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FRAGEN/027: Günter Buhlke - "Ich glaube an das Denkvermögen der Menschen" (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

"Ich glaube an das Denkvermögen der Menschen"

Günter Buhlke über Sozialismus, Demokratie und die Hoffnung auf eine menschlichere Welt

Interview von Reto Thumiger, 3. Mai 2025


Günter Buhlke hat über 250 Artikel für Pressenza [1] geschrieben, zahlreiche Bücher veröffentlicht und war Zeit seines Lebens politisch, wirtschaftlich und intellektuell aktiv. Geboren 1934, erlebte er Krieg, Wiederaufbau, DDR, Wende und die neoliberale Neuordnung nach 1990. In diesem persönlichen Gespräch blickt er zurück - und nach vorn: kritisch, mit jahrzehntelanger Erfahrung, aber auch mit beharrlicher Hoffnung auf Humanismus, soziale Gerechtigkeit und das Denkvermögen der Menschen. Ein Gespräch über Systemfragen, Medienmacht, die Gefahr des Rechtsrucks - und darüber, warum Schreiben für ihn ein Akt der Solidarität ist.

Reto Thumiger: Lieber Günter, ich freue mich sehr, dass wir heute sprechen können. Du hast über 250 Artikel für Pressenza geschrieben, du hast Bücher veröffentlicht, warst beruflich und politisch engagiert, hast so viel erlebt und gedacht. Wie geht's dir heute - mit all dem im Rücken?

Günter Buhlke: Also persönlich geht's mir - meinem Alter entsprechend - soweit gut. Klar, man kann den Körper nicht jünger machen und das eine oder andere Zipperlein gehört eben dazu. Aber alles in allem bin ich zufrieden.

Was mir allerdings zu schaffen macht, ist, dass ich als biologisches Wesen allein lebe. Es fehlt jemand zum täglichen Austausch. Auch wenn es mal Streit gäbe - das gehört ja dazu, so ein bisschen Schimpfen aus Fürsorge: "Du stolperst gleich über deine offenen Schnürsenkel!" - das fehlt eben. Ich lese viel, und mir fehlt jemand, mit dem ich über das Gelesene reden kann.

Reto Thuminger: Ist das vielleicht das eigentlich Schwierige am Älterwerden - dass das persönliche Umfeld kleiner wird, dass man Menschen verliert?

Günter Buhlke: Ja, so ist das. Die Mobilität lässt nach, und man kommt nicht mehr so oft zusammen mit Verwandten oder Freunden. Ich sehe, dass viele - gerade die Kinder, die Bekannten - stark belastet sind, wenig Zeit haben. Sie sind getrieben, vor allem vom Geld. Ich finde, der Egoismus ist größer geworden, das Pflichtbewusstsein kleiner. Das macht sich sogar bis zur Schule bemerkbar. Hier nebenan ist eine Schule - morgens um acht gehen die Kinder rein, ich sehe sie, wenn ich Brötchen hole, auch für meine Nachbarin, die nicht laufen kann. Ich bücke mich unterwegs nach Bonbonpapier, das auf dem Gehweg liegt. Aber wenn ich einem Kind mal sage: "Das macht man nicht", kriege ich Ärger - von Mama oder Papa.

Reto Thuminger: Und wie nimmst du die Gesellschaft als Ganzes heute wahr?

Günter Buhlke: Ich habe Schwierigkeiten, mein gesellschaftliches Umfeld einzuordnen - mit meiner Lebenserfahrung aus neun Jahrzehnten. Ich verfolge die Medien, höre genau hin, wie sie berichten - und empfinde, dass das Leben im Sozialismus schlecht dargestellt wird. Die Medien scheinen mehr Ideologie zu verbreiten als Information. Und Ideologie ist immer gefährlich, weil sie menschliche Grenzen überschreitet und Wirklichkeit verzerrt.

Schau dir nur an, wie über Russland oder China gesprochen wird - das sind für viele einfach Feindländer, die man bekämpfen muss. Allein das halte ich für eine schreckliche Haltung. Ich versuche immer, als Kompass die Menschenrechte zu nehmen - diese große Leistung der Menschheit nach 1945. Eleanor Roosevelt hat da ja maßgeblich mitgewirkt.


Günter Buhlke beim Interview mit seinen Arbeitsunterlagen vor sich auf dem Tisch - Foto: © 2025 by Reto Thumiger

Günter Buhlke beim Interview mit Reto Thumiger
Foto: © 2025 by Reto Thumiger

Reto Thuminger: Du bist 1934 geboren - hast Krieg und Nachkriegszeit als Kind erlebt, bist in der DDR groß geworden, warst politisch aktiv, hast viel Verantwortung getragen. Gibt es bestimmte Lebensabschnitte oder Erfahrungen, die dich besonders geprägt haben?

Günter Buhlke: Ja, auf jeden Fall. Zum Beispiel die Zeit als junger Außenhandelskaufmann. Da schickt mich mein Betrieb nach Kuba - mit dem Auftrag, einen Vertrag abzuschließen im Wert von zehn Millionen Dollar. Das habe ich erst später wirklich begriffen, was für ein Vertrauensvorschuss das war. Oder als ich nach China geschickt wurde, um eine bestimmte Sorte Tabak zu kaufen, den Virginia-Tabak, den es in der sozialistischen Welt nicht gab. Warum sie mir das zugetraut haben, weiß ich bis heute nicht genau - aber sie haben es getan. Und ich hab's gemacht. Erfahrungen lassen kommende Aufgaben besser erfüllen.

Reto Thuminger: Du warst auch als Handelsrat für die DDR in Mexiko und Venezuela tätig. Wie hast du Lateinamerika erlebt? Was hat dich dort besonders beeindruckt - politisch, menschlich, kulturell? Hat das deinen Blick auf die Welt verändert?

Günter Buhlke: Ja, sehr. Diese Zeit hat mein Selbstbewusstsein geprägt. Ich habe gelernt, dass es auch andere Weltbilder des menschlichen Zusammenlebens gibt. Wir waren damals nur zwei oder drei Familien, die das Handelsbüro aufgebaut haben. Immer wenn wir etwas verkaufen wollten, hieß es in der Heimat, in der DDR: "Können wir nicht, haben wir nicht, sind überlastet." Also haben wir gesagt: Wir machen eine Industrieausstellung - damit die Leute aus Produktion und Handel direkt sehen, was wir können. Die Ausstellung fand zur Fußballweltmeisterschaft 1970 statt - aber ein Jahr im Voraus war schon alles ausgebucht. Keine Hotelzimmer mehr.

Ich musste also für 120 Leute Unterkünfte organisieren - und habe dann herausgefunden, wer gerade neue Hotels baut. Ich habe mit einer Firma Kontakt aufgenommen, die auch ein Hotel baute. Der Chef sagte: "Okay, du bekommst die Zimmer - aber ich brauche das Geld jetzt, ein Jahr im Voraus." Für die devisenarme DDR eine echte Herausforderung. Aber es hat funktioniert. Und wenn du sowas hinkriegst, dann bist du stolz - das prägt.

Reto Thuminger: Und wie war es, als Vertreter der DDR in einem kapitalistisch geprägten Umfeld zu agieren - auch in direktem Kontakt mit westlichen Firmen?

Günter Buhlke: Da gab es manchmal unerwartete Hürden. Einmal wollte ich ein Geschäft an der Grenze zwischen Mexiko und den USA aufziehen - da fahren im Winter Millionen Autos durch, viele von Kanada kommend. Die Japaner verkauften dort alles Mögliche: Glas, Spielzeug, Kameras - Sachen, die auch wir anbieten konnten. Ich hatte gute Gespräche mit der Handelskammer, alles schien gut zu laufen. Und am letzten Tag hieß es plötzlich: "Geht nicht. Einer unserer Geldgeber aus den USA hat Nein gesagt - keine Geschäfte mit Leuten aus dem Osten."

Reto Thuminger: Trotzdem wolltet ihr auch wirtschaftlich erfolgreich sein, oder?

Günter Buhlke: Natürlich. Auch im Sozialismus musst du deine Kosten decken. Marx nennt das nicht Gewinn, sondern Surplus - der Teil, der für die Weiterentwicklung der Gesellschaft gedacht ist. Aber darüber habe ich öfter mit unseren Parteisekretären gestritten, weil die Übergewinnlogik für sie ideologisch problematisch war.

Reto Thuminger: Gab es auch persönlichen Kontakt mit Menschen in Lateinamerika, der dich geprägt hat?

Günter Buhlke: Ja, sehr. Wir hatten viele Familien, die uns besucht haben, nachdem wir diplomatische Beziehungen aufgebaut hatten. Manche wollten ihre Kinder in die DDR schicken - wegen der Drogenproblematik. Auch bekannte Künstler mit linken Überzeugungen, etwa aus dem Umfeld von Diego Rivera und Frida Kahlo, waren interessiert. Der Enkel von David Alfaro Siqueiros - einem kommunistischen Künstler - kam zum Beispiel zu uns. Er sollte in Thüringen Kunsthandwerk erlernen, aber er hatte schon Drogen im Blut. Und es war damals kein Problem, nach West-Berlin zu kommen - die Kreise, in denen man an Stoff kommt, lernen sich schnell kennen.

Reto Thuminger: Hat dich die Kultur Lateinamerikas auch inhaltlich beeinflusst?

Günter Buhlke: Ja, ich habe große Hochachtung vor diesen Menschen und ihrer Geschichte. Ihre Grundhaltungen sind dem Sozialismus sehr nah. Die indigene Philosophie "Buen Vivir" - gut, auskömmlich leben - hat mit Menschenrechten zu tun: Wohnung, Kleidung, Nahrung. Auch die mexikanische Verfassung von 1917 war damals die fortschrittlichste der kapitalistischen Welt - Acht-Stunden-Tag, Schutz der Rohstoffe vor Privatisierung. Diese Haltung, dass grundlegende Dinge nicht privatisiert gehören - Land, Wasser, Rohstoffe -, das verbindet uns.

Ich denke oft: Vielleicht hat Lenin beim Lesen in Zürich auch davon gelernt. Es wäre spannend zu wissen, was er dort alles gelesen hat. Jedenfalls: In Lateinamerika hatte ich das Gefühl, auf einer menschlichen Ebene wirklich verstanden zu werden. In Deutschland, besonders im Westen, habe ich da häufiger das Gefühl, sofort in ideologische Debatten verwickelt zu werden. Da fehlt manchmal die Verbindung.

Reto Thuminger: Ideologisch, sagst du, findet man oft keine gemeinsame Ebene - aber wirtschaftlich schon?

Günter Buhlke: Ja, wirtschaftlich gibt es Anknüpfungspunkte. Ich arbeite gerade an einem Buch, in dem ich etwa 30 oder 40 Betriebswirtschaftsbereiche vergleiche: Wie werden sie im Kapitalismus geregelt - und wie im Sozialismus? Was kaum jemand weiß: Die DDR hatte in ihrer Betriebswirtschaft fast alle Elemente integriert, die auch der Kapitalismus verwendet.

Reto Thuminger: Das Buch heißt "Zukunft im demokratischen Sozialismus" - was war der Anstoß dafür?

Günter Buhlke: Die Ideen stammen aus einer Arbeitsgruppe, an der Wissenschaftler aus Westdeutschland, Italien, China und Norwegen beteiligt waren - ich habe die Gruppe mit organisiert. Es ging darum, die Grundlagen des Sozialismus im 21. Jahrhundert zu diskutieren. Auch Hans Modrow war bei manchen Treffen dabei. Der Austausch war für mich sehr wertvoll.

Reto Thuminger: Lass uns über die Wende sprechen. Du warst zuletzt in der Plankommission, Bürochef beim Staatssekretär für Entwicklungsländer. Wie hast du den Umbruch erlebt - auch ganz persönlich?

Günter Buhlke: Zuerst einmal war da die Sorge: Was wird jetzt aus der Familie Buhlke? Die Plankommission wurde aufgelöst. Klar war für mich: Ich will und muss weiterarbeiten. Und ich hatte wieder einmal Glück. Im Mai 1990 suchte Christa Luft, damals Vorsitzende des Haushaltsausschusses der Volkskammer, eine wissenschaftliche Mitarbeit - zum Recherchieren, zum Analysieren internationaler Erfahrungen. Ich kannte sie schon aus meiner Zeit des Studiums, also bin ich zu ihr gekommen.

Im Haushaltsausschuss habe ich viel neues gelernt. Ich dachte: Du kannst hier wirklich etwas beitragen. Zum Beispiel habe ich untersucht, wie das Saarland 1935 wieder Teil Deutschlands wurde - vorher war es ja unter französischer Verwaltung. Ich habe alles dazu gesammelt, was ich in den Bibliotheken finden konnte. Die kapitalistisch betriebene Wirtschaft des Saarlandes bekam bis zu sechs Jahren Anpassungszeit. Die DDR-Wirtschaft "Null" Jahre für das Steuer- und Abgabesystem, die Kreditwirtschaft, die Lohn- und Gehaltstarife sowie die Anpassung an die Währungsverhältnisse mit den Ländern des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW).

Reto Thuminger: Das war also noch vor der offiziellen Wiedervereinigung - wie ging es dann für dich weiter?

Günter Buhlke: Nach der Auflösung der Volkskammer war ich arbeitslos. Keine Abfindung, nichts. "Tut uns leid", hieß es. Und das ging ja nicht nur mir so - viele aus meiner Generation haben ihren Job verloren und oft auch keinen neuen Anschluss mehr gefunden.

Reto Thuminger: Du sprichst von Glück - warum?

Günter Buhlke: Weil ich überhaupt in diese Funktion kam. Und weil ich durch die Arbeit im Ausschuss tiefer verstehen konnte, was eigentlich passiert ist. Hans Modrow, der letzte DDR-Ministerpräsident, wurde damals nach Davos eingeladen. Dort war schon 1990 klar: Die DDR wird nicht reformiert - sie wird angeschlossen. Die Weichen waren längst gestellt, spätestens nachdem Gorbatschow signalisiert hatte, dass der Warschauer Pakt und der Rat der gegenseitigen Wirtschaftshilfe (RGW) aufgelöst wird.

Reto Thuminger: Du hast also gespürt, dass der Anschluss der DDR nicht auf Augenhöhe geschah?

Günter Buhlke: Ja, ganz klar. Das war zwischen den USA und der Sowjetunion längst entschieden. In der Volkskammer haben wir erlebt, wie westdeutsches Wirtschaftsrecht sofort auf die DDR übertragen wurde. Die DDR hatte zu diesem Zeitpunkt zwar noch formal existiert, aber de facto wurden schon alle inneren Strukturen angepasst.

Es gab kein Abfangsystem mehr - also keine Subventionen, keine Schutzmechanismen für Betriebe. Jeder Betrieb musste noch 1990 eine "DM Eröffnungsbilanz" für das Finanzministerium in Bonn aufstellen: basierend auf Marktpreisen statt Planpreisen. Das war eine massive Umstellung, ohne Zeit zur Anpassung. Ich habe gesehen, was das für die Wirtschaft bedeutete - und wie sehr das von dem abwich, was die Medien erzählt haben.

Reto Thuminger: Du hattest also Zugang zu Informationen, die viele in der Bevölkerung nicht hatten?

Günter Buhlke: Ja. Aus meiner Position in der Plankommission wusste ich, was hinter den Kulissen besprochen wurde. Die Bevölkerung hatte keine Vorstellung davon, wie ein Staatshaushalt funktioniert oder was die Umstellung konkret bedeutet. Es wurde ihnen erzählt: "Jetzt wird alles besser." Die Realität sah anders aus.

Reto Thuminger: Die Erfahrungen der Wendezeit waren für viele in Ostdeutschland traumatisch. Siehst du darin einen Zusammenhang zur heutigen politischen Situation - zum Beispiel zum Erfolg der AfD?

Günter Buhlke: Direkte Zusammenhänge sehe ich weniger. Aber ich erkenne, dass die AfD eine clevere Strategie verfolgt. Kritik am Staat kommt immer gut an. Und sie spielt genau damit: mit dem Gefühl, dass die Macht eben nicht vom Volk ausgeht - obwohl es so im Grundgesetz steht. Wer genauer liest, merkt: Die Macht wird durch Wahlen vermittelt, und das ist ein langer, komplexer Weg.

Ich beobachte die AfD genau. Sie ist populistisch, sie kommt beim Volk an - und genau das macht sie gefährlich. Weil sie über Wahlen an die Macht kommen kann. So wie es auch bei Hitler war: Der kam über einen Wahlerfolg an die Macht. Ich sage immer: Die AfD ist faschistoid.

Reto Thuminger: Du befürchtest also, dass sie - wenn sie an die Regierung kommt - die Demokratie abschaffen könnte?

Günter Buhlke: Ja. Und was mir besonders Sorge macht: Sie schaffen es, große Massen zu mobilisieren. Diese Bilder von vollen Plätzen, von Menschen, die jubeln - das erinnert mich an damals. Viele lassen sich blenden. Und ich finde: Die Medien erfüllen ihre Pflicht zur Aufklärung nicht ausreichend.

Reto Thuminger: Wie stehst du zu den vielen Demonstrationen gegen rechts - sind sie sinnvoll?

Günter Buhlke: Ja, unbedingt. Es wäre noch schlimmer, wenn alles ohne Widerspruch abläuft. Demonstrationen sind ein friedliches Mittel. Wenn Leute protestieren, zeigt das: Da gibt es noch kritisches Denken.

Reto Thuminger: Aber manchmal wirkt der Protest inhaltsleer - man ist "gegen rechts", aber wofür eigentlich?

Günter Buhlke: Das ist auch meine Kritik. Es reicht nicht, nur "gegen" etwas zu sein. Man muss auch sagen, wofür man steht. Für welche Werte. Für welche Form von Gesellschaft. Und wie man diese Werte umsetzen will. Alles andere ist Scheinheiligkeit - und die ist für mich schwer zu ertragen. Die Proteste nehmen kaum die Charta der Menschenrechte von 1947 und 1966 als Wegweiser.

Reto Thuminger: Und was ist für dich die Alternative - was ist deine Vision?

Günter Buhlke: Für mich ist der Fürsorgegedanke zentral. Das Gemeinwohl. Der Staat soll für die Menschen da sein: im Bildungswesen, im Gesundheitswesen, im Verkehr, bei der Unterstützung der jungen Generation. Das ist für mich Sozialismus - und auch Humanismus.

Ich glaube an das Denkvermögen der Menschen. An ihre Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und friedliche Lösungen zu finden. Es gab Abrüstungsabkommen, es gab die KSZE - das alles zeigt, was möglich ist. Leider werden solche Fortschritte oft wieder zurückgenommen. Aber ich habe Hoffnung.

Reto Thuminger: Die Welt befindet sich seit Jahren in einem großen Wandel, und das Risiko einer globalen Konfrontation nimmt ständig zu. Siehst du das hauptsächlich als wirtschaftliche Folge der extremen Kapitalakkumulation, die zum Krieg führt, oder gibt es deiner Meinung nach andere wichtige Faktoren?

Günter Buhlke: Ja, ich sehe dieses Risiko. Es ist in meinen Augen in erster Linie eine Folge der wirtschaftlichen Gewinnsucht - der Gier bestimmter Gruppen, immer mehr Kapital anzuhäufen. Der Egoismus spielt dabei eine große Rolle. Man sieht es an Figuren wie Trump oder anderen Führungskräften - sie lieben die Fleischtöpfe und wollen ihren Einfluss sichern und ausbauen, ohne Rücksicht auf das Allgemeinwohl.

Reto Thuminger: Die Prozesse scheinen sich zu beschleunigen, viele Menschen sind verwirrt. Nach deiner Lebenserfahrung - ist eine kollektive Bewusstwerdung "von unten" noch möglich, um die Erde menschlicher zu gestalten?

Günter Buhlke: Ja, ich denke, dieser Prozess läuft längst - und zwar schneller, seit das Meinungsmonopol der klassischen Medien durch das Handy durchbrochen wurde. Die ehemaligen Kolonien drängen auf die Weltbühne. Europa bestimmt nicht mehr, was in der Welt geschieht.

Protest entsteht immer von unten - aus der Arbeiterschaft, der Mittelschicht. Die Wissenschaftler könnten drängender sein. Aber es fehlt die Einheit. Was früher die Heilige Allianz gegen das revolutionäre Frankreich war, ist heute die NATO. Eine humane Gesellschaftsordnung wird nicht mit einem großen Knall kommen. Sie entsteht, Land für Land, denn die gesetzlichen Grundlagen sind national organisiert. Jedes Land muss sich selbst verteidigen - auch wirtschaftlich. Wer in die Auslandsschuldenfalle gerät, verliert seine Souveränität.

Für Deutschland habe ich wenig Hoffnung. Die AfD könnte es schaffen - unterstützt von konservativen Kräften, flankiert von sozialen Medien wie X unter Elon Musk, die der CDU und der Rechten neue Wege öffnen. Die konservative Seite ist juristisch und polizeilich hervorragend vorbereitet. Die Linke hat keine Medienmacht - das ist ein großes Problem.

Reto Thuminger: Dein Buch "Hat die Welt eine Zukunft?" [2] hast du 2020 geschrieben. Hat sich an deiner Einschätzung seitdem etwas verändert?

Günter Buhlke: Das Thema ist aktueller denn je. Schon Thomas Morus hatte die Vision, dass das Volk besser leben will - nicht wie im Feudalismus, sondern menschenwürdig. Und das ist ein uralter Traum: das Streben nach einem besseren Leben, nach einem Paradies.

Ich bin überzeugt: Wir Menschen haben zwei Dinge - Denkvermögen und Arbeitsvermögen. Alles andere nehmen wir aus der Natur. Unser Denken ermöglicht Technik, Medizin, Energie, Fortschritt. Und unser Denken kann uns auch davor bewahren, alles zu zerstören.

Reto Thuminger: Du glaubst also trotz aller Rückschritte an die Kraft der Vernunft?

Günter Buhlke: Ja, ich glaube an die humane Vernunft. Und ich bin überzeugt: Ohne Humanismus geht es nicht weiter. Humanismus heißt, die Spezies Mensch nicht untergehen zu lassen. Das gilt heute mehr denn je.

Reto Thuminger: Du hast nie aufgehört zu schreiben. Was bedeutet dir das Schreiben?

Günter Buhlke: Das Schreiben gibt mir Hoffnung. Es ist für mich ein Mittel zur Aufklärung - ich möchte etwas beitragen, etwas bewegen. Es hilft mir auch persönlich: gegen die Einsamkeit, gegen das Gefühl, nicht gebraucht zu werden. Ich will nützlich sein, wie jedes Wesen in seiner Gemeinschaft. So wie Tiere in ihrer Herde, wie Bienen im Schwarm.

Und ich lese sehr viel - was kluge Menschen früher gedacht und geschrieben haben. Das inspiriert mich, bestätigt mich und ich lerne ständig dazu.

Reto Thuminger: Gibt es Artikel, die dir besonders wichtig sind?

Günter Buhlke: Ja, einige Texte liegen mir besonders am Herzen: Kommt eine Wende?[3], Höchstspannung im Anthropozän[4], Tag- und Nachtträume eines alten Mannes[5]. Darin beschreibe ich große Themen, die uns alle angehen. Leider habe ich kein Forum, in dem man diese Themen diskutiert - das fehlt mir.

Aber das Schreiben macht mir Freude. Und ich denke, der Mensch hat ein Recht darauf, Freude zu empfinden.

Reto Thuminger: Wenn du eine Botschaft an die junge Generation, an die Friedensbewegung oder an Pressenza richten könntest - was wäre dir wichtig?

Günter Buhlke: Ich habe kurz vor der Wahl einen Text geschrieben, gerichtet an die junge Generation. Meine Botschaft ist: Kümmert euch. Lest die Parteiprogramme - aber richtig. Fragt euch: Was wollen die Parteien wirklich? Die meisten politischen Bewegungen denken in erster Linie daran, wie sie möglichst viele Stimmen bekommen, um Gesetze durchsetzen zu können. Die großen Ideen für die Gesellschaft werden zu wenig mit den praktischen Veränderungsmöglichkeiten verbunden. Aufklärung tut not.

Was ich aus meiner Arbeit im Haushaltsausschuss gelernt habe: Eine einzige Stimme Mehrheit reicht, um hundert gute Gedanken abzuwürgen. In jedem Ausschuss spiegeln sich die Mehrheitsverhältnisse des Parlaments - und die Linke hatte nie die Mehrheit. Deshalb sage ich: Beschäftigt euch mit den Grundlagen. Und denkt dran: Was heute passiert, hat seine Wurzeln oft weit zurück. Das gilt für viele Konflikte - auch für den Krieg in der Ukraine.

Reto Thuminger: Du hast gesagt, die Demokratie, wie wir sie kennen, ist eine Zahlendemokratie. Was meinst du damit?

Günter Buhlke: Unsere repräsentative Demokratie funktioniert über Mehrheiten - aber eben auch über Macht und Geld. Eine Stimme Mehrheit reicht, um Entscheidungen zu treffen. Das ist formal korrekt, aber es ist nicht genug.

Ich wünsche mir mehr partizipative Demokratie - also echte Beteiligung der Menschen. In der Theorie war das auch im Sozialismus angelegt, im Rätesystem. Die Idee: Erst beraten, dann entscheiden. In der Praxis wurde das leider oft pervertiert mit dem Satz: "Die Partei hat immer recht." Aber der Gedanke an Mitsprache und gemeinsame Verantwortung bleibt wichtig.

Reto Thuminger: Wie blickst du auf den Umgang mit der AfD?

Die AfD ist für mich eine große Gefahr - faschistoid. Sie kommt aus der CDU, viele Gründungsmitglieder waren dort. Und sie sind mitunter noch weiter rechts als die heutige CDU. Ich beobachte das mit Sorge. Wenn eine Politikerin wie Alice Weidel einem Friedrich Merz sagt: "Du hast unser Programm abgeschrieben", dann sollte das zu denken geben.

Die sogenannte Brandmauer gegen die AfD reicht nicht. Man muss sich inhaltlich mit ihr auseinandersetzen - zeigen, was sie wirklich wollen. Eine Demokratie lebt vom Diskurs. Und Brandmauern allein ersetzen keine Aufklärung.

Reto Thuminger: Siehst du die aktuelle Kriegspropaganda - das Narrativ vom wertebasierten Westen gegen die Autokraten im Osten - als logische Fortsetzung des Kalten Krieges?

Ja, auf jeden Fall. Das begann schon 1947 mit der Truman-Doktrin - sie lautete wörtlich: "Den Sozialismus aufhalten und zurückdrängen." Damit wurde der Kalte Krieg eingeleitet. Vor jedem großen Krieg gab es Propaganda: Schuld waren immer die anderen. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren es die Juden, vor dem Ersten Weltkrieg waren es die Engländer und Franzosen, die den Deutschen angeblich "keinen Platz an der Sonne" lassen wollten. Und heute heißt es, wir müssten uns gegen Russland und China verteidigen.

Dabei werden die sogenannten Werte des Westens öffentlich kaum kritisch beleuchtet. Die Menschenrechte - Frieden, soziale Sicherheit, Bildung, Gesundheit - wurden meiner Meinung nach im Sozialismus stärker verwirklicht. In der DDR gab es keine Arbeitslosen, keine Obdachlosen, keine Bettler. Es gab ein kostenloses Gesundheits- und Bildungswesen. Ja, Reisen in den Westen waren eingeschränkt, und es fehlten oft Luxusartikel - aber Theater, Museen, Sport - das alles war auch für den kleinen Geldbeutel erreichbar.

Reto Thuminger: Was gibt dir heute noch Kraft? Was hat dich durch dein Leben getragen?

Günter Buhlke: Schwer zu sagen. Vielleicht: der Wille, anderen zu helfen. Die Hilfsbereitschaft. Ich bin ein Fan von Pflichten. Heute wird viel von Rechten gesprochen - aber wer spricht noch von den Pflichten? Auch in der Bildung - Kinder sollten lernen, Verantwortung zu übernehmen, für ihre Familie, für die Gemeinschaft.

Solidarität gehört für mich unbedingt dazu. Die Französische Revolution hatte drei große Prinzipien: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Aber heute redet man fast nur noch von der Freiheit. Die anderen beiden sind unter den Tisch gefallen.

Ich habe viele kluge Menschen getroffen, vom Facharbeiter bis zum Wissenschaftler. Aber viele waren in ihrer Rolle nur eine Nummer - abhängig von einer Gehaltsstelle. Sie hatten keine echte Freiheit. Das ist ein Widerspruch, den ich oft erlebt habe.

Reto Thuminger: Du hast viel über Gesellschaft, Politik und Wirtschaft gesprochen. Aber wenn ich nach dem Persönlichen frage: Bist du mit deinem Leben versöhnt?

Günter Buhlke: Ja, ich bin versöhnt. Ich denke, ich habe meine Aufgaben gut erfüllt - und sie haben auch anderen genützt. Ich musste mir keinen neuen Anzug kaufen, um irgendwo zu glänzen. Aber ich bedauere manches - dass ich früher nicht genug gelesen habe oder nicht alle Fragen gestellt habe, die ich hätte stellen sollen.

Reto Thuminger: Und auf der Gefühlsebene?

Günter Buhlke: Da ist es schwieriger. Ich denke manchmal, ich hätte mehr für Ruth [seine verstorbene Ehefrau und Lebenspartnerin] tun können. Sie hat so viel geleistet, und ich sehe das jetzt deutlicher. Es ist nicht immer einfach, sich das einzugestehen. Aber ich versuche, selbstkritisch zu bleiben.

Was mir wichtig ist: Ich fühle mich nicht überlegen. Ich sehe oft, wie Akademiker auf ihrem Gebiet glänzen - aber auf anderen völlig hilflos sind. Die Leistung anderer anzuerkennen, das ist eine wichtige Fähigkeit. Und manchmal hilft es schon, einfach mal "Danke" zu sagen.

Reto Thuminger: Vielen Dank für das interessante und sehr offene Gespräch, lieber Günter!

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Nachwort:
Günter Buhlke gehört zu jenen Menschen, die mit ihrem Denken, Schreiben und Handeln über Jahrzehnte hinweg einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag geleistet hat - und in den letzten zehn Jahren auch zur Arbeit von Pressenza. Sein politisches und menschliches Engagement, seine unermüdliche Lust am Forschen, Formulieren und Verstehen - all das macht ihn zu einer Stimme, die weit über seine Generation hinaus Bedeutung hat.

In diesem Gespräch spricht ein Mensch, der nicht nur Geschichte erlebt hat, sondern sie zu deuten versucht - offen, kritisch und mit der Hoffnung auf eine friedlichere, gerechtere Welt. Wer Günter zuhört, hört einen Zeitzeugen, einen Humanisten - und einen wachen Geist voller Hingabe.

"Ich glaube an das Denkvermögen der Menschen" - dieser Satz ist mehr als ein Interviewtitel. Er ist ein Vermächtnis. Und eine Einladung.


Reto Thumiger
- Der gebürtige Schweizer und ausgebildete Kaufmann engagiert sich seit über 25 Jahren als Aktivist für den Neuen-Humanismus. Sein Einsatz gilt der Förderung kultureller Vielfalt, der Gleichberechtigung und der Schaffung gleicher Möglichkeiten für alle Menschen. Dabei setzt er sich für eine innere und äußere Revolution - basierend auf der aktiven Gewaltfreiheit ein. Durch seine ehrenamtliche Arbeit bei Pressenza strebt er danach, mit einem auf Frieden und Gewaltfreiheit ausgerichteten Journalismus zur Überwindung von Gewalt beizutragen.


Anmerkungen:

[1] https://www.pressenza.com/de/author/guenter-buhlke/
[2] https://www.eulenspiegel.com/verlage/verlag-am-park/titel/hat-die-welt-eine-zukunft.html
[3] https://www.pressenza.com/de/2024/02/kommt-eine-wende/
[4] https://www.pressenza.com/de/2024/03/hoechstspannung-im-anthropozaen/
[5] https://www.pressenza.com/de/2024/03/tag-und-nachttraeume-eines-alten-mannes/

Link zur Erstveröffentlichung:
https://www.pressenza.com/de/2025/05/ich-glaube-an-das-denkvermoegen-der-menschen-guenter-buhlke-ueber-sozialismus-demokratie-und-die-hoffnung-auf-eine-menschlichere-welt/

Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Reto Thumiger
E-Mail: redaktion.berlin@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 9. Mai 2025

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