Neue Entwicklungen, neue Probleme
Gespräch mit Karsten Müller am 16. Dezember 2024 in Hamburg
Schach ist wandelbar und verleibt sich technische Entwicklungen hervorragend ein. Selbst die Regeln wurden im Laufe der Schachgeschichte mehrmals dem gesellschaftlichen Fortschritt angepasst. Mit der Schwelle zum 21. Jahrhundert sind neue Herausforderungen auf das Schach zugekommen, solche, deren Verlauf in die Zukunft absehbar ist, und solche, die einen nahezu evolutionären Sprung bedeuten könnten. Daraus ergeben sich Fragen, die ein Großmeister am besten beantworten kann. Karsten Müller aus Hamburg war so freundlich, dem Schattenblick seine Einblicke in die jüngsten Entwicklungen im Schach zu geben und aus dem Nähkästchen über Sachen zu plaudern, die für jeden Schachfreund von Interesse sind.
Schattenblick (SB): In den letzten zehn Jahren ist viel
passiert. Was waren für Sie die größten Ereignisse und Meilensteine in
Ihrer privaten Laufbahn wie auch im internationalen Turnierschach?
Karsten Müller (KM): Das ist natürlich eine sehr weit gefasste Frage. Zum einen sind die Engines [1] immer stärker geworden, so dass Fernschach jetzt akut vom Remistod bedroht ist. Zum anderen war es der Rücktritt von Magnus Carlsen vom Weltmeistertitel. Ferner Ding Lirens Sieg gegen Jan Nepomnjaschtschi in einem sehr knappen Match und natürlich Dommaraju Gukeshs Sieg vor wenigen Tagen, der ihn zum zweiten indischen Weltmeister machte. Indien erlebt ohnehin einen großen Schachboom. Bei der offenen Gruppe und bei den Frauen haben sie die Olympiade gewonnen. Es ist bemerkenswert, dass sich die Entwicklung jetzt in Richtung des Ursprungs des Schachs verschiebt. Der indische Regierungschef hatte beide Nationalmannschaften zu einem längeren Gespräch empfangen. Indien hat 1,4 Milliarden Menschen, das ist ungefähr ein Sechstel der Menschheit. Jetzt haben sie nach Viswanathan Anand einen zweiten Weltmeister.
Die Corona-Zeit hat einschneidende Veränderungen gebracht, die insgesamt negativ waren, aber für das Schach auch eine Reihe von positiven Perspektiven eröffneten. Weil man aufgrund der Quarantäne-Bestimmungen und der strengen Restriktionen im Alltag nicht viel machen konnte, sind die Menschen auf das Netz ausgewichen. Die Netflix-Serie "Damengambit" wurde millionenfach gesehen und hat daher das Interesse am Schach ziemlich angekurbelt. Auch die vielen YouTube-Kanäle erlebten in dieser Zeit einen riesigen Aufschwung, weil man wegen der Ansteckungsgefahr und der Kontaktbeschränkung kein Nahschach ausüben konnte. Viele verlegten ihre Aktivitäten daher auf das Internet mit all den positiven Effekten für das Schach, das immer irgendwie seinen Weg findet, egal, welche Zeiten gerade vorherrschen.
Großmeister privat
Foto: © 2024 by Schattenblick
SB: Was waren für Sie persönlich die prägendsten Entwicklungen?
KM: Die stärker werdenden Engines hatten natürlich einen Einfluss auf mich, da immer mehr Endspiele jetzt durch die Computer klärbar wurden. Mittlerweile geraten sogar die schwierigsten Festungen [2] in ihren Zugriffsbereich. Es lassen sich kaum noch Endspielstellungen finden, mit denen sie nicht klarkommen. Für mich hat sich nicht viel verändert. Ich mache das Training mit den Jugendlichen unter den Schachtalenten wie Vincent Keymer und auch mit einer Reihe von Indern. Auch Gukesh hatte 2019 einen Tag lang Endspieltraining mit mir, aber man konnte damals natürlich nicht vorhersagen, dass er einmal den Titel holen und zum jüngsten Weltmeister der Schachgeschichte avancieren würde.
SB: Wer hat diese Treffen organisiert und Sie als Trainer verpflichtet?
