Unersättlich ist er, der Wolf. Seiner Gefräßigkeit sind insbesondere zarte Jungtiere nicht gewachsen, sie munden nicht nur köstlich, sondern stellen auch eine leichte Beute dar. Dass Mutter Ziege ihre Kinder allein zuhause zurücklässt, um ihre Erledigungen zu verrichten, wohl wissend um die Verstellungskünste des Wolfes, war mithin ein großes Risiko.
Und so kam es, wie es kommen musste - nach mehreren Anläufen, bei denen die Geißlein die Täuschungsversuche des Wolfes durchschauten und die Tür verschlossen hielten, öffneten sie ihm in der Annahme, es handle sich um ihre Mutter. Da nützte kein Weglaufen und Verstecken - der Wolf spürte alle auf bis auf die Jüngste, die im Kasten der großen Standuhr Zuflucht gesucht hatte.
Gierig, wie er ist, kannte der Wolf kein Halten mehr und verschlang seine Beute, sobald er ihrer habhaft werden konnte. Sechs junge Ziegen stellen auch für den Magen eines ausgemachten Vielfraßes eine erhebliche Herausforderung dar, so dass der Wolf wie betäubt unter einem nahe stehenden Baum in einen tiefen Verdauungsschlaf fiel.
Vom siebten Geißlein sogleich nach ihrer Rückkehr über das Geschehen aufgeklärt, schnitt Mutter Ziege dem von befriedigtem Blutrausch geradezu narkotisierten Wolf den Bauch auf und siehe da - alle sechs von ihm heruntergeschlungenen Geißlein waren von seinen Verdauungssäften noch so wenig angegriffen, dass sie der Anweisung ihrer Mutter Folge leisten und schwere Wackersteine herbeischaffen konnten.
Diese wurden kurzerhand im offenen Bauch des Wolfes versenkt. Die im Umgang mit Nadel und Faden erfahrene Ziege nähte ihn so perfekt zu, dass der bald darauf erwachte Wolf es mit den in seinen Gedärmen rumpelnden und pumpelnden Wackersteinen noch bis zum Brunnen schaffte. Um seinen Durst zu befriedigen, beugte er sich tief über dessen Rand und wurde vom Gewicht der schweren Last in die dunkle Tiefe des Wasserreservoirs gezogen, wo er elendiglich zugrunde ging.
So oder ähnlich wird das Märchen "Der Wolf und die sieben Geißlein" bis heute immer wieder kleinen Kindern erzählt, um Hoffnung und Zuversicht für das vor ihnen liegende Leben zu spenden - selbst die Schwachen und Hilflosen haben die Möglichkeit, der Grausamkeit des alles verzehrenden Räubers zu entkommen, wenn sie sich nur geschickt genug anstellen.
Heute, da die Wiederansiedlung von Wölfen die Frage aufwirft, wer zuerst Zugriff auf "Nutztiere" haben wird, denen in jedem Fall vorherbestimmt ist, in jungen Jahren, da ihr Fleisch noch zart und frisch ist, einen frühen Tod zu erleiden, bietet sich das furchterregende Auftreten des Canis lupus vor allem zur metaphorischen Verwendung an. Wer repräsentiert den Wolf in der durch rationales Denken und technologische Innovation entzauberten Welt, wer die jungen Geißlein, unter denen er Angst und Schrecken verbreitet?
Einen Hinweis darauf könnte der Philosoph Thomas Hobbes geben, der 1651 mit seinem epochalen Werk "Leviathan" die moderne Staatstheorie begründete. Ihm zufolge begegnen Menschen im Naturzustand einander mit der Jagd- und Mordlust der Wölfe. Ohne jede Form staatlicher Regulation sei der eine des anderen Wolf, so dass in diesem Urzustand permanenter Krieg aller gegen alle herrsche. Durch die potentielle Vernichtung des anderen zugunsten des eigenen Überlebens bilde sich eine Rangordnung der Stärke heraus, die, vertragsrechtlich kodifiziert, den Staat als einzig gesetzgebende Kraft hervortreten lasse. Die Unterwerfung unter sein Gewaltmonopol führe zu allgemeiner Befriedung, also einer Zivilisierung der als unabänderlich räuberisch betrachteten Urnatur des Menschen.
Der Staatssouverän wird auf dem berühmten Frontispiz des "Leviathan" als mit Krone, Schwert und Zepter versehener König visualisiert, dessen Torso und Arme aus der vielköpfigen Masse seiner Untertanen bestehen. Das darüber präsentierte Bibelzitat ist unmissverständlich: "Keine Macht auf Erden ist mit der seinen vergleichbar - Hiob 41,24." Dieses Symbol des modernen Staates, in dem der Naturzustand durch einen Akt der Vernunft in einer auf vertragsrechtlicher Basis erstehenden Gesetzesform aufgeht, soll allein in der Lage sein, dauerhaften Frieden herzustellen, so die im 17. Jahrhundert von der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges geprägte Theorie. Sie kann als Grundlage des modernen Rechtsstaats wie des klassischen Völkerrechts bezeichnet werden, das Staaten als individuelle Rechtssubjekte behandelt, die in einem Vertragsverhältnis zueinander stehen, das Kriege zwischen ihnen verhindern soll.
Mit der angeblichen Unüberwindbarkeit des Raub- und Vernichtungsverhältnisses der Menschen sowie dessen vermeintlich einzig möglichen Bewältigung durch ein auf Gegenseitigkeit beruhendes Vertragsverhältnis werden alle anderen Ideen, einen unblutigen Umgang miteinander zu pflegen, ins Abseits zwar wünschenswerter, aber nicht realisierbarer Utopien verwiesen. Die monokausale Grundlegung des vermeintlichen Naturzwangs allein stellt alle weiteren Überlegungen unter den Primat eines Sachzwangs, der Gewaltanwendung wenn nicht gegeneinander, dann gegen andere unabdinglich macht.
Warum gegen andere? Der Wolf ist nicht aus der Welt, sondern im Staat zu größerer Machtfülle aufgestiegen. Indem dieser sich analog zu den in ihn inkorporierten Personen territorial, politisch und kulturell gegen andere Staatssubjekte abgrenzen muss, um überhaupt die Bedingung einer dann auch völkerrechtlich anerkannten Entität zu erfüllen, wird der individuelle Konkurrenzkampf auf die Ebene der Staatsapparate gehoben. Der von Hobbes an den Anfang aller zivilen menschlichen Entwicklung gestellte Naturzustand wird auf höherer Ebene reproduziert, um per Vertragsrecht wieder eingehegt zu werden. Da das Prinzip, dass Verträge einzuhalten seien, ihren Bruch voraussetzt, gibt es allerdings keinerlei Garantie für die Haltbarkeit eines solchen Friedens.
