2025
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