"Staaten haben keine Freunde, nur Interessen."
(Charles de Gaulle zugesprochen)
"Keine Freunde außer den Bergen"
(verbreitete kurdische Redewendung)
Das Charles de Gaulle zugeschriebene Zitat gilt es in jegliche Erwägungen einzubeziehen, die das politische Denken und Handeln staatlicher Akteure bewerten. Es geht um Machtansprüche und Verfügungsgewalt nach innen und außen, um militärische, wirtschaftliche und administrative Stärke - um Menschen hingegen ausschließlich in der Gemengelage raubgetriebenen Verschlingens und Verschlungenwerdens. Die Kurdinnen und Kurden mussten sich im Laufe ihrer Geschichte immer wieder in die Berge zurückziehen, um sich vor Eindringlingen oder durchziehenden Armeen zu schützen. Diese Nutzung der zerklüfteten Gebirge als Zufluchtsort half ihnen dabei, als eigenständige ethnische Gruppe über Jahrtausende hinweg zu überleben. Sie haben keine strategischen Freunde in Gestalt staatlicher Bündnispartner, weshalb sie notgedrungen mittels taktischer Verbündeter im Kontext rivalisierender Groß- und Regionalmächte zu manövrieren trachten.
Angesichts weltweit eskalierender Auseinandersetzungen der Staaten, die zahlreiche Weltregionen mit verheerenden Kriegen und brutalen Umwälzungen überziehen, scheinen Bedrängnis und Kämpfe der Kurdinnen und Kurden auf internationaler Ebene kaum noch wahrgenommen zu werden. Vom Regime in Ankara zugleich unter Druck gesetzt und wahltaktisch umworben, von der neuen islamistischen Regierung in Damaskus zur Eingliederung in den syrischen Staat gedrängt, im Iran und Irak massiver Repression ausgesetzt, drohen ihre Selbstverwaltung und Widerstandskräfte gebrochen zu werden. Damit ist ein Gesellschaftsentwurf in höchstem Maße gefährdet, der dank der Gleichstellung und Mitspracherechte aller Bevölkerungsgruppen und Koexistenz verschiedener Ethnien nicht nur in dieser Weltregion beispielhaft sein könnte - doch gerade deshalb weit über Missachtung hinaus Vernichtungsgewalten auf den Plan ruft.
Natürlich ist beim Gebrauch der Bezeichnung "kurdisch" Vorsicht geboten, handelt es sich doch um einen ethnischen Sammelbegriff, der keinen Aufschluss über regionale Unterschiede und insbesondere gesellschaftliche Widersprüche gibt. So könnte die Kluft zwischen einer PKK-Kämpferin im Kandil-Gebirge und dem türkischen Außenminister Hakan Fidan, ehemals Chef des gefürchteten Geheimdienstes MIT und selbst kurdischer Herkunft, nicht größer sein. Wie wenig hat der Barzani-Clan im nordirakischen Autonomiegebiet als Handlanger Ankaras doch mit den Selbstverteidigungskräften in Rojava gemein. Solange Armut und Reichtum, Unterdrückung und Ausbeutung die Fesseln des sozialen Geflechts festzurren, bleibt unentwegt auszuloten, auf welche Weise eine "kurdische Position" zu bestimmen, auszugestalten und durchzusetzen sei.
Die Kurdinnen und Kurden zählen als eine eigenständige ethnische Gruppe der iranischen Völker zu den ältesten Kulturvölkern der Erde. Ihr Hauptsiedlungsgebiet liegt seit etwa viertausend Jahren in einer bergigen Grenzregion, wo heute 25 bis 30 Millionen Menschen kurdischer Abstammung leben. Die meisten von ihnen sind sunnitische Muslime, ihre Sprachen - das Nord-, Zentral- und Südkurdische - gehören zu den indogermanischen Sprachen. Diese Ethnie wurde bereits in frühen griechischen und römischen Quellen erwähnt und war immer wieder in die gewaltsamen Umwälzungen verwickelt, die ihre Region prägten. Das traditionell als Kurdistan bezeichnete Gebiet - ein Begriff, der auf die Zeit der Seldschuken im 11. Jahrhundert zurückgeht - umfasst eine Fläche, die ungefähr so groß wie Deutschland ist, doch sucht man vergeblich nach einem kurdischen Staat auf der Landkarte.
Menschen kurdischer Herkunft sind während des überwiegenden Teils der modernen Geschichte eine eigenständige ethnische Gruppe geblieben und haben dem Druck zur Vermischung während diverser Eroberungen durch fremde Mächte widerstanden. Selbst in der islamischen Periode haben sie, obwohl viele den Islam als Religion annahmen, dazu tendiert, Ehen innerhalb ihrer ethnischen Gruppe zu schließen, was ihrem Wunsch nach Autonomie und Unabhängigkeit Ausdruck verlieh. Diese Eigenständigkeit hat zwangsläufig zu einer Geschichte von Konflikten und Unterdrückung durch verschiedene Eroberungsreiche geführt, von den Persern über die Araber bis hin zu den Türken.
Der Untergang des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg und die Aushandlung des Sykes-Picot-Abkommens zwischen Großbritannien und Frankreich, das den vormals von den Osmanen beherrschten Nahen Osten willkürlich in separate Regionen teilte, ließ die Kurdinnen und Kurden hoffen, dass ihr Traum von Autonomie verwirklicht werden könnte. Die europäischen Mächte brachten jedoch kein Verständnis für die verschiedenen ethnischen Gruppen und die religiösen wie kulturellen Unterschiede innerhalb der Gebiete auf. Infolgedessen wurde die Region Kurdistan zwischen den neu entstandenen Staaten Irak, Türkei und Syrien aufgeteilt, während das restliche Gebiet im von Pahlavi regierten Iran lag.
Die Türkische Republik, die nach der Niederlage der osmanischen Türken gegründet wurde, widersetzte sich erfolgreich dem Vertrag von Sèvres, der eine Bestimmung über einen kurdischen Staat enthielt, der einem Referendum unterliegen sollte. Die türkische Führung war sich darüber im Klaren, dass im Falle eines Referendums ein autonomer kurdischer Staat die Folge gewesen wäre, der das türkische Staatsgebiet erheblich verkleinert hätte. Da dies verhindert wurde, steht Nordkurdistan (Bakur) seither unter der Herrschaft des türkischen Staates. Ostkurdistan (Rojhilat) wird vom Iran kontrolliert. In der Region Kurdistan im Irak (Basur) genießen die Kurdinnen und Kurden föderale Autonomie. Westkurdistan, die als Rojava bekannte Region in Nordostsyrien, rief 2012 die Selbstverwaltung aus.
Dieser kurze Streifzug durch die kurdische Geschichte dürfte nahelegen, was sie auf besondere Weise auszeichnet: Eine Jahrtausende währende Dauerhaftigkeit in Verteidigung des Autonomieanspruches gegen übermächtige Heerscharen und Reiche, zwar aus Überlebensnot geboren und von zahllosen Niederlagen heimgesucht, so doch nie restlos verschlungen und ausgelöscht. Und wichtiger noch: Wenngleich ein Beharren auf traditionelle Werte und Bräuche zwangsläufig Gefahr läuft, in rückwärtsgewandten Strukturen zu erstarren, zeugt doch die jüngere Geschichte kurdischen Aufbruchs zu transformativen Gesellschaftsentwürfen ganz im Gegenteil von einem innewohnenden Potential, den Kampf gegen imperialistische Okkupation, staatliche Repression und patriarchale Unterdrückung innovativ zu beflügeln.
Als die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Anfang Mai ihre Auflösung bekanntgegeben und das Ende ihres bewaffneten Kampfes verkündet hatte, wurde dies weithin mit der Erwartung überfrachtet, es handle sich um einen historischen Schritt, der als Wendepunkt in die Geschichte der Türkischen Republik eingehen werde. So bahnbrechend diese Entwicklung anmuten mag, wäre es doch fatal, nunmehr ein Ende des Unterwerfungs- und Vernichtungskriegs gegen kurdische Menschen in greifbarer Nähe zu wähnen. Es gilt zunächst zu bedenken, dass dies keineswegs der erste Ansatz ist, die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen dem türkischen Staat und der PKK zu beenden, die 1984 begonnen hatte. Abdullah Öcalan erklärte am 17. März 1993 erstmals einen einseitigen Waffenstillstand, doch die türkische Führung lehnte es ab, sich einer demokratischen Lösung der kurdischen Frage zu öffnen. Wenngleich in der Folge auch weitere Feuerpausen an dieser harten Haltung Ankaras scheiterten, unternahm Öcalan im August 1998 einen weiteren Vorstoß zur friedlichen Beilegung des Konflikts. Nach einer monatelangen Odyssee durch Europa wurde er am 15. Februar 1999 im Rahmen einer international koordinierten Geheimdienstoperation aus der griechischen Botschaft in der kenianischen Hauptstadt Nairobi entführt, an die türkischen Behörden überstellt und seither auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer in Isolationshaft festgehalten.
Aus dem Gefängnis rief Öcalan anlässlich des Weltfriedenstags am 1. September 1999 zu einem Rückzug der Guerillakräfte aus der Türkei auf. Seine damit verbundenen umfassenden Reformvorschläge zogen jedoch auf türkischer Seite keine konkreten Schritte nach sich, so dass die Gefechte 2004 erneut aufflammten. Die prokurdische Partei der Demokratischen Gesellschaft (DTP) konnte 2009 bedeutende Erfolge bei den Kommunalwahlen einfahren, während zeitgleich in der norwegischen Hauptstadt Oslo Geheimverhandlungen zwischen der PKK und dem türkischen Geheimdienst begannen, die bis 2011 andauerten. Die Verhandlungen scheiterten zunächst, wurden jedoch nach einem heftigen militärischen Zwischenspiel ab Beginn 2013 zwischen Öcalan und Vertretern der türkischen Regierung offiziell wieder aufgenommen. Diese als "Imrali-Prozess" bekannten Gespräche waren bereits weit fortgeschritten, als die türkische Regierung 2015 den Waffenstillstand aufkündigte und einen bis heute andauernden Krieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung im In- und Ausland entfesselte. [1]
Das Erdogan-Regime betrieb den sogenannten "Friedensprozess" nie mit dem Ziel einer tatsächlichen Versöhnung mit der kurdischen Seite und deren vollständiger Gleichstellung, sondern als taktisches Manöver zum Zweck des eigenen Machterhalts mittels Spaltung der Opposition. So unterstützte die kurdische Bewegung die landesweiten Gezi-Proteste 2013 nur halbherzig und rettete so der AKP-Regierung den Hals, weil nach Geheimgesprächen mit Öcalan Hoffnung auf einen Friedensprozess bestand. Im Zuge des "Imrali-Prozesses" wurden dann zu Fragen von Amnestie, Rückkehrrecht und demokratischer Teilhabe detaillierte Vereinbarungen getroffen. Doch als bei den Wahlen im Frühjahr 2015 die kurdische HDP unter Führung von Selahattin Demirtas ein sensationell gutes Ergebnis erzielte, während die AKP ihre absolute Mehrheit verlor, beendete Erdogan den gesamten Verhandlungsprozess mit einem Federstrich und erklärte die Ergebnisse für obsolet. Es folgten heftige Kämpfe in den kurdisch bewohnten Gebieten im Südosten der Türkei, die die Armee schließlich mit dem massiven Einsatz überlegener Waffengewalt beendete. Nach dem gescheiterten Putsch gegen Erdogan 2016 beendete der anschließende Ausnahmezustand über Jahre jeden zivilen Widerstand auch in den kurdischen Gebieten des Landes. Die PKK wurde aus der Türkei weitgehend militärisch verdrängt und zog sich in den Nordirak zurück. [2]
Wenn nun abermals die Aussicht auf eine friedliche Einigung als Lockmittel vorgehalten wird, hat das nicht zuletzt etwas damit zu tun, dass sich Erdogan wiederum kurdischer Unterstützung zu bedienen hofft. Will er bei den für 2028 vorgesehenen Wahlen noch einmal antreten, muss die Verfassung geändert werden, wozu kurdische Stimmen ebenso erforderlich sind wie für die Alternative vorgezogener Neuwahlen. Dazu gilt es aus Sicht des Regimes einen Keil zwischen die prokurdische Partei DEM und die kemalistische CHP zu treiben, deren Absprachen über Kandidaten bei den Kommunalwahlen 2024 zu einer herben Niederlage der Regierungspartei AKP geführt hatten. Während nun die Auflösung der PKK in den höchsten Tönen gelobt wird, erfuhr die CHP um den inhaftierten Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu in den vergangenen Monaten bislang ungekannte Repressionen. [3]
Da sich Erdogan und die AKP freien Wahlen ohne massive Unterdrückung der Opposition nicht stellen können, ohne dabei entmachtet zu werden, umgarnen sie die kurdische Wählerschaft mit Luftschlössern bevorstehenden Friedens, damit diese die gewaltsame Ausschaltung Imamoglus und der CHP hinnimmt. Darüber hinaus ist natürlich ein Sieg über die PKK seit Jahrzehnten ein vordringliches Ziel jeder türkischen Regierung gewesen, das sich Erdogan nur zu gern ans Revers heften möchte. Woher nun der Wind weht, lässt sich auch daran ablesen, dass es ausgerechnet Devlet Bahceli, Vorsitzender der ultrarechten MHP und Koalitionspartner Erdogans, war, der im Oktober 2024 im Parlament den Abgeordneten der DEM demonstrativ die Hand schüttelte. Ein Mann, der früher geleugnet hat, dass es eine kurdische Ethnie gibt, und dessen Forderung lange Zeit war, Öcalan müsse hingerichtet werden, hat plötzlich Kreide gefressen. Am 15. Oktober wandte sich Bahceli mit dem beispiellosen Appell an Öcalan, er solle die PKK zur Niederlegung der Waffen bewegen. [4]
Wenige Tage später erklärte Öcalan aus dem Gefängnis, er habe die Macht, den Konflikt und die Gewalt zu beenden und sie auf eine gesetzliche und politische Ebene zu bringen. Das trifft auf zweifache Weise zu: Zum einen genießt Öcalan nicht nur innerhalb der PKK, deren unterstützende Basis von Kämpferinnen und Kämpfern, Sympathisanten und zivilen Helfern schätzungsweise 60.000 Personen umfasst, sondern auch weit darüber hinaus unter kurdischen Menschen im In- und Ausland höchstes Ansehen. Zum anderen ist es eben diese Autorität, die ihn zur prominentesten Geisel des Regimes macht, das ihn am Leben, aber seit 26 Jahren weitgehend in Isolationshaft hält, um sich seiner bei Bedarf zu bedienen.
Angesichts dieses Widerspruchs stellt sich natürlich die Frage, was Öcalan und die PKK dazu bewogen haben mag, den bewaffneten Kampf für beendet zu erklären. Neben diversen aktuellen Entwicklungen und damit verbundenen Erwägungen, die dabei eine Rolle gespielt haben könnten, dürfte im Kern die Erkenntnis stehen, dass der letztendlich stets überlegenen Waffengewalt des Staates und seiner internationalen Kollaborateure ein ebensolcher Widerstand nur befristet entgegengesetzt werden kann. Die PKK zog sich zwar ins Kandil-Gebirge im Nordirak zurück, von wo aus sie militärische Operationen und Logistik organisierte. Doch selbst die Unwegsamkeit der Berge und ihrer Höhlensysteme hält einer modernen Kriegsführung insbesondere mit Drohnen, welche die Türkei hoch entwickelt hat, nicht auf Dauer stand.
Öcalan war über die Jahre immer wieder bestrebt, den bewaffneten Widerstand weder zum Selbstzweck mutieren zu lassen, noch den kurdischen Freiheitskampf preiszugeben. Als sich abzeichnete, dass ein kurdischer Staat niemals durchsetzbar sein würde, strich er dieses Ziel aus der Agenda und ging zugleich mit seinem Entwurf einer demokratischen Konföderation selbstverwalteter Regionen unter Beibehaltung bestehender Staatsgrenzen konzeptionell darüber hinaus. Er machte damit nicht etwa nur aus der Not eine Tugend, sondern drang zu einer grundsätzlichen Kritik des Staates vor, dessen Gewaltverhältnis nicht unter kurdischem Vorzeichen wiederholt werden sollte. In diesen Vorschlag flossen weitreichende gesellschaftsverändernde Konsequenzen in Gestalt von Geschlechtergerechtigkeit, Koexistenz verschiedener Ethnien und ökologischen Ansätzen ein, wie sie dann auch in Rojava in Angriff genommen und weltweit mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wurden - von den einen als Leuchtfeuer gesellschaftlicher Emanzipation, von den andern aus ebendiesem Grund als zu vernichtendes Widerstandspotential.
Was die türkische Regierung in den Geheimgesprächen als Gegenleistung angeboten hat, ist naturgemäß nicht bekannt. Abgesandte der DEM durften Öcalan auf Imrali mehrfach besuchen und brachten von dort seine Botschaft mit, die PKK möge sich auflösen, was diese dann auch vollzogen hat. Diesen Beschluss von großer Tragweite verbindet Öcalan wiederum mit einem Entwurf zur Umgestaltung der Gesellschaft, der er ein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben türkischer und kurdischer Menschen anempfiehlt. Dass es sich bei diesem Schritt um eine höchst riskante Gratwanderung handelt, geht allein schon daraus hervor, dass die Auflösung der PKK nicht etwa am Ende eines offenen und nachvollziehbaren Verhandlungsprozesses, sondern ungeachtet aller Geheimgespräche im Gegenteil an dessen Anfang steht. Während nämlich der kurdische Widerstand sein massivstes Faustpfand aus der Hand gibt, hat die Regierung keinerlei Abmachungen oder Garantien genannt, zu deren Einhaltung sie sich verpflichtet.
Daher ließen sich mit den offenen Fragen viele Seiten füllen: Wird die PKK-Führung im Nordirak bleiben, in irgendein Exil übersiedeln oder gar im Zuge einer Amnestie in die Türkei zurückkehren? Wird sich ein Teil der PKK-Kämpfer nach Rojava absetzen oder sind die dortigen kurdischen Volks- und Frauenbefreiungseinheiten YPG und YPJ Teil der Abmachung, die Waffen niederzulegen? Wer überwacht den Prozess der Entwaffnung, und bilden sich womöglich neue militante Gruppen, die den bewaffneten Kampf weiterführen? Wie es von kurdischer Seite mit Nachdruck heißt, sei nun die türkische Regierung am Zuge. Wird sie tausende politische Gefangene freilassen, die wegen angeblicher Nähe zur PKK inhaftiert wurden? Kommen die seit 2016 inhaftierten ehemaligen Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, wie auch die zu Dutzenden abgesetzten kurdischen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister frei? Darf der mittlerweile 75-jährige Abdullah Öcalan endlich das Gefängnis verlassen? Werden die rund 15 Millionen Kurdinnen und Kurden in der Türkei schließlich doch als respektierte und akzeptierte Minderheit mit politischen, sprachlichen und kulturellen Rechten anerkannt? Angesichts ihrer Geschichte ist größte Skepsis geboten.
Inwieweit ist der Machthaber im Präsidentenpalast bereit, für eine dritte Amtszeit zähneknirschend Zugeständnisse zu machen? Mögliche Absprachen mit Öcalan und der PKK unter Verschluss zu halten, könnte natürlich auch dem Interesse Erdogans geschuldet sein, die Öffentlichkeit nicht zu verprellen, da auch er auf Messers Schneide balanciert, um die Kurdinnen und Kurden einzubinden, während er die kemalistische Sozialdemokratie zu liquidieren versucht. Grundsätzlich muss man aber davon ausgehen, dass er sich niemals in eine Friedenstaube verwandeln, sondern letztendlich alles daransetzen wird, die kurdische Frage gewaltsam aus der Welt zu schaffen. Zentrale Konstante seiner gesamten Regierungsführung ist ein aberwitzig anmutendes, aber strategisch furchterregendes Manövrieren zwischen rivalisierenden Mächten und Interessengruppen, die er heute aufs Übelste beschimpft und morgen in seine brüderlichen Arme schließt, ganz wie es sein Instinkt eines Straßenschlägers gebietet, der sich überdies von Gott auserwählt dünkt, als Sultan eines wiederauferstandenen Osmanischen Reiches in die Geschichte einzugehen.
Syrien war unter der Baath-Herrschaft für den kurdischen Teil der Bevölkerung von Unterdrückung durch den arabischen Nationalismus und eine Assimilationspolitik geprägt, wobei hunderttausenden Kurdinnen und Kurden selbst die syrische Staatsbürgerschaft vorenthalten wurde. Die demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien vollzog sich vor dem Hintergrund des Bürgerkrieges ab 2011, in dem sich die Kurden weder auf die Seite der repressiven Assad-Regierung noch der islamistisch dominierten Oppositionsgruppen stellten, die in starkem Maße von der Türkei unterstützt wurden. Unter Führung der Partei der demokratischen Union (PYD) wurden Komitees zur Versorgung und Verteidigung der Bevölkerung aufgebaut. Als der Krieg auf Rojava überzugreifen drohte, nutzte die PYD im Sommer 2012 die Schwäche des Regimes und mobilisierte die Bevölkerung zur Machtübernahme und Bildung einer Selbstverwaltung in Form eines Rätesystems, das die Mehrheit der dort lebenden Menschen nicht nur repräsentiert, sondern sie auch zur aktiven Mitwirkung einbezieht.
Bedroht ist die Selbstverwaltung seit ihrer Entstehung, da dieses Experiment von radikaler Demokratie, Geschlechtergerechtigkeit und multiethnischem Zusammenleben konträr zu allen Staaten der Region steht. Rojava war einem Embargo durch die Türkei, die syrische Regierung und die kurdische Regionalregierung im Nordirak ausgesetzt, wobei die Türkei die größte Gefahr darstellte, da sie mehrere Gebiete in Nordsyrien okkupierte und mit ihren dschihadistischen Söldnern besiedelte, während Kurden, Araber und Assyrer vertrieben wurden. Der Kanton Afrin wurde besetzt und in ein islamistisches Schreckensregime verwandelt, die Gebiete der Autonomieverwaltung überzog die Türkei mit einem permanenten Krieg niederer Intensität.
Das von Öcalan entwickelte Konzept der Demokratischen Nation, die sich aus der Vielzahl der in einem Gebiet lebenden ethnischen und religiösen Gemeinschaften zusammensetzt, räumt jeder dieser Gemeinschaften das Recht ein, sich demokratisch zu organisieren und ihre Forderungen einzubringen, wozu auch das Recht auf ihre Selbstverteidigung gehört. Die Selbstverwaltung in Rojava schließt neben Kurden auch Araber, christliche Suryoye, Armenier, Turkmenen und weitere Gruppen ein. So setzen sich die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) als Verteidigungseinheiten heute mehrheitlich aus Arabern sowie den kurdischen YPG und YPJ wie auch kleineren assyrischen und armenischen Einheiten zusammen. [5]
Der Sturz des Assad-Regimes und die Machtübernahme der pro-türkischen Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) sowie der von Ankara ausgebildeten Freien Syrischen Armee (FSA) in Damaskus vollzog sich im Schatten des Nahostkrieges, als die schiitische Achse des Iran durch die israelische Offensive ihre schwerste Niederlage erlitt. Sowohl die US-Administration unter Präsident Biden als auch die NATO gewährte der Türkei freie Hand, den Angriff verbündeter Oppositionsmilizen gegen das Assad-Regime und dessen Schutzmacht Russland zu unterstützen. Die Schwächung der russischen Militärpräsenz in Syrien war zudem ein erklärtes Ziel ukrainischer Offiziere, die an der Ausbildung hochrangiger HTS-Kommandeure beteiligt waren. HTS-Chef Ahmed al-Sharaa dankte als neuer syrischer Übergangspräsident der Türkei und insbesondere Erdogan, dessen Hilfe er nie vergessen werde.
Die Selbstverwaltung in Rojava sieht sich damit einem Zangengriff ausgesetzt, da sowohl die Türkei als auch die neue syrische Regierung ihre Existenz zu beenden trachten. Hochrangige Beamte aus Ankara begleiten den Integrationsprozess der islamistischen Milizen in die syrische Armee sowie die Neuordnung der staatlichen Behörden. Um Fehler wie jene der USA nach dem Sturz Saddam Husseins im Irak 2003 auszuschließen, vermeidet Ankara einen überhasteten Umbruch, wobei Ahmed al-Sharaa den geläuterten Staatsmann mimt. So wird die Achse zwischen Ankara und Damaskus gefestigt und die Präsenz türkischer Truppen in Syrien durch ein Regierungsdekret offiziell legitimiert.
In welchem Maße die Türkei ihren Einfluss auf ganz Syrien ausweiten kann, hängt jedoch maßgeblich von den Bedingungen ab, die vor allem Israel und die USA festlegen werden. Washington befürchtet eine Rückkehr des IS und will seine Präsenz im Land bislang nicht aufgeben, wodurch die SDF eine gewisse Unterstützung erfahren. Zumindest hat sich Trump, der beste Beziehungen mit Erdogan und Netanjahu pflegt, noch nicht für einen der beiden oder einen vollständigen Abzug der US-Truppen entschieden. Israel wäre bereit, eine türkische Präsenz in Syrien zu akzeptieren, doch vorerst nur zu Konditionen, die Ankara von sich weist. [6]
Auf amerikanisches Drängen fanden Verhandlungen zwischen Präsident Ahmed al-Sharaa und dem SDF-Kommandanten Mazloum Abdi statt, die in ein Abkommen mündeten. Mit diesem hoffte Abdi, die Unabhängigkeit der Selbstverwaltung gegen die existenzielle Bedrohung durch die Türkei zu verteidigen, während al-Sharaa, der sich schweren Vorwürfen der ethnischen Säuberung ausgesetzt sah, sich den Rücken freihielt und zugleich seinen Zugriff auf den Nordosten des Landes auszuweiten trachtete. Das Abkommen räumt den Kurdinnen und Kurden volle Staatsbürgerrechte ein, verpflichtet sie aber zugleich, alle zivilen und militärischen Institutionen der Autonomieverwaltung in die staatliche Administration einzugliedern. Somit würden ihre Streitkräfte in die syrische Armee integriert und die Übergangsregierung bekäme die Kontrolle über Grenzübergänge, Flughäfen sowie Öl- und Gasfelder. Auch erklären sich die SDF bereit, die Regierung bei der Bekämpfung von verbliebenen Anhängern des gestürzten Assad-Regimes und jeglicher Bedrohung der Sicherheit und Einheit Syriens zu unterstützen.
Das Abkommen könnte also einen Einmarsch der Türkei verhindern, macht aber den Traum von Autonomie oder Föderalismus zunichte. Da das Rahmenabkommen bis Ende des Jahres umgesetzt werden soll, ist nicht auszuschließen, dass eine gewisse Form von Selbstverwaltung erhalten werden könnte. Im schlimmsten Fall wäre jedoch der Preis für das Überleben, den Aufbau einer anderen Gesellschaft, für den Rojava steht und kämpft, zu Grabe zu tragen.
Unmittelbar nach Bekanntgabe des Abkommens blieb der Widerspruch aus kurdischen Kreisen noch verhalten. Das änderte sich jedoch von Grund auf, als drei Tage später der Entwurf einer neuen Verfassung enthüllt wurde, der von regierungsnahen Expertenteams ausgearbeitet worden war. Darin wird der Präsident zum obersten und alleinigen Herrscher erklärt, der nicht abgesetzt werden kann. Es handelt sich um ein totalitäres Regime, dessen Hauptquelle der Gesetzgebung die Scharia sein soll, so dass eine theokratische Diktatur in Aussicht steht. Deren Name "Syrische Arabische Republik" grenzt die kurdische Minderheit aus, zumal in der Verfassung von ihr keine Rede ist. All dies führte dazu, dass tausende Menschen auf die Straße gingen und den Sturz des neuen Präsidenten forderten. [7]
Die Verbindungen zwischen dem Staat Israel und der Region Kurdistan wurzeln in der strategischen Unterstützung potentieller Bündnispartner zur Schwächung und Spaltung des feindlichen arabischen Umfelds gemäß der "Peripheriedoktrin". Es geht also, wie bereits eingangs hervorgehoben, nicht um Freundschaft mit kurdischen Menschen und deren Bestrebungen um ihrer selbst willen, sondern um israelische Staatsräson, die Feinde des Feindes zu stärken, sofern und solange dies den eigenen Interessen dient. Der erste nachgewiesene Kontakt fand 1931 statt, als der spätere Direktor des Mossad, Reuven Shiloah, als Hebräischlehrer und Journalist getarnt Kurdistan besuchte. Während seines Aufenthalts knüpfte er Kontakte und legte den Grundstein für Verbindungen zu den nicht-arabischen Gemeinschaften in der Region. Als sich die Beziehungen zwischen Juden und Arabern aufgrund des Palästinakriegs von 1947 bis 1949 weiter verschlechterten, wurden die in arabischen Ländern lebenden Juden zunehmend verfolgt. Ab den späten 1940er Jahren floh der Großteil der jüdischen Bevölkerung des Irak über Kurdistan nach Israel. 1959 kam es in Genf zum Treffen eines kurdischen Gesandten mit Golda Meir, die bedingungslose Unterstützung für ein unabhängiges Kurdistan versprach.
Während des Ersten Irakisch-Kurdischen Krieges (1961-1970) unterstützte Israel die kurdischen Peschmerga im Kampf gegen den irakischen Staat und band dazu den iranischen Geheimdienst SAVAK ein. Die weitgehend geheime israelische Unterstützung nutzte iranisches Territorium, finanzierte die Kurden, rüstete sie auf und bildete sie aus. Das Dreierbündnis zerbrach erst 1975, als der Iran gemäß dem Algier-Abkommen mit dem Irak die Unterstützung der Peschmerga beendete. In Reaktion darauf erklärte der israelische Premierminister Yitzhak Rabin: "Der Schah hat die Kurden verraten."
Nach dem Zweiten Irakisch-Kurdischen Krieg wurde das Bündnis bis 1978 schrittweise erneuert, doch hörte es nach dem Sturz der Pahlavi-Dynastie und der Gründung der Islamischen Republik Iran auf zu existieren. Trotz der antiisraelischen Haltung der neuen Regierung in Teheran hielt Israel auch nach Ausbruch des Iran-Irak-Krieges im September 1980 seine Unterstützung für die pro-iranischen kurdischen Kräfte im Irak aufrecht, um letzteren aufzuspalten. Nach der Invasion des Irak im Jahr 2003 war offenbar auch der israelische Geheimdienst vor Ort, um iranischen Stellvertretergruppen entgegenzuwirken. Der Außenminister der Region Kurdistan, Falah Mustafa Bakir, erklärte 2010: "Wir haben keine Probleme mit Israel. Sie haben uns nicht geschadet. Wir können sie nicht hassen, nur weil die Araber sie hassen."
Im Juni 2014 nahm Israel ungeachtet irakischen Protests erstmals unabhängig verkauftes kurdisches Öl an, und Benjamin Netanjahu erklärte, die Kurden im Irak seien ein "kämpfendes Volk, das politisches Engagement und politische Mäßigung bewiesen hat und das seiner eigenen politischen Unabhängigkeit würdig ist". Im September 2014 legte er mit den Worten nach, Israel unterstütze "die legitimen Bemühungen des kurdischen Volkes um einen eigenen Staat". Nachdem ein Referendum in der Region Kurdistan 2017 mit 93 Prozent der Stimmen für die Unabhängigkeit endete, eroberten die irakischen Streitkräfte jedoch große Teile der kurdischen Gebiete zurück. Im Jahr 2017 wurde fast die Hälfte des aus kurdischen Ölfeldern geförderten Öls nach Israel exportiert.
Ganz anders verhielt es sich hingegen mit den Beziehungen zwischen Israel und der PKK, die sich eine antizionistische Haltung zu eigen machte und für die Palästinenser eintrat. Nach ihrer Vertreibung aus der Türkei zog die PKK in die libanesische Bekaa-Ebene, wo sie zunächst in PLO-Lagern ausgebildet wurde, bis sie später eigene Trainingslager gründete. Im Libanonkrieg 1982 kämpfte sie an der Seite der PLO gegen Israel und die christlichen Milizen. In diesen Gefechten wurden auch kurdische Kader getötet oder gefangengenommen und in Israel inhaftiert. Die Entscheidung palästinensischer Gruppen, der PKK im Bekaa-Tal Schutz zu gewähren, hatte enormen Einfluss auf die Ideologie der ersten PKK-Generation, die sich dort von einer kleinen bewaffneten Gruppe zu einer bedeutenden Guerillatruppe entwickelte. Diese Erfahrungen bestärkten die PKK-Kämpfer, das marxistische Konzept der Völkerfreundschaft mit Leben zu füllen.
Unter dem Druck der Türkei auf die syrische Regierung beendete die PKK ihre Präsenz im Libanon und fand 1992 in Damaskus Schutz. Israel schloss mit der Türkei ein Abkommen über polizeiliche Zusammenarbeit, das im Rahmen des globalen Anti-Terror-Krieges gegen die PKK vorging. Die Spannungen zwischen der Türkei und Syrien verschärften sich aufgrund der Beteiligung Israels am türkischen Krieg gegen die PKK. Die Türkei überzeugte Israel, seinen Einfluss auf den US-Kongress zu nutzen, um die USA dazu zu bewegen, ihre Kritik an der türkischen Unterdrückung der Kurden einzustellen.
Die Türkei forderte Syrien wiederholt auf, die Beziehungen zur PKK abzubrechen, und verlegte 1998 Truppen an die Grenze, nachdem die Warnungen von Damaskus ignoriert worden waren. Zugleich bedrohten israelische Truppen die syrische Präsenz im Libanon und waren bereits an der israelisch-syrischen Grenze stationiert. Da die syrische Regierung keinen Kampf an zwei Fronten führen wollte, unterzeichnete Hafez al-Assad das Adana-Abkommen, in dem er die Beziehungen zur PKK abbrach und sie als terroristische Vereinigung einstufte. Daraufhin zog die PKK in die Kandil-Berge um, wo sie sich verstärkt auf den Aufstand gegen die Türkei und die von der KDP dominierte Region Kurdistan im Irak konzentrierte. An der Festnahme und Verschleppung Abdullah Öcalans am 15. Februar 1999 in Nairobi war neben dem türkischen Geheimdienst MIT und der CIA wohl auch der Mossad beteiligt.
Im Jahr 2017 bezeichnete Netanjahu die PKK abermals als Terrororganisation und forderte die Türkei auf, im Gegenzug auch die Hamas als solche zu betrachten. Mustafa Karasu, ein PKK-Führer, verurteilte die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch die USA im Jahr 2018, da dort alle Religionen respektiert werden sollten. Nachdem die USA im Mai 2018 ihre Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem verlegt hatten, kam es an der Grenze zum Gazastreifen zu Protesten, bei denen israelische Truppen mehrere Palästinenser töteten. PKK und HDP verurteilten die Morde und forderten ein Ende der Gewalt. Gefragt nach einer Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts erklärten führende Kader der PKK, nicht eine Ein- oder Zweistaatenlösung, sondern der demokratische Konföderalismus sei die einzig mögliche Entschärfung aller Konflikte im Nahen Osten. Nur auf diesem Wege könne Frieden zwischen allen Ethnien und Religionen herbeigeführt werden.
Israel und die Türkei arbeiten nach Einschätzung der PKK-Führung auf Grundlage eines rassistischen und chauvinistischen Verständnisses und einer entsprechenden Politik zusammen. Zwar sehe es manchmal so aus, als gebe es grundlegende Widersprüche zwischen dem israelischen und dem türkischen Staat. Doch das sei nur ein vordergründiges Geschehen, das die grundsätzlichen Beziehungen der beiden Staatsführungen verschleiere und die Bevölkerung täusche. Gegenwärtig sei Israel in den kurdisch-türkischen Konflikt verwickelt, weil der jüdische Nationalismus mit seinem türkischen Pendant vorübergehend um territoriale Ansprüche streite. Wenngleich Erdogan im Gaza-Krieg eine entschieden pro-palästinensische Haltung zur Schau gestellt habe, unterstütze er wechselweise jeden, solange ihm das nütze. Heute stehe er demonstrativ auf der Seite Palästinas, doch morgen schon wieder auf der Israels.
Wenn es heißt, der Untergang des Osmanischen Reiches sei ein kollektives Trauma der Türkei, dient dieser herbeifantasierte Stachel im Fleisch der Nation dem Machtkalkül der politischen Elite, den beklagten historischen Verlust durch eine expansionistische Außenpolitik zu kompensieren. "Die Türkei ist größer als die Türkei", deklamiert Präsident Erdogan. "Als Nation können wir unseren Horizont nicht auf 782.000 Quadratkilometer beschränken. Die Türkei und die türkische Nation können ihrem Schicksal nicht entkommen und sich auch nicht davor verstecken." Was diese ominöse Drohung mit den Schicksalsmächten im Klartext bedeuten könnte, zeigen türkische Landkarten, die Teile der Nachbarländer und selbst das Mittelmeer bis nach Libyen der Türkei zuschlagen. Damit nicht genug, greift der neoosmanische Traum längst weit darüber hinaus, von der Führerschaft aller Turkvölker bis nach Zentralasien ganz zu schweigen.
Ankara unterhält nicht nur zahlreiche Militärbasen im Globalen Süden, sondern bildet auch nationale Armeen in der "Terrorismusbekämpfung" aus, liefert Drohnentechnologie sowie hochmoderne Rüstungsgüter in Krisengebiete und stärkt mit großen Infrastrukturprojekten, karitativen Hilfsmaßnahmen sowie Bildungsinitiativen seinen Einfluss auf die Gesellschaften vor Ort. In Syrien könnte sich der Wiederaufbau als Goldgrube zur Rettung der kriselnden türkischen Wirtschaft erweisen, die sich ein großes Stück vom Kuchen des potentiellen Auftragsmarkts von schätzungsweise rund 100 Milliarden Dollar einverleiben will. Die von langer Hand geplante Rückkehr syrischer Flüchtlinge, die bislang überwiegend im türkischen Niedriglohnsektor tätig waren, soll im Sinne einer ethnischen Säuberung insbesondere die widerspenstige kurdische Bevölkerung vertreiben und die Vernichtung ihrer grenznahen Selbstverwaltung mitbefördern.
Syrien, das über 400 Jahre Teil des Osmanischen Reiches war, soll Zug um Zug in die türkische Einflusssphäre gezogen werden, wodurch die Türkei per Neuordnung des Nahen Ostens zur führenden Regionalmacht aufsteigen würde. Letzteres hat sich aber auch Israel seit jeher auf die Fahne geschrieben, ein Land ohne festgelegte Grenzen, dessen Vision entuferter Größe seine Sicherheitsansprüche nach Belieben ausweitet. Daher steuert der beiderseitige Übergriff auf das gemeinsame Nachbarland zwangsläufig auf Kollisionskurs. Beide waren am Sturz des Assad-Regimes beteiligt, doch weder in Jerusalem noch in Ankara will man dem anderen die Beute ganz und gar überlassen. Israel verlangt, dass sich die Türkei nicht länger in Gaza und dem Westjordanland einmischt wie auch die Annexion der Golanhöhen anerkennt. Gefordert wird überdies eine entmilitarisierte Zone südlich von Damaskus sowie ein freier Himmel für die israelische Luftwaffe. Im Grunde reklamiert die Regierung Israels den Süden Syriens für sich, wo sie eine Pufferzone besetzt hat und die Überreste militärischer Einrichtungen und Arsenale bombardiert. Nichts soll übrigbleiben, was die Lufthoheit bis an die Grenze des Iran und die Verhinderung iranischer Unterstützung der Hisbollah gefährden könnte. Als Warnschuss vor den Bug Ankaras wurde sogar der T4-Militärflughafen in der zentralsyrischen Provinz Homs, den die Türkei zum eigenen Luftwaffenstützpunkt ausbauen wollte, von israelischen Kampfjets zerbombt.
Dieser israelischen Diplomatie ruchloser Taten und brachialer Waffengewalt setzte Ankara kaum minder schwere Geschütze entgegen. Sich von der palästinensischen Frage zurückzuziehen, sei unmöglich für die Türkei, erklärte Außenminister Hakan Fidan. "Die Beendigung der israelischen Besatzung und die Errichtung eines palästinensischen Staates auf der Grundlage der Grenzen von 1967 sind die einzige Lösung für dieses Problem." Wenngleich heute kein Mensch mehr ernsthaft davon ausgehen dürfte, dass diese Forderungen jemals erfüllt werden könnten, gibt die Formel noch immer den Leim öffentlich zelebrierter Bündnisse und Ansprüche in dieser Region ab. "Wer fragt, was die Türkei in Libyen, Syrien und Somalia unternimmt, versteht diese Einsätze möglicherweise nicht. Wir müssen die Mission erkennen und akzeptieren, die uns die Geschichte als Nation zugewiesen hat, und entsprechend handeln", erklärte Präsident Erdogan nach dem Sturz Baschar al-Assads. Die Türkei werde keine Schritte zulassen, die ihre nationale Sicherheit und Interessen gefährden würden. Denn die "separatistische Terrororganisation" wolle die Gunst der Stunde nutzen, womit Erdogan natürlich die autonome Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien meint.
Dem entgegnete der israelische Außenminister Gideon Sa'ar bei einer Pressekonferenz: "Ich habe betont, dass die Sicherheit der kurdischen Minderheit in Syrien gewährleistet werden muss, die immer noch Angriffen ausgesetzt ist. Die Kurden haben tapfer gegen die Terrormiliz IS gekämpft und die internationale Gemeinschaft muss ihren Schutz vor Angriffen radikaler Islamisten gewährleisten." [8]
Dürfen die Menschen in Rojava also darauf hoffen, dass sie den Konflikt der rivalisierenden Regionalmächte zu ihren Gunsten nutzen können und ihnen Israel im Falle eines türkischen Generalangriffs beisteht? Dagegen spricht ein Treffen hochrangiger Militärdelegationen aus der Türkei und Israel im aserbaidschanischen Baku, wo über einen Mechanismus zur Vermeidung von Konflikten in Syrien beraten wurde. Gegenstand der Verhandlungen war die Aufteilung von Einflusszonen, worauf israelische Medien den Vergleich zum Sykes-Picot-Abkommen von 1916 zogen, mit dem britische und französische Diplomaten im Ersten Weltkrieg ihre kolonialen Interessengebiete im Nahen Osten abgrenzten. Aus der willkürlich gezogenen "Linie im Sand" folgten bis heute blutige Konflikte. Dementsprechend dürfte auch die Verständigung zwischen der Türkei und Israel dazu führen, dass Syrien fragmentiert und instabil bleibt, woraus neue Kriege zu resultieren drohen. [9]
Die von Washington vorangetriebene Neuordnung des Mittleren Ostens schafft ein Trümmerfeld, in dem die Türkei und Israel das Zerstörungswerk fortsetzen. Mit über 100.000 Kämpferinnen und Kämpfern verfügen die SDF zwar über ein bedeutendes Verteidigungspotential, das jedoch mangels schweren Kriegsgeräts und insbesondere einer Luftwaffe auf Unterstützung wie jene der USA angewiesen ist. Die Hilfe staatlicher Bündnispartner geht jedoch nie über deren Interesse hinaus, sich der kurdischen Kampfkraft wie bei der Zerschlagung des IS befristet zu bedienen. Russen wie Amerikaner ließen Rojava bei den türkischen Angriffen weitgehend im Stich, was auch für Israel gelten würde, das sich als Freund der Kurden inszeniert, de facto aber auf ein zerstückeltes Syrien setzt. Im Zeitalter weltweiter Restauration des Rückzugs auf nationalstaatliche Machtprojektionen sieht sich die kurdisch inspirierte Selbstverwaltung, so beispielhaft sie auch anmuten mag, gerade wegen ihrer Errungenschaften massiveren Bedrohungen denn je ausgesetzt.
28. Mai 2025
Fußnoten:
[1] https://www.jungewelt.de/artikel/495222.t%C3%BCrkei-und-kurden-warten-auf-ankara.html
[2] https://taz.de/Kurden-in-der-Tuerkei/!6084470/
[3] https://www.zeit.de/2025/20/aufloesung-pkk-tuerkei-kurden-abdullah-oecalan-frieden
[4] https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-und-pkk-41-jahre-blutiger-konflikt-gehen-zu-ende/a-72514187
[5] https://staatstheater-hannover.de/de_DE/nick-brauns
[6] https://www.ipg-journal.de/regionen/naher-osten/artikel/wettstreit-um-die-vorherrschaft-8060/
[7] https://www.israelheute.com/erfahren/historisches-abkommen-zwischen-den-kurden-und-syrien-hoffnung-oder-unterwerfung/
[8] https://www.fr.de/politik/israel-bekennt-sich-deutlich-zu-den-kurden-eskalation-in-syrien-befuerchtet-zr-93459841.html
[9] https://www.jungewelt.de/artikel/497991.ein-hauch-von-sykes-picot.html
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 183 vom 5. Juli 2025
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