Allein die inneren sozialen und ökonomischen Krisen jeder Staatlichkeit, die notwendige ideologische Absicherung der jeweils Herrschenden und der keineswegs aufgehobene, sondern lediglich unter rechtliche Quarantäne gestellte Naturzustand produzieren eine Handlungsnot, die mit großer Regelmäßigkeit zur Anwendung militärischer Gewalt führt. Zu unterstellen, dass dies quasi ohne Zutun der Staatsakteure auf "schlafwandlerische" Art geschehe, mithin niemand für die Katastrophe des Kriegs verantwortlich zu machen sei, ist dem Mythos einer bürgerlichen Vernunft geschuldet, deren erste Forderung darin besteht, in jeder noch so großen Enge den Kopf aus der Schlinge ziehen zu können.
"Homo homini lupus, das heißt Haß, Ellbogen, Hals-Zudrehen und
alles, was bisher bloß das Wucherkapital konnte. Die Urgesellschaft
ist eben eine Wolfsgesellschaft, und damit die Bestien voreinander
sicher sind, schließen sie sich bei Hobbes zusammen, um nur noch
einen Wolf übrigzulassen, der die bloße Sicherungsgesellschaft vor
ihren unverändert aggressiv bleibenden Elementen schützt. Derart wird
keine freiwillige Einigung, wie im liberalen Naturrecht, angenommen,
sondern eine Unterwerfung unter eine von der Gemeinschaft ausgesparte
Schützbestie, die nun Monarch heißt, gewiss nicht von Gottes Gnaden.
Dieser Wolf ist nicht in den Staatsvertrag eingetreten, ihn hat man
als Wolf belassen, damit er beißt, verfolgt, und Strafrecht, Kerker
und Galgen darstellt, wenn die Menschen einander an den Kragen
wollen, wenn sie das sein wollen, was nur er sein darf."
Ernst Bloch: Vorlesungen zur Philosophie der Renaissance [1]
Die Überwindung des Feudalismus durch die bürgerliche Emanzipation, die Ausbildung der Nationalstaaten und ihre vertragliche Einbindung in internationales Recht, die konstitutionelle Verankerung demokratischer Prinzipien und humanitärer Rechte in den Verfassungen moderner Rechtsstaaten - weder wurde der Krieg aus der Welt geschafft noch die Ausbeutung von Menschen, deren einziges Gut im Verkauf ihrer Arbeitskraft und Lebenszeit besteht. Höchst erfolgreich hingegen ist das Zurückdrängen der Naturschranke verlaufen, wie es euphemistisch in Texten eines historischen Materialismus heißt, der die Entwicklung der Produktivkräfte zum ehernen Ziel menschlicher Befreiung erklärte und darüber vergaß, dass die Einspeisung des Lebens in die große Maschine im Realsozialismus nicht minder normierte Fließbandprodukte hervorbrachte als in der auf Steigerung des Konsums um jeden Preis getrimmten Warenwirtschaft des liberalen Kapitalismus.
Der originäre Wolf wurde in stark regulierte Habitate eingehegt, so dass von Wildnis im Sinne von menschlicher Kultivierung unberührter Naturräume kaum noch gesprochen werden kann. Bemessen am Stand der Biomasse heute lebender Säugetiere gehören Wölfe zu jenen 2 Prozent Wildtieren, die noch nicht den 62 Prozent an "Nutztieren" und 34 Prozent an menschlichen Tieren gewichen sind, die die Landflächen des Planeten besetzen. Allein domestizierte Ziegen übertreffen mit 3 Prozent Biomasse alle wildlebenden Säugetiere, die auf den stetig schrumpfenden Flächen naturbelassener Wälder und Savannen nicht einmal mehr das Privileg des Prädators, sich eines Lebens an der Spitze der Nahrungskette relativ sicher sein zu können, genießen können - je bedrohter ihre Arten, desto größer scheint der Reiz zu sein, die auf Großwildjagd erbeuteten Trophäen stolz auf den Plattformen einer Aufmerksamkeitsökonomie zu präsentieren, in der jeder noch so exzessive Aufschwung zu persönlicher Einzigartigkeit im Ozean synonymer Versuche untergeht, der Flüchtigkeit und Nichtigkeit existenzieller Finalität zu entkommen.
Wo die gesellschaftlichen Naturverhältnisse im Argen liegen, weil die eigenen Lebensvoraussetzungen zusehends zerstört werden, um von der ausbleibenden Anerkennung des Subjektstatus nichtmenschlichen Lebens nicht zu sprechen, sind menschliche Lebenswelten nicht minder dem zersetzenden Einfluss sozialer Zwietracht, gewaltsamer Unterdrückung und kriegerischer Vernichtung ausgesetzt. Was in einer weitgehend befriedeten Gesellschaft wie der der Bundesrepublik nur für diejenigen nicht zutrifft, die nicht der wachsenden Schar Obdachloser oder von Abschiebung bedrohter MigrantInnen angehören, schlägt in den Peripherien der hochindustrialisierten Staaten mit der ganzen Wucht kolonialistischer, imperialistischer und extraktivistischer Lebensverneinung zu.
Die Frage, wer mit den Wölfen heult oder als Ziege in Lebensgefahr schwebt, wird zum einen anhand der nationalen Zugehörigkeit, zum andern mit der jeweiligen Position in der klassengesellschaftlichen Rangordnung beantwortet. Beides widerspricht zutiefst jenem menschenrechtlichen Universalismus, auf den sich die Staatenwelt seit Gründung der Vereinten Nationen 1945 in Reaktion auf die Katastrophe zweier Weltkriege geeinigt hat. Der humanistische Anspruch dieser Wertegemeinschaft bleibt schon deshalb uneingelöst, weil das Ideal seiner Verwirklichung niemals auf die Füße materieller Gleichheit gestellt wurde, sondern als privatwirtschaftliche Eigentumsordnung in Gestalt einer in Euro und Dollar bezifferten Zugehörigkeit respektive Ausgrenzung in Erscheinung tritt.
Nach der Niederlage der revolutionären Linken und der Diffamierung aller sozialistischen und kommunistischen Zukunftsentwürfe als schon im Vorweg gescheiterte Sozialutopie scheint sich die Uhr, die einst hoffnungsfroh auf eine sich stetig verbessernde Zukunft des sozialen Fortschritts geeicht war, rückwärts zu drehen. Der weltweite Vormarsch rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien untermauert um Staat und Nation, um Souveränität und Ausnahmezustand kreisende Herrschaftsstrategien. Staatenkriege in Europa und Praktiken kolonialistischer Interessenpolitik, die ethnische Vertreibung zwecks territorialer Gebietsveränderung vollziehen, belegen, dass das völkerrechtliche Gewaltverbot und die Sanktionierung seiner Missachtung durch die Vereinten Nationen praktisch irrelevant geworden sind.
So wird die Legalität internationalen Vertragsrechts mühelos von machtpolitischer Realpolitik unterlaufen, deren SachwalterInnen zu deren Legitimation nach Belieben in Anspruch nehmen, was gerade den jeweiligen strategischen Erfordernissen entspricht. Die sogenannte westliche Wertegemeinschaft beruft sich bei missliebigen Aggressoren auf den Legalismus internationaler Strafjustiz, während dem Staatschef eines verbündeten Landes, gegen den ein internationaler Haftbefehl ausgestellt wurde, diplomatische Immunität zugestanden wird. Im Spannungsfeld von selbst verfügter regelbasierter Ordnung und Weltrecht nach UN-Charta lässt es sich hervorragend manövrieren, solange die eigene Finanz- und Feuerkraft dazu ausreicht, die Eskalationsleiter über Wirtschaftssanktionen, Waffenlieferungen und Kriegseintritt bis hin zu ultimativer atomarer Vernichtungsdrohung hinaufzuklettern.
Eine nationalistische Identitätspolitik, die die eigene Bevölkerung in die Erste Person Plural fasst, um alles andere unter fremd und potentiell feindlich abheften zu können, sorgt dafür, dass der Leviathan seinem wölfischen Treiben ohne größere Unterbrechung durch die eigenen Untertanen nachgehen kann. Vorbei die Zeiten eines linken Internationalismus, dem die ArbeiterInnenklasse des gegnerischen Landes näher stand als die eigenen Herren, vergessen die Definition eines Ernest Gellner, der als einflussreicher Gesellschaftstheoretiker der Nachkriegszeit in seinem 1983 veröffentlichen Werk "Nationalismus und Moderne" kategorisch feststellte: "Es ist der Nationalismus, der die Nationen hervorbringt, nicht umgekehrt."
Der Historiker Benedict Anderson schlägt 1983 in seinem viel zitierten Werk "Die Erfindung der Nation" diese Definition vor: "Eine Nation ist eine imaginierte Gemeinschaft - imaginiert als begrenzt und souverän." Alles, was über den Kreis in direktem Kontakt entstandener Beziehungen hinausgeht, bedarf abstrakter Kriterien topographischer, kultureller oder ideologischer Art, um als gemeinschaftsstiftende Idee im Extremfall zu bewirken, dass sich Menschen, die einander nie begegnet sind, nur weil sie nicht dazugehören, gegenseitig umbringen. Das gilt zumindest für eine Moderne, in der die jeweiligen Gruppenidentitäten Tausende bis Millionen Individuen umfassen. Unter dem Banner der Nation in den Krieg zu ziehen, bildet sich, in menschheitsgeschichtlichen Fristen bemessen, als kaum verortbare Strecke auf dem Zeitstrahl ab und hat dennoch dazu geführt, dass die dazu aufgebotene Feuerkraft in der Lage ist, einen Weltenbrand zu entfesseln.
So ist an die Stelle einer fundamentalen Kritik des Mythos der Nation nicht nur im Falle rechtspopulistischer Bewegungen die restaurative Idee getreten, dass die jeweilige Zugehörigkeit zu einem Staatswesen weit über den formalen Akt des Beitritts per Geburt auf einer ethnisch-organischen Identität beruhe, die, genetisch-kulturell über die Jahrhunderte verfestigt, eine sehr spezifische Form kollektiver Existenz hervorgebracht habe. Ob das Konzept der Nation in ethnozentrischen Tiefen gründelt oder eher bürgerlich-politisch auf eine Art Verfassungssouveränität orientiert ist, scheint für die Bereitschaft der Bevölkerung, für die Fortdauer des jeweiligen Gemeinwesens den höchsten Preis, das eigene Leben, zu entrichten, kaum einen Unterschied zu machen.
Wie tief die Zugehörigkeit zur Nation das Leben der Menschen bestimmt und schlimmstenfalls darüber entscheidet, wer leben darf und wer sterben muss, zeigt die Aussetzung des Familiennachzugs für Flüchtende durch die Bundesregierung. Angeblich sei die von christlicher Moral geprägte Kleinfamilie die Keimzelle staatlicher Reproduktion. Ihre Bevorzugung endet jedoch an den Grenzen der Republik - nicht die Einheit der Familie, sondern der Nation genießt Vorrang, erst recht bei rechtspopulistischen Demagogen, die gegen die Zersetzung der heteronormativen Ehe durch nicht binäre Menschen, schwule und lesbische Paare sowie Familienmodelle mit mehr als zwei Eltern zu Felde ziehen. Ihnen geht es ausschließlich darum, dieses Land möglichst frei zu halten von Personen, die seine demographische Entwicklung den Kriterien weiß, christlich und deutsch gemäß sicherstellen.
Eingebannt in eine nationale Zugehörigkeit unter Aufsicht des staatlichen Gewaltmonopols und umfassend beansprucht vom alltäglichen Hauen und Stechen, das den Marktsubjekten zusätzlich zum Ableisten ihrer Arbeit als Tribut an die Bewegungsform sozialdarwinistischer Konkurrenz abverlangt wird, stellt sich die Frage, warum überhaupt dem Kommando abstrakter Instanzen wie Staat und Nation Folge zu leisten sei, dennoch immer seltener.
Während der Anspruch auf rechtliche Gleichheit seit Hobbes stetig weiter ausdifferenziert wurde, trat die materielle Ungleichheit im bürgerlichen Rechtsstaat immer weiter in den Hintergrund. Wo sozialpolitische Zugeständnisse nicht verhindern, dass Armut und Obdachlosigkeit töten - auf der Straße lebende Menschen in deutschen Großstädten sterben etwa 30 Jahre früher als die durchschnittliche Lebenserwartung vermuten ließe -, ohne dass diesem Missstand mit allen Kräften entgegengewirkt würde, ist das nationale "Wir" erfolgreich an die Stelle des sozialen Antagonismus getreten. Den "Staat als Geschäftsführung der herrschenden Minorität zu verschleiern", so Ernst Bloch 1961 in "Naturrecht und menschliche Würde", war schon lange vor der Einführung der sozialen Marktwirtschaft einem "Formalismus der generellen Rechtsgleichheit" geschuldet, der die Suggestion, Menschen begegneten sich unabhängig von ihren jeweiligen Eigentums- und Klassenverhältnissen auf gleicher Augenhöhe, überhaupt möglich machte.
"Die Bewilligung der Kredite durch die Fraktion gab das
Stichwort allen leitenden Instanzen der Arbeiterbewegung. Die
Gewerkschaftsführer veranlaßten sofort die Einstellung aller
Lohnkämpfe und teilten dies ausdrücklich unter Berufung auf die
patriotischen Pflichten des Burgfriedens den Unternehmern offiziell
mit. Der Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung wurde für die
Dauer des Krieges freiwillig aufgegeben."
Rosa Luxemburg - Die Krise der Sozialdemokratie [2]
Die politische Einheit des Staates ist zwingende Voraussetzung seines Funktionierens als "ideeller Gesamtkapitalist" (Friedrich Engels), das wusste schon Thomas Hobbes, der die Unterwerfung unter den Leviathan bei Strafe etwaiger Zuwiderhandlung zur ersten Bürgerpflicht erhob. Etwas abstrakter, aber nicht minder autoritär beschwor der Staatsrechtler Carl Schmitt 1923 eine "bis zur Identität gesteigerte Homogenität" der Staatssubjekte, was zu erreichen auch der "Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen" bedürfe. Die Abweichung von der erforderlichen Einheit zu identifizieren, bedeute, eine strikte Unterscheidung von Freund und Feind vorzunehmen, so Schmitt, der gerade mit diesem Kriterium zur Herstellung nationaler Souveränität trotz seiner Nähe zum NS-Regime bis heute der auch international einflussreichste deutsche Staatsrechtler geblieben ist.
Schmitt war es auch, der den Ausnahmezustand zum Motor notwendiger staatlicher Ermächtigung in Zeiten der Krise erklärt hat. Die dadurch bewirkte Einschränkung bürgerlicher Rechte hat 1968 heftige Proteste gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze ausgelöst, war doch die Machtübergabe an Hitler und das Zustandekommen des NS-Staates wesentlich durch das Regieren mit Hilfe ausnahmerechtlicher Ermächtigungsvollmachten vorbereitet worden. Seither ist allgemein bekannt, dass die Gefahr einer schleichenden diktatorischen Machtübernahme auf dem Wege von Notstandsverfügungen eine reale Gefahr für die Aufrechterhaltung demokratischer Rechte ist.
Heute, da sich die Bundesrepublik erklärtermaßen in einem Zustand zwischen Krieg und Frieden befindet - siehe etwa das Arbeitspapier "Noch nicht Krieg, aber auch nicht Frieden" der Bundesakademie für Sicherheitspolitik wie diverse Äußerungen von RegierungspolitikerInnen, Offizieren der Bundeswehr und MilitärwissenschaftlerInnen -, rückt die offizielle Ausrufung eines Notstands mit allen dazugehörigen Einschränkungen des Schutzes bürgerlicher Existenz vor staatlicher Verfügungsgewalt wieder in den Bereich des real Möglichen.
Gründe dafür, Deutschland nicht in den Kriegszustand zu versetzen, wären bei nüchterner historischer wie gesellschaftskritischer Analyse zweifellos zu nennen. Der als unhintergehbar dargestellte Sachzwang russischer Angriffslust hingegen besetzt das ganze Feld der öffentlichen Kommunikation und droht derart verabsolutiert zu werden, dass Widerstand gegen die Politik des Krieges als inakzeptable Dissidenz verworfen und potentiell zum Gegenstand repressiver Maßnahmen wird.
Die Einseitigkeit der zum Führen dieses Krieges getroffenen Vorbereitungen - wie zuletzt die Aufhebung der Reichweitenbeschränkung aus Deutschland an die Ukraine gelieferter Waffensysteme, die im Falle eines Einsatzes der Lenkwaffe Taurus durch die Ukraine in der Lage wären, Führungszentren der Regierung Russlands anzugreifen -, bei Ausbleiben im Vorwege einer möglichen Katastrophe vorzunehmender Entspannungsbemühungen legt nahe, dass es sich bei der Militarisierung des Landes um einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel handelt, dessen Motive über die geltend gemachte Gefahr eines russischen Angriffs auf das Territorium der Bundesrepublik hinausgehen. Risiken wie die Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen auf deutschem Territorium einzugehen, die zum Zweck möglicher Präventivangriffe eingesetzt werden könnten, weisen das Profil einer nationalen Großmannssucht auf, für die es historisch in der kurzen Geschichte deutscher Nationalstaatlichkeit das Beispiel bereits zweier unter verheerenden Folgen gescheiterter Anläufe gibt.
Umso inakzeptabler ist die Haltung der Bundesregierung, mit der russischen Führung keinerlei diplomatischen Austausch zwecks Minderung der wachsenden Gefahr eines Krieges zwischen NATO und Russland zu betreiben. Als Rechtsnachfolgerin des NS-Staates kam die BRD sehr frühzeitig in den Genuss äußerer Unterstützung, anstatt dass die von ihrem Vorgänger angerichtete Vernichtung darin gemündet hätte, Deutschland auf Jahrzehnte hinaus zum Paria der Staatenwelt zu machen. 27 Millionen BürgerInnen der Sowjetunion wurden zum Teil systematisch von Wehrmacht und SS ermordet, der Westen des Landes in Trümmer gelegt, Leningrad in einem exzeptionellen Fall von Kriegsverbrechen 28 Monate lang belagert und ausgehungert, so dass etwa 90 Prozent der dabei gestorbenen 1,1 Millionen zivilen EinwohnerInnen der Stadt verhungerten. Während sich keine Bundesregierung herausnähme, Israel bei noch so brutaler Kriegführung gegen die PalästinenserInnen in vergleichbarer Weise wie Russland zu isolieren, wurde die BRD trotz der zahlreichen Nazis in ihrem Staatsapparat frühzeitig als vollwertiges Mitglied der Staatengemeinschaft rehabilitiert.
Die ideologische Überformung der um die Kriege Russlands und Israels geführten Diskussionen weist die Handschrift einer illiberalen Souveränität auf, die den Ernstfall schon einmal einübt. So ist die formalrechtlich mögliche, aber von einem schwerwiegenden demokratischen Legitimationsdefizit gezeichnete Änderung des Grundgesetzes durch die Abgeordneten des bereits abgewählten Bundestages zur Bereitstellung umfassender Kriegskredite Ausdruck eines Staatsverständnisses, das die Stellung des Souveräns zwar nominell der Bevölkerung zugesteht, de facto jedoch als Privileg administrativer Verfügungsgewalt behandelt. Das dokumentiert auch die offene Inanspruchnahme der Staatsräson, die vor 500 Jahren mit dem Philosophen Niccolò Machiavelli als Privileg fürstlicher Entscheidungsgewalt die Bühne der Geschichte betrat, zur Begründung nicht nur außenpolitischer Entscheidungen. "Staatsräson bedeutet im Innenverhältnis 'Verstaatlichung der Politik', im Außenverhältnis legitimiert sie die Durchsetzung außenpolitischer Interessen zur Verwirklichung eigener Ziele", so der konservative Staatswissenschaftler Rüdiger Voigt 2007 in seinem Buch "Den Staat denken". Wo jede weitere Diskussion über diese allein dem Staat zu Gebote stehende Form der Vernunft entfällt, also Herrschaft sui generis ausgeübt wird, ist das Ergreifen exekutiver Maßnahmen, die einst als Missstand autokratischer Regimes beklagt worden wären, nicht mehr unvorstellbar.
Da Carl Schmitt den Ausnahmezustand zum wesentlichen Kriterium der Herstellung souveräner Handlungsfreiheit erklärt hat und damit auf positive Resonanz in den mit Staats- und Verfassungsrecht befassten Wissenschaften gestoßen ist, steht jede Rückbindung staatlicher Gewalt an die konstitutionelle Ordnung juridisch unter dem Vorbehalt ihrer Aufhebung. Der moderne Rechtsstaat öffnet dem Durchgriff machtpolitischer Entscheidungen weit mehr Raum als dem Einspruch demokratischer BedenkenträgerInnen, so lautete bereits die Kritik an der Verabschiedung der Notstandsgesetze 1968.
Der offiziell als geheim eingestufte Operationsplan Deutschland integriert alle staatlichen und gesellschaftlichen Akteure, um das nationale Territorium in eine Drehscheibe der NATO zur logistischen Unterstützung eines gegen Russland geführten Krieges zu verwandeln, was nichts anderes bedeutet, als dass die Bevölkerung erheblich in Mitleidenschaft gezogen werden könnte. Es ist mithin nicht nur eine rhetorische Figur, den Zustand des Friedens als nicht mehr gegeben zu unterstellen oder widersprüchliche Aussagen zur Beteiligung Deutschlands am Krieg in der Ukraine zu treffen. Damit wird auch, für die Einbindung ziviler und ökonomischer Kompetenzen in den Aufbau sogenannter Kriegstüchtigkeit und die Militarisierung der Gesellschaft zweifellos förderlich, der Relativierung bislang geltender Grundrechte der Weg geebnet.
"Der Primat des Ausnahmeverfahrens verändert von Grund auf die
Rechtsordnung, durch die der Staat die Gesellschaft instituiert und
die Außengrenzen Letzterer beständig neu definiert. Wenn die
Terrorismusbekämpfung geltendes Recht suspendiert und eine neue
Rechtsordnung hervorbringt, so produziert sie materiell und formell
dabei auch den zu bekämpfenden Feind. Die Anpassung der Rechtsordnung
zielt nicht, wie im Belagerungszustand, auf eine systemexterne
Bedrohung, sondern auf einen vom System selbst hervorgebrachten
Sachverhalt. Die Zweck-Mittel-Relation kehrt sich um. Der designierte
Feind in Gestalt der Terrororganisation präsentiert sich als
Instrument zum Umbau der Rechtsordnung und des politischen Systems.
Die Staatsgewalt selbst formt die Politik nach ihrem
Bild."
Jean-Claude Paye: Das Ende des Rechtsstaats [3]
In dem von den USA nach den Anschlägen des 11. September 2001 erklärten Globalen Krieg gegen den Terror wurden grundlegende verfassungsrechtliche Normen aufgehoben, ohne dass es in der Folge zu einer Aufarbeitung dieses Bruches mit rechtsstaatlichen Prinzipien gekommen wäre. Diese werden seitdem verstärkt vor dem Horizont ihrer möglichen Aussetzung relativiert, was nicht bedeuten muss, sich in der Staatenkonkurrenz nicht als "Wertegemeinschaft" zu präsentieren, die notfalls zu militärischen Mitteln griffe, um die Freiheit gegen die Feinde der Freiheit zu verteidigen. Der Grundwiderspruch der solchermaßen geschützten Demokratie besteht eben darin, dass die darauf errichtete Sicherheitspolitik den Grundrechtekodex zersetzt, indem sie ihn zu schützen vorgibt.
In der Bundesrepublik entfaltete sich anlässlich der Fragen, ob der Staat das Recht habe, zur Abwendung eines Anschlags ein Verkehrsflugzeug abzuschießen, auch wenn er dabei gegen das individuelle Recht der Passagiere auf Schutz ihres Lebens verstoße, oder zur Folterung von StraftäterInnen zu greifen, um Informationen über bevorstehende Anschläge zu erlangen, eine Debatte, die bis heute Spuren hinterlassen hat. So ermöglicht die polizeiliche Verwendung des Begriffs vom Gefährder je nach Landespolizeigesetz das Ergreifen verschiedener Maßnahmen gegen nicht straffällig gewordene Personen, die die Geltung der Unschuldsvermutung einschränken. Auch die Gewaltanwendung durch den Staat unter Einsatz der Streitkräfte im Innern im Rahmen der Gefahrenabwehr ist ein wiederkehrendes Thema, das für das Erwirtschaften von "Kriegstüchtigkeit" aktueller denn je ist.
Vor rund 20 Jahren prägte der Staatsrechtler Otto Depenheuer, den der Tagesspiegel 2007 als "juristischen Vordenker" des damaligen Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble bezeichnete, das Wort von einem "Feindgefahrenabwehrrecht". Es sollte "Maßnahmen der präventiven Sicherungsverwahrung ebenso (...) wie solche der Internierung potentiell gefährlicher Personen oder die kontrovers diskutierte Frage nach einer - rechtsstaatlich domestizierten - Folter" legalisieren, also den rechtlichen Ausnahmezustand gerade deshalb ermöglichen, um das Recht zu schützen. Indem Depenheuer die Schmittsche Freund-Feind-Doktrin bruchlos ins neue Jahrhundert transferierte und sich damit zum Prinzip nackter Gewalt als zentraler Kompetenz staatlicher Verfügungsgewalt bekannte, wurde schon damals das juristische Vorfeld heute angeblich erst recht erforderlicher staatlicher Ermächtigung bestellt.
Mit der Militarisierung der Gesellschaft einher geht all das, wogegen sich linke und liberale Kräfte spätestens mit der Protestbewegung der 68er-Generation entschieden verwahrt haben: Geschichtsrevisionismus etwa im Rahmen der Traditionspflege der Bundeswehr oder bei der baulichen Anknüpfung an den preußischen Militarismus, die Heroisierung des Soldatentums bei gleichzeitiger Abwertung der Doktrin vom "Staatsbürger in Uniform", die Propagierung einer Bürgerpflicht, die das eigene Leben dem Staatswohl unterstellt, die Affirmation eines Staats- und Gesellschaftsverständnisses, dem offenen Nationalismus zu zelebrieren Ausdruck einer neuen Normalität ist. Exemplarisch zu besichtigen ist die Überwindung in Folge des NS-Schreckensregimes entstandener Berührungsängste am Beispiel der Migrationsdebatte im Vorfeld der Bundestagswahl. Indem sich die Parteien, angeführt von der AfD, in Sachen Abwehr hilfesuchender Menschen gegenseitig zu übertreffen versuchten, legten sie Zeugnis einer Prinzipienlosigkeit ab, die, positiv ausgedrückt, selbstverständliche Praxis einer imperialen Großmacht ist.
"Dadurch, daß ein Volk nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, sich in der Sphäre des Politischen zu halten, verschwindet das Politische nicht aus der Welt. Es verschwindet nur ein schwaches Volk", lautet eine berühmte Sentenz aus Schmitts zentralem Text "Der Begriff des Politischen" von 1932. Es ist das Denken in sozialdarwinistischen Kategorien des Schwachen und Starken, das analog zur Freund-Feind-Kennung und der Verabsolutierung binärer Moralität von Gut und Böse rückgängig machen soll, was an demokratischen und menschenrechtlichen Fortschritten aus dem Befreiungsversuch der Neuen Linken vor 60 Jahren hervorgegangen ist. Es ist denn auch wenig überraschend, dass nationalchauvinistische und staatsautoritäre Kräfte weltweit auf ähnliche Werte und Feindbilder abonniert sind.
Wenn der politische Gegner als "woke" oder "linksgrün versifft" diffamiert wird, sind Minderheitenrechte aller Art gemeint, die dem freien Spiel sozialer und nationaler Konkurrenz im Wege stehen. Die Alimentierung bedürftiger Menschen, die im Leistungswettkampf nicht mehr mithalten können, und Vergünstigungen für aus rassistischen oder geschlechtlichen Gründen benachteiligte Gruppen sollen zurückgefahren oder ganz gestrichen werden. Frauen sollen ihre reproduktive Pflicht bei der Bereitstellung von "Menschenmaterial" für Kapitalismus und Krieg erfüllen, was im Einklang mit christlichen FundamentalistInnen zur weiteren Einschränkung des Rechts auf Abtreibung zu führen droht. Transpersonen sollen am besten unsichtbar bleiben, wenn sie nicht dem misogynen und LGBTQ-feindlichen Mob zum Opfer fallen wollen, während sich weiße Männer als eigentlich diskriminierte Opfer inszenieren. Kritik am Patriarchat war gestern, heute sind starke Krieger gefragt, was Frauen nicht ausschließt, ihnen aber die vollständige Adaption maskulinistischer Prinzipien abverlangt.
Ob der christliche Nationalismus in den USA für die massenhafte Abschiebung nichtweißer MigrantInnen ebenso wie für die Vertreibung der PalästinenserInnen aus ihren Gebieten trommelt, ob die Russisch-Orthodoxe Kirche den Krieg gegen die Ukraine heiligt, ob der politische Islam den Heiligen Krieg gegen Ungläubige propagiert oder die Hindutva-Bewegung zur Hatz auf MuslimInnen aufruft, ob charismatische evangelikale Prediger faschistische Politik in Lateinamerika unterstützen oder die arabische Minderheit im jüdischen Staat Israel benachteiligt wird - der Unterwerfungsprimat tradierter Glaubensinhalte ist weltweit auf dem Vormarsch gegen demokratische Gleichheit und mobilisiert zu in ihrem Namen geführten Kriegen.
Einig ist sich das Gros der nationalchauvinistischen Bewegungen auch in der Leugnung oder Relativierung der Klimakatastrophe. Sie wird als bloßer Vorwand des Hegemonialstrebens linksgrüner Bewegungen betrachtet und als Ausdruck einer den archaischen Überlebenskampf verleugnenden Ideologie "kulturmarxistischer" Provenienz verworfen. In nur fünf Jahren ist das einst gefeierte Jugendidol Greta Thunberg von einer Ikone der Klimagerechtigkeitsbewegung, als die sie anfangs nur von RechtspopulistInnen bekämpft wurde, zur irrlichternden Repräsentantin all dessen abgestiegen, von dem die NutznießerInnen des neoliberalen Kapitalismus noch niemals etwas wissen wollten. Wer an den kapitalistischen Wurzeln der Naturzerstörung rührt, für von der Misere der globalen Marktwirtschaft betroffene Elendsbevölkerungen eintritt, für die Rechte von ihrem Land vertriebener Indigener und von Kolonialismus betroffener Bevölkerungen kämpft, ist nicht einmal unter deutschen KlimaaktivistInnen wohlgelitten und wird nach dem Zurückfahren staatlichen Klimaschutzes bestenfalls ignoriert.
Feinde der Nation werden zumindest insofern produziert, als sie für die Durchsetzung staatlicher Ziele gegen die Interessen großer Teile der eigenen Bevölkerung unentbehrlich sind. Wie der Wolf seine räuberischen Absichten mit dem Talmi bester Absichten tarnte, so werden die mit gigantischen Finanzmitteln versehenen Kriegsvorbereitungen der Bundesregierung allein mit bevorstehender Aggression Russlands begründet, als ob die eigene Beteiligung an der Verschärfung der Lage wie durch einen magischen Trick unsichtbar geworden wäre. Ohne die Vorgeschichte des Angriffs Russlands auf die Ukraine bleibt jede Analyse dieses Krieges unvollständig, zumal der moralische Furor, mit dem hierzulande gegen den zweimaligen Weltkriegsgegner blank gezogen wird, schon daran als zweckdienliches Manöver zu erkennen ist, dass beim vernichtenden Krieg Israels nicht mit gleicher Elle gemessen wird.
"Auf seinen objektiven historischen Sinn reduziert, ist der
heutige Weltkrieg als Ganzes ein Konkurrenzkampf des bereits zur
vollen Blüte entfalteten Kapitalismus um die Weltherrschaft, um die
Ausbeutung der letzten Reste der nichtkapitalistischen Weltzonen.
Daraus ergibt sich ein gänzlich veränderter Charakter des Krieges
selbst und seiner Wirkungen. Der hohe Grad der weltwirtschaftlichen
Entwicklung der kapitalistischen Produktion äußert sich hier sowohl
in der außerordentlich hohen Technik, das heißt Vernichtungskraft der
Kriegsmittel, wie in ihrer annähernd ganz gleichen Höhe bei allen
kriegführenden Ländern. Die internationale Organisation der
Mordwerkindustrien spiegelt sich jetzt in dem militärischen
Gleichgewicht, das sich mitten durch partielle Entscheidungen und
Schwankungen der Waagschalen immer wieder herstellt und eine
allgemeine Entscheidung immer wieder hinausschiebt. Die
Unentschiedenheit der militärischen Kriegsergebnisse führt ihrerseits
dazu, daß immer neue Reserven sowohl an Bevölkerungsmassen der
Kriegführenden wie an bisher neutralen Ländern ins Feuer geschickt
werden."
Rosa Luxemburg - Die Krise der Sozialdemokratie [4]
Ein grundlegendes Problem mit kriegerischer Aggression und illegaler territorialer Annexion kann keine Bundesregierung geltend machen, die die ethnische Säuberung Gazas und des Westjordanlands unterstützt, die sich am Überfall der NATO auf Jugoslawien beteiligt und die Abtrennung des Kosovo von Serbien gutgeheißen hat. Wer nicht gegen die völkerrechtswidrigen Kriege der USA protestieren wollte, sich mit eigenen Truppen an der Besetzung Afghanistans beteiligt und rechte Regimes von Südafrika bis Argentinien vorbehaltlos unterstützt hat, kann sich noch so angestrengt weißwaschen und entkommt dem Widerspruch zwischen Sein und Sollen dennoch nicht.
Seit der einst der radikalen Linken zugeschriebene Begriff des Imperialismus in Anwendung auf Russland ins rhetorische Arsenal deutscher RegierungspolitikerInnen aufgenommen wurde, braucht vom deutschen Imperialismus nicht mehr geschwiegen zu werden. Wo es nicht um territoriale Expansion geht, stellt die finanzkapitalistische Bewirtschaftung der Welt unter Ziehen aller währungspolitischer, monopolistischer, schuldenökonomischer und handelspolitischer Register das Mittel der Wahl dar, nationale Selbstbehauptung in klingende Münze zu verwandeln.
Für den Krieg unter Einsatz erheblicher Mittel zu rüsten, ist denn auch Ausdruck einer globalen Krise des Kapitalismus, zu deren Bewältigung sich alle größeren Staatsakteure darauf einstellen, die Machtfrage auf die denkbar konkreteste Weise, durch das Ergreifen physischer Gewaltmittel zu beantworten. Ansonsten wäre kaum zu erklären, wieso der ökonomische Erfolg des Standorts Deutschland durch eine gegen Russland gerichtete Sanktionspolitik sehenden Auges gefährdet wird, obwohl diese nach über drei Jahren der Invasion in die Ukraine nicht zum angestrebten Ziel, die Kriegsfähigkeit Moskaus wesentlich zu schwächen, geführt hat.
Im Rahmen der EU und in Allianz mit UK zu einer veritablen Großmacht aufzusteigen, verlangt der Bevölkerung schon jetzt das Opfer zunehmender Verarmung ab, zu der sich im Ernstfall die Überantwortung des eigenen Lebens unter die strategischen Ziele des Staates gesellen werden. Der Aufstieg der AfD zur größten Oppositionspartei im Bundestag und die Rechtsdrift der politischen Mitte bieten beste Voraussetzungen dafür, die Gesellschaft um die Fahne staatlichen Machtstrebens zu versammeln. Bis auf Die Linke, die sich schwer damit tut, einen konsequent antimilitaristischen Kurs einzuschlagen, stehen damit alle im Bundestag vertretenen Parteien hinter dem Projekt nationaler Aufrüstung, sprich betreiben eine gegen jene antimilitaristische Linke gerichtete Strategie, die sich auf kein Vaterland beruft, mit der kein Burgfrieden zu machen ist und die Desertieren für einen Akt notwendigen Widerstands hält.
Abgesehen davon, dass Teile der AfD die militärische wie zivile Unterstützung der Ukraine ablehnen, was neben der Einsicht in den gefährlichen Charakter des Unterfangens, mit der Bundeswehr auf der Seite der Ukraine gegen Russland anzutreten, der gegen MigrantInnen und Flüchtende gerichteten Verteilungslogik der Partei entspringt, votieren Weidel, Chrupalla und Höcke für maximale Aufrüstung und Militarisierung. Die physische und geistige Unterwerfung unter militärische Disziplin, die Streitkräfte als Schule der Nation, die unzweideutige Orientierung auf Gut und Böse im Krieg, die Erziehung zu maskuliner Härte, all das sind Elemente einer faschistischen Ertüchtigung, die der negativen Anthropologie eines Friedrich Nietzsche, Carl Schmitt und Ernst Jünger, um nur drei besonders bekannte Namen aus der Phalanx nationalkonservativer Leitfiguren zu nennen, Genüge tun. "Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und flink wie ein Windhund" - das pädagogische Ideal Adolf Hitlers stand schon in "Mein Kampf" für "militärische Tugenden", was dadurch nicht lustiger wird, dass zwei Metzger eines Supermarktes 2020 T-Shirts mit der Aufschrift "Hart wie Stahl, zäh wie Leder. Das sind die deutschen Fleischzerleger" trugen.
Militarisierung und Krieg beschert insbesondere der Lohnabhängigenklasse nichts als Nachteile: materieller Verzicht durch galoppierende Inflation und Umlenkung verfügbarer Haushaltsmittel in die Kriegführung, zivile Zwangsrekrutierung für Unterstützungleistungen im Ernstfall, Einschränkung politischer Rechte wie das betrieblicher Selbstbestimmung und des Streiks im Tarifkampf, Behinderung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit zwecks Durchsetzung der auch emotional zu bedienenden Freund-Feind-Kennung, Unterwerfung unter autoritäre Kommandogewalt, Verlust von Familienmitgliedern, lebenslange Verluste an physischer Funktionalität bis hin zum vorzeitigen Ableben.
Wie das Beispiel des in der Ukraine geführten Abnutzungskrieges zeigt, ist der Verbrauch von Menschen für die staatliche Kommandogewalt auf jeder Seite ein ausschließlich demographisches und logistisches Problem, was insbesondere für das von Russland angegriffene Land gilt. Indem die Ukraine seitens der NATO-Verbündeten gerade so weit mit Rüstungsgütern versorgt wird, dass sie nicht schnell besiegt werden kann, stellt die Fortdauer des Krieges eine immense Belastung für die Bevölkerung der Ukraine dar. Im Windschatten dieser Tragödie soll die BRD "konventionell zur stärksten Armee Europas" werden, so Merz in seiner ersten Regierungserklärung am 14. Mai. "Dabei ist klar: Wir sind nicht Kriegspartei und werden dies auch nicht werden", versicherte der Bundeskanzler, um hinzuzufügen: "Aber wir sind eben auch nicht unbeteiligte Dritte oder neutrale Vermittler sozusagen zwischen den Fronten."
Derart in der Zone des Unbestimmten zu bleiben, dann wiederum Russland via Ukraine durch die aufgehobene Reichweitenbeschränkung deutscher Waffen zu bedrohen, um darauf bezogene Reaktionen aus Moskau eventuell als aggressiven Akt auszulegen, könnte die deutsche Kriegsbeteiligung durch die Hintertür zur Folge haben. Bemessen an den Schwüren zahlreicher NATO-PolitikerInnen, die Ukraine "as long as it takes with whatever it takes" gegen Russland kriegstüchtig zu machen, wäre es konsequent, die Strategie, Russland militärisch zu schwächen, indem der verlustreiche Krieg immer weiter in die Länge gezogen wird, bei zusehender Schwäche der Ukraine mit einem direkten Kampfeinsatz eigener Truppen doch noch zum Erfolg zu führen.
Ob das vielleicht sogar der Plan sein könnte, nachdem mehrere EU-Regierungen und UK beschlossen haben, bei Ausfall der US-Unterstützung einzuspringen, wird erst bekannt sein, wenn es zu spät ist. Wenn es zum Äußersten käme und sich für die BRD schließlich erfüllte, was während der Blockkonfrontation des Kalten Krieges trotz entsprechender Planung, ihr Territorium in ein atomares Schlachtfeld zu verwandeln, erfolgreich vermieden wurde, wird sich selbstverständlich niemand finden lassen, der dafür die Verantwortung übernimmt.
Warum also mitmachen? Diese Frage nicht zu stellen, ist erste Bürgerpflicht, deren Einhaltung zwingend erforderlich ist, um die Bevölkerung unter zumindest partieller Zustimmung auf Kriegskurs zu trimmen. Wie dem Kapital seit jeher gleichgültig ist, unter welchen Umständen die Ware Arbeitskraft verwertet wird, solange sie nur Mehrwert produziert, wird der vermeintliche Volkssouverän rückstandslos in die Staatsmaschine eingespeist, wenn der Kampf um nationale Größe in schwieriges Fahrwasser gerät. Die zwingende Unterwerfung unter die Staatsräson ist ein womöglich leichtfertig übersehenes Detail des Vertragsverhältnisses zwischen StaatsbürgerInnen und Staatssouverän.
"Aber wenn es möglich sein sollte, sich im Anhalten der Maschine
zu üben, die zentrale Fiktion an ihr offenbar werden zu lassen, dann,
weil es zwischen Gewalt und Recht, zwischen Leben und Norm keinerlei
substantielle Verbindung gibt. Neben der Bewegung, die zwischen ihnen
um jeden Preis eine Beziehung aufrechterhalten will, gibt es in Recht
und Leben eine Gegenbewegung, die in entgegengesetzter Richtung
arbeitet und immer wieder zu lösen versucht, was künstlich und
gewaltsam verbunden ist. Im Spannungsfeld unserer Kultur wirken
nämlich zwei entgegengesetzte Kräfte: eine, die einrichtet und setzt,
und eine, die deaktiviert und ent-setzt. Der Ausnahmezustand ist der
Punkt ihrer höchsten Spannung und zugleich das, was sie, indem sie
mit der Regel zusammenfallen, ununterscheidbar werden zu lassen
droht. Leben im Ausnahmezustand heißt, die Erfahrung beider
Möglichkeiten zu machen und dennoch - indem man jedesmal erneut die
beiden Kräfte trennt - im Versuch nie abzulassen, das Funktionieren
der Maschine zu unterbrechen, die den Okzident derzeit in den
weltweiten Bürgerkrieg führt."
Giorgio Agamben: Ausnahmezustand [5]
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute - das Ende des Märchens verheißt denjenigen, die arglos hinters Licht geführt wurden, die unverschuldetermaßen ein schreckliches Schicksal erlitten oder deren Leben von missgünstigen Widersachern in eine Tragödie voller Schmerz und Leid verwandelt wurde, nichts Geringeres als finale Gerechtigkeit. So künden Märchen davon, dass die Anwendung des Rechts allemal Sinn macht, ja dass irdisches Recht und die Gerechtigkeit des Himmels in eins fallen, dass Recht und Gesetz in ihrem immanenten Zweck aufgingen und eines schönen Tages keinerlei Bedeutung mehr hätten. Die imaginierte Wirklichkeit des Märchens hilft dabei, in einer Welt voll unlösbarer Widersprüche und unerklärbarer Schmerzen die Hoffnung darauf nicht aufzugeben, dass sich das Ganze eines Tages als böser Traum erwiese, aus dem der Mensch wie nach einem langen Schlaf erfrischt und voller Zuversicht erwacht.
So wird im Märchen das Märchen davon erzählt, wie die Vergeblichkeit der Hoffnung der befreienden Enttäuschung weicht und alles Weitere denjenigen an die Hand gegeben wird, die sich von den furchterregenden Phantasmen an der Höhlenwand nicht abschrecken lassen. Wer auf dem Karussell unerfüllter Träume keine weitere Runde drehen mag, könnte vielleicht sogar absteigen und selber Schritt für Schritt Neuland erschließen. Für alle anderen heißt es einmal mehr "Es war einmal ...".
Was also tut das siebte Geißlein, wenn der Wolf anklopft und sich mit allen Mitteln gekonnter Mimikry als jemand ausgibt, der er nicht ist? Es springt in den Uhrenkasten, wo die Gewichte den Zeiger in unaufhaltsamer Stetigkeit von einer Minute zur andern vorantreiben, wo die Schwere der Erde den Grund aller Ursachen, das Vorher und Nachher der Zeit, auf die Strecke ihres Vergehens zwingt. Indem die siebte Geiß den Lauf der Zeit selbst zu jähem Halt bringt, indem sie in das Getriebe des Weltenlaufs eingreift und ihn zum Stillstand zwingt, öffnet sie eine von keiner Wirkung und Ursache unterbrochene Leere. Darin ist alles aufgehoben, was ihr Leben in dem endlosen, von Sonnenhitze und Eiseskälte getriebenen Wechsel metabolischer Not vergehen lässt.
Das siebte Geißlein tut nichts Geringeres, als jegliche Teilhaberschaft am Geschäft gegenseitigen Verzehrens und schmerzhaften Verbrauches aufzukündigen. Der wie besinnungslos dem süßen Duft des Blutes folgende Wolf findet keinen Anhaltspunkt mehr dafür, dass sich ihm noch ein letzter leckerer Happen entzogen hat, was ihn eine verheerende Dummheit begehen lässt. Er unterschätzt die Wirksamkeit der ultimativen Alchemie, dem Brand des Hungers und der Gier jede Nahrung zu entziehen, um den Blutfluss selbst versiegen zu lassen. Er nimmt die mögliche Widerlegung des Prinzips unabänderlicher Gewaltanwendung nicht ernst und ignoriert die grundlos bezogene Position der Schwäche als unauslotbaren Widerstand gegen die Herrschaft der Stärke.
Und wenn sie nicht gestorben sind - was nicht der Fall ist, wenn das Schlachten so sehr zum Problem aller erhoben wird, dass dem vermeintlichen Naturzwang, dem der Wolf gewordene Mensch und der Mensch gewordene Wolf angeblich unumkehrbar unterliegen, mit allen denkbaren und undenkbaren Mitteln Paroli geboten wird -, dann leben sie auf immerdar.
28. Mai 2025
Fußnoten:
[1] Ernst Bloch: Vorlesungen zur Philosophie der Renaissance, Frankfurt am Main 1972, S. 147 f.
[2] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1916/junius/teil6.htm
[3] Jean-Claude Paye: Das Ende des Rechtsstaats, Zürich 2005, S. 224
[4] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1916/junius/teil8.htm
[5] Giorgio Agamben: Ausnahmezustand, Frankfurt am Main 2004, S. 103 f.
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 183 vom 5. Juli 2025
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