KM: Seminare sind natürlich etwas anderes, aber die Trainings hat im Wesentlichen Frederic Friedel [3] organisiert, der sehr gute Kontakte nach Indien hat und dort auch geboren wurde. Ferner ist eine Reihe indischer Meister zu nennen, welche die goldrichtige Idee hatten, als sie nach Hamburg kamen. Dass es dann so gut aufgehen würde, konnte man in den kühnsten Träumen nicht erwarten. Natürlich musste da viel zusammenkommen. Strenggenommen war es eine private Initiative und ging nicht vom indischen Schachverband aus.
SB: Der Film "Damengambit" hat wie eine Bombe eingeschlagen, obwohl das für ein reines Schachthema gar nicht zu erwarten war. Es gibt Anzeichen dafür, dass es sich bei der Filmhandlung um eine weibliche Rezeption der Karriere Bobby Fischers handelt. Wie sehen Sie das?
KM: Ja, es gibt verschiedene Anklänge. Eine ehemalige Freundin des amerikanischen Großmeisters Larry Kaufman hat wohl in vielem Pate gestanden. Dass man mit Schachthemen ein so breites Publikum erreichen kann, ist für gewöhnlich schwierig. Helmut Pfleger und Vlastimil Hort ist das mit den WDR-Sendungen gut gelungen. Aber sonst kann man eine fünf- oder sechsstündige Schachpartie für einen Zuschauer nicht übertragen, das würde selbst unter Schachspielern nur eine Minderheit interessieren. Schon im Internet kommt es nicht nur zu Übertragungen der Züge. Wenn man ein größeres Publikum erreichen will, muss man sehr viel bessere Angebote machen. Beim Film "Damengambit" haben die Autoren ein gutes Fingerspitzengefühl bewiesen und eine attraktive Geschichte um das Schach aufgebaut. In dem Zusammenhang wäre auch Judit Polgar zu nennen, die früher einmal den WM-Titel der Männern erringen wollte, aber aus verschiedenen Gründen gescheitert ist. Sie war ganz oben in der Weltrangliste. Ansonsten hat es keine Frau im Schach so weit gebracht. Im Film ist es eine Frau, die den Männertitel holt, und damit, wenn man so will, das feministische Versprechen einlöst, dass Frauen genauso gut Schach spielen können wie Männer, vielleicht sogar besser.
SB: Könnte dieser feministische Aspekt eine Rolle gespielt haben für den Erfolg der Serie?
KM: Ja, sicherlich. Schließlich ist es gelungen, damit das Publikum auf eine Weise anzusprechen, wie man es normalerweise nicht schaffen kann, indem man zum Beispiel Partien mit Computeranalysen zeigt. Netflix hat eine Handlung für ein neugieriges Publikum aufbereitet. Offenbar waren Profis am Werk, und die hatten überdies noch ein glückliches Händchen, als sie sich ans Schach herantrauten. Der andere Film, der jedoch nicht diesen Erfolg hatte und den Versuch unternahm, das Schach für ein breites Publikum zu öffnen, war die "Schachnovelle", die schon als Literatur vorhanden war. Aber der Film selbst hatte nur mäßigen Erfolg. Vielleicht war der Inhalt zu verbohrt oder zu weit entrückt.
SB: Die "Schachnovelle" handelt von einem Menschen, der von den Nazis in strikter Einzelhaft gehalten wird. Wenn man sich fragt, wozu es ein ganz gewöhnlicher Mensch in diesem Metier bringen kann, wird gerne Bezug auf die "Schachnovelle" genommen, als wäre dies ein literarisches Zeugnis für einen Schachspieler. Dabei hat dieser Mensch vorher kein Schach gespielt und lediglich Züge auswendig gelernt und wahlweise kombiniert, also das Spiel der Meister bloß nachgeahmt.
KM: Wahrscheinlich ist es im engeren Sinne keine Geschichte eines Schachspielers, sondern nur ein gewisser Aspekt vom Schach und nicht der eigentliche Wissenskern. Hier wird das Schach nur durch einen Zerrspiegel abgebildet. Es entsteht ein Bild, das die breite Öffentlichkeit dann vom Schach hat.
SB: Magnus Carlsen hatte seinen Titel kampflos abgegeben und war im gewissen Sinne damit Bobby Fischer nachgefolgt, auch wenn die Entscheidungen beider von anderen Voraussetzungen und Motiven geprägt waren. Wie bewerten Sie den Schritt des Norwegers und welche Konsequenzen könnten sich daraus für das Profischach ergeben?
KM: Natürlich ist beides nicht miteinander vergleichbar, denn Fischer hat nach seinem Rücktritt fast keine Partien und Turniere mehr gespielt. Man könnte über die Gründe natürlich spekulieren. Er hatte mit dem Weltmeistertitel alles erreicht und mit dem fantastischen Sieg gegen Boris Spassky ein Jahrhundertereignis geschaffen, das die Weltpresse dominierte. Vielleicht hat er danach Angst oder Hemmungen gehabt, weil Anatoli Karpow für ihn ein unbeschriebenes Blatt war. Möglicherweise hatte er seine Forderungen gegen die FIDE [4] bewusst so hochgeschraubt, dass er davon ausgehen konnte, dass die FIDE, Karpow und der sowjetische Schachverband niemals nachgeben würden. In der Frage des kampflos abgegebenen Titels gibt es zwischen Fischer und Carlsen eine gewisse Ähnlichkeit, mehr aber nicht. Ich denke, Carlsen will gerne weitermachen, er spielt auch unglaublich stark, betreibt das Fischer-Random-Schach, nimmt an allen möglichen Turnieren teil, ob Internet, simultan oder Nahschach. Fischer hatte sich dagegen fast völlig zurückgezogen. Gut möglich, dass Carlsen einfach keine Lust mehr hat, sich so viele Monate intensiv auf ein Match vorzubereiten.
SB: Aber läuft es nicht Gefahr, dass der WM-Titel dadurch gewissermaßen entwertet wird?
KM: Ja, diese Gefahr gibt es natürlich in beiden Fällen, wenn der jeweils anerkannt beste Spieler der Welt, Bobby Fischer oder Magnus Carlsen, nicht mehr antritt. Bisher hatte das Schach das Glück, dass seit den 1880er Jahren der weltbeste Spieler auch der Weltmeister war. Es ist gar nicht so selbstverständlich und mathematisch auch ganz unwahrscheinlich, dass es so lange gutgegangen ist.
Das WM- und das Elo-System [5] sind zwei völlig verschiedene Betrachtungen. Nebenbei bemerkt änderte sich über die Jahrzehnte immer wieder die Art, den Weltmeister zu ermitteln. Man hat diesen immer mit Positionen verbunden, die sich mit der Entwicklung des Schachs und auch mit den Interessen der Schachspieler in Einklang befinden, die gewissermaßen einen Gegenpart zu den Funktionären darstellen.
In diesem System gab es immer Konflikte, die über Regularien organisiert waren. Mit Carlsens Entscheidung, den Titel einfach auf den Tisch zu werfen, ist eine neue Situation entstanden, die es historisch gesehen so noch nicht gab. Nach Fischers Rücktritt hat Anatoli Karpow durch seine Dominanz das Ganze aufgefangen, weil er danach ein Turnier nach dem anderen gewonnen hat. Nun sieht es so aus, dass sich diese Diskrepanz, dass der beste Spieler auch den Titel trägt, nicht von selber erledigen wird, weil Carlsen immer noch zu stark ist. Gukesh ist erst 18 Jahre alt und kann sich noch weiterentwickeln, kommt in der Weltrangliste jedoch weiter hinten. Seine Zeit war eigentlich noch nicht gekommen, aber er hat seine Chancen in den Kandidatenturnieren genutzt und sich zum WM-Kampf qualifiziert. Seine Cleverness war für einen derart jungen Spieler bemerkenswert. Doch solange Carlsen der mit Abstand stärkste Schachspieler des Planeten ist und trotzdem nicht mehr antritt, wird das Problem erhalten bleiben. Das Schach wird diese Situation mit einem Weltmeister und einem weltbesten Spieler, denke ich, dennoch überleben.
SB: Manche behaupten, er habe keinen Sinn in einem Wettkampf gesehen, wo ihm der Herausforderer nicht im Geringsten das Wasser reichen könnte.
KM: Nein, ich glaube, der Hauptgrund war, dass er keine Lust auf eine monatelange harte Eröffnungsarbeit hatte und diese Tortur alle zwei bis drei Jahre wiederholen müsste. Seine Karriere hätte dann im Wesentlichen nur noch daraus bestanden. Vielleicht wollte er etwas Neues probieren und das Chess960 [6] voranbringen. Auch der WM-Kampf zwischen Fabiano Caruana und Sergei Karjakin war nicht so klar gewesen. Ein Duell dieser Art schreibt seine eigenen Gesetze. Es ist eben etwas anderes, vor Ding Liren in einem Turnier zu landen oder ihn in einem WM-Match zu besiegen. Das hat auch Gukesh gemerkt, denn der Wettkampf um die Krone war bis in die letzten Minuten heiß umkämpft, bis zur Abwicklung in ein verlorenes Bauernendspiel. Carlsen wäre in einem möglichen Vergleich immer der hohe Favorit, aber er hat schon gesagt, dass er gegen Gukesh nicht antreten würde. Ich schließe ein Comeback von Carlsen nicht aus, aber momentan ist es Common Sense, dass er mit Abstand der stärkste Spieler der Welt ist.
SB: Sie sind nicht nur Trainer, sondern auch Verfasser von Schachbüchern. Wie entstehen diese Werke? Tritt ein Verlag an Sie heran mit einem besonderen Wunsch oder geht die Initiative von Ihnen aus?
KM: "Fundamental Chess Endings" war eine Idee von Frank Lamprecht und mir. Und daraufhin ist Gambit Publications Ltd. an uns herangetreten. Natürlich gibt es von den Verlagen immer wieder Anfragen an mich zu einem Endspielbuch wie beispielsweise von Herrn Ullrich vom Joachim Beyer Verlag. Aus dieser Diskussion resultierte ein Buch von mir zusammen mit Claus Dieter Meyer. Wir hatten bereits zuvor DVDs gemacht. Als er 2020 verstarb, habe ich das Buchprojekt aus dem Material zur DVD-Reihe nach seinem Tode realisiert. Herr Ullrich wollte noch andere Endspielbücher herausbringen, und so sind daraus die Bücher mit mir und Jerzy Konikowski entstanden, die aktuelles Analysematerial und viele Beispiele aus den Dateien zu einem bunten Strauß binden. Überhaupt analysiere ich moderne Partien auf ihren Endspielgehalt, die ich dann für ChessBase-Webseiten oder für andere Magazine kommentiere. Ich arbeite gerne mit Co-Autoren zusammen, die ihre Ideen miteinbringen und so fügt sich alles zusammen.
SB: Sie arbeiten auch auf dem Gebiet der Eröffnungstheorie. 2003 haben Sie gemeinsam mit Martin Voigt "Danish Dynamite" verfasst und vor einiger Zeit die Serie "Typisch Spanisch" und so weiter.
KM: Eröffnungen sind nicht unbedingt meine Stärke. In der Serie geht es vielmehr um typische Mittelspielmotive, die sich aus den einzelnen Eröffnungen ergeben und ihren Wiedererkennungswert bestimmen. Es gab da eine Marktlücke. Die meisten Schachprodukte dieser Art sind eine Aneinanderkettung von Varianten, und das ist auch sinnvoll, aber es gibt kaum Bücher über die Strukturen und Strategien im Mittelspiel. Wenn man Holländisch spielt mit Schwarz, muss man sich nicht intensiv mit Läuferopfermotiven befassen, weil die da kaum vorkommen, und stattdessen eher mit den schwachen weißen Feldern in der schwarzen Stellung. In diese Richtung zielte mein Ansatz. Und als diese Serie beim Beyer-Verlag lief, wollte man sie gerne fortsetzen.
SB: Wie überall in der Gesellschaft haben auch Verlage mit konjunkturellen Einbrüchen zu kämpfen. Eine breite Palette von Schachbüchern erscheint zu allen möglichen Themen und Fragestellungen. Welche Bereiche der Schachgeschichte und Schachkunst werden aus Ihrer Sicht zu wenig gewürdigt?
KM: Zum Beispiel einzelne Schachmeister der zweiten Reihe. Die Weltmeister sind gut abgebildet. Auch ich habe dazu einiges beigesteuert. Unterrepräsentiert sind zudem die Frauenweltmeisterinnen, die hervorzuheben wichtig wäre, um mehr Mädchen und Frauen für das Schach zu motivieren. Auch Autorinnen von Schachbüchern sind selten. Judit Polgar macht in dieser Hinsicht viel und hat auch Bücher geschrieben. Verglichen mit dem Output der Männer ist das insgesamt jedoch ziemlich wenig. Bei der Frage nach dem Frauenschach hat es historisch gesehen üble Verunglimpfungen gegeben, dass man Frauen überhaupt die Denkfähigkeit absprechen wollte, sogar hier in Europa. Das könnte durchaus ein Recherchethema sein.
SB: Welche historischen Epochen im Schach werden Ihrer Meinung nach kaum beachtet? Macht eine Rückschau etwa auf das 16. Jahrhundert Sinn und welche Fragen verbinden sich mit der Turniergeschichte, die es erst seit 1851 gibt?
KM: In dieser Hinsicht ließe sich auf Herbert Bastian verweisen, der die Zeit vom 16. bis zum 19. Jahrhundert gut reflektiert hat, auch unter dem Aspekt der Endspielforschung. Aber die Zeit davor wurde nur lückenhaft erforscht.
Ein Feld, das mich persönlich noch immer interessiert, ist der Einfluss der russischen Schachdenker in der Mitte des 19. Jahrhunderts, wo es zwischen Russland und Europa vielfältigste Kontakte gegeben hat. Der Austausch der Ideen war unvorstellbar. Das ist kaum beleuchtet worden. Dann gibt es noch das Phänomen der Plejaden, ein Zusammenschluss von Schachinteressierten, der ebenfalls bisher oberflächlich von der Forschung behandelt wurde.
SB: Haben Sie Buchprojekte für die Zukunft im Auge?
KM: Gemeinsam mit Wolfgang Schön schreibe ich ein Buch über Emanuel Laskers 60 beste Partien. Vielleicht erscheint es im nächsten Jahr. Dieses Lasker-Projekt ist eine Mischidee zwischen Herrn Ullrich und mir. Man braucht immer einen Markt, wenn man Verlage überzeugen will. Lasker bot sich natürlich an, weil er der einzige deutsche Weltmeister war.
SB: Das Schach in Hamburg hat eine lange Geschichte. Der Hamburger Schachklub ist der zweitälteste Schachverein in Deutschland. Wie macht sich das Hamburger Schach im deutschen Querschnitt und wie lässt sich überhaupt die Entstehung von Hochburgen und Regionen mit besonderem Erfolg im Schach erklären?
KM: Ja, das Hamburger Schach steht ziemlich gut da mit zwei Bundesligisten. Als Schachstadt ist Hamburg sogar in die Hauptnachrichtensendungen vom NDR gekommen, was ich früher nicht für möglich gehalten hätte, aber seit Magnus Carlsen für St. Pauli spielt, ist dies regelmäßig der Fall. Eine Hochburg fürs Schach wie im Rheinland, in Berlin, Hamburg und Wien entsteht von der Konzentration der Gedanken her, was eine große Rolle spielt. Man braucht Schachklubs, Schachcafés und darüber bildet sich eine Tradition. Das war in Deutschland immer extrem wichtig aufgrund der Konkurrenz. Jeder wollte in die erste Mannschaft oder Großmeister werden. So motiviert sich das gegenseitig, dann wandern Schachtrainer in die Hochburgen und geben ihr Wissen weiter. Viele der deutschen Großmeister kommen aus einer der Hochburgen ersten Ranges. Lübeck war auch einmal Hochburg, weil man sich dort internationale Meister zusammengekauft hat und für eine Zeitlang großen Erfolg hatte. In Hamburg sind die Rahmenbedingungen schon seit 1830 fast immer sehr günstig gewesen. Man hat hier auf Funktionärsebene viel fürs Schach getan, Emil Dähne, Christian Zickelbein oder Walter Rädler sind vor allem zu nennen.
SB: Deutschland war einmal führend in der Welt des Schachspiels. Robert Hübner war vielleicht der bisher letzte Versuch, den WM-Titel zu erringen. Was fehlt aus Ihrer Sicht dem deutschen Schach vor allem im Vergleich zu den viel erfolgreicheren Schachnationen?
KM: Die Frage ist, ob dem deutschen Schach etwas fehlt oder die anderen Staaten einfach zu gut sind. Die jungen Inder sind großartig motiviert. In Indien kann man Weltmeister werden und sehr viel Geld verdienen. Das erzeugt ein völlig anderes Leistungsumfeld als in Deutschland. Nun, wenn Vincent Keymer so weitermacht, kann er vielleicht Weltmeister werden. Es wäre natürlich gut, wenn wir einen Spieler hätten, der dauernd bei den Weltmeisterschaften mitspielt und sehr populär ist. Vielleicht ist die Unterstützung durch die Verbandsstrukturen zu schwach, aber das ist ein ganz schwieriges Thema und Schlaubergerantworten nützen niemandem. Mehr Geld ins Leistungsschach fließen zu lassen vom Verband, ginge wohl immer, aber das ist wahrscheinlich nicht der entscheidende Ansatzpunkt. In Topspieler wie Matthias Blübaum, Florian Handke und Rasmus Svane investieren die Sponsoren bereits viel Geld. Freilich ist es nicht die Aufgabe der Sportverbände, Spitzenspieler mit Millionen Euro zu unterstützen.
SB: Kreativität setzt ein vorher Unbekanntes voraus, das es zu erschließen gilt. Nun sind Schachprogramme, auf die sich die Meister nicht unwesentlich stützen, nicht dafür bekannt, Grenzen zu überschreiten. Neue Konzeptionen wie früher die Hypermoderne Schachschule scheint es nicht mehr zu geben. Könnten die Schachprogramme dafür selbst das Hindernis sein?
KM: In gewissem Sinne können dogmatische Regeln zu starren Schulmeinungen führen wie zum Beispiel: Wenn Schwarz Springer f6 macht, muss der weiße Läufer auf G5 spielen. Für diese These wird das Schachprogramm natürlich sofort viele Gegenbeispiele bringen. Vielleicht ist die Zeit der dogmatischen Schulen abgelaufen, die historisch gesehen ihre Zeit hatten. Andererseits sind die Programme durchaus kreativ und gerade die neuen Engines mit ihren Neural-Netzwerken, die auf dem Selbstlernen basieren, haben schon eine ganze Menge Eröffnungsideen produziert. Sie bringen eine neue Schiene der Kreativität ins Schach. Wenn ein Computer heute anzeigt, dass ein früher fehlerhafter Zug doch spielbar ist, wäre das noch kein Zeichen von Kreativität, sondern nur ein statistisches Ergebnis, dass ein Menschenurteil widerlegt wurde. Der wunde Punkt ist natürlich die Frage, was Kreativität überhaupt ist, je nachdem, wie man es definieren würde. Die Einführung neuer Manöver, die man früher nicht kannte oder falsch eingeschätzt hatte, könnte man kreativ nennen. Viele früher zweifelhafte Eröffnungen gelten selbst im Fernschach heutzutage als spielbar.
Grübelndes Nachdenken
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SB: Sie sind nicht mehr im Turnierbetrieb tätig, fehlt Ihnen dadurch etwas?
KM: Nein, mir fehlt nichts. Als Spieler habe ich erreicht, was ich erreichen konnte. Ich bin ja ohnehin ausschließlich mit dem Schach beschäftigt, da muss ich nicht auch noch selber ans Turnierbrett. Ich spiele hin und wieder bestimmte Stellungen gegen meine Schüler durch, aber ich merke schnell, wie gut sie sind, da ist es besser, Trainer zu sein. Als Spieler braucht man sehr viel Energie, wenn man Partien über fünf bis sechs Stunden austrägt. Wenn ich mit Frederik Svane Trainingspartien gespielt habe, war ich nach vier Stunden ziemlich am Ende. Heute fällt es älteren Spielern immer schwerer, mit der Jugend Schritt zu halten. Früher gab es in den Turnieren noch Ruhetage oder Hängepartien, wodurch die Wettkämpfe sehr viel länger dauerten, inzwischen gibt es sogar Doppelrunden, das kommt den jungen Spielern entgegen. Ich glaube, dass die Corona-Zeit für die jungen Spieler günstiger war, weil sie immer noch im Internet spielen konnten. Für die älteren Schachprofis war die Epidemie eine totale Katastrophe, weil die ganzen Einnahmen aus den Auslandsturnieren wegfielen, was die Jüngeren besser kompensieren konnten. Früher gab es die Faust-Regel: Gegen Jungspieler früh ins Endspiel abzuwickeln [7], wo man gute Gewinnchancen hat, aber das hat sich längst geändert, was sicherlich aufs Internet und den Umgang mit Computern zurückzuführen ist.
SB: Einmal provokant gefragt: Schach gilt als weltfremd, als eine eher abstrakte Disziplin in einer materiellen Welt. Was könnte das Schach Ihrer Meinung nach den Menschen dennoch im Besonderen geben?
KM: Ja, das ist nicht völlig falsch. Ich selber bin, glaube ich, auch weltfremd. In statistischen Untersuchungen zwischen Top-Schachspielern und dem Durchschnitt der deutschen männlichen Bevölkerung hat man herausgefunden, dass Schachspieler deutlich seltener den Führerschein haben. Ich würde auch postulieren, je spielstärker, desto weltfremder. Als Hypothese ließe sich vielleicht vermuten, dass Schach spielende Frauen weniger weltfremd sind und sehr starke Schachspieler signifikant schlechter mit dem Leben klarkommen. Was das Schach den Menschen geben kann? Das ist natürlich ein ganz anderer Gesichtspunkt. Wir existieren in einer schnelllebigen Zeit, da kann Schach entschleunigen. Schach ist eine Art Meditation, dann gibt es nur noch sich selbst und die Stellung auf dem Brett. Schach gibt einem immer ein Feedback. Man gewinnt oder verliert, was im Leben sonst gar nicht einfach zu erkennen ist. Außerdem kommt logisches Denken und Abstraktionsfähigkeit hinzu, Geduld ist eine andere Disziplin. In Schulen angewandt kann es den Umgang mit eigenen Fehlern lehren und integrativ wirken. Auch ist es ganz unabhängig von der Sprache. Niemand muss den Duden auswendig können oder die Werke von Goethe gelesen haben. Man hat mit jedem Menschen sogleich eine Sprache, nämlich die Züge, das ist weltweit ein großer Vorteil.
SB: Es heißt, Schachspieler seien wortkarg. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich berichten, sobald die Partie zu Ende ist, gibt es keine Interessengruppe, die sich stärker austauscht, Varianten bespricht, überhaupt sehr gesellig ist. Wie sehen Sie das?
KM: Na gut, aber das sollte man ein bisschen einschränken. Schachspieler sprechen vor allem über Schach, in diesem Sinne sind sie nicht wortkarg. Auch das Anbinden von Freundschaften wird dadurch erleichtert.
SB: Ist es Ihnen persönlich leichter gefallen, Freundschaften zu bilden mit Schachspielern?
KM: Ja, definitiv. Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, dass Schachspieler immer zu meinen Freunden gehören, aber sehr viele sind es schon.
SB: Welche Entwicklung im Schach würde für Sie in die schlimmste Sackgasse führen?
KM: Schach über Computer bzw. Handys fördert sicherlich die Vereinsamung. Ich glaube dennoch, die meisten spielen noch immer am liebsten am Brett, um dem Gegner in die Augen sehen zu können oder dass man hinterher noch einen Kaffee zusammen trinken bzw. die Partie analysieren kann. Für mich persönlich kann ich sagen, dass nicht aus allen meinen Projekten etwas geworden ist. Trotzdem würde ich nicht unbedingt die gescheiterten Projekte als Sackgassen bezeichnen. Man muss im Leben manchmal auch scheitern und daraus die richtigen Schlüsse ziehen.
SB: In der Schachgeschichte hat es eine Zeit gegeben, in der die Sowjets immer auf dem Thron saßen. Wie ist das zu erklären?
KM: Unter anderem durch die Beeinflussung des Weltschachbundes, vor allem durch das Rematch und das Revancherecht, so dass ein Sowjetbürger, der seinen WM-Titel verlor, automatisch die Möglichkeit erhielt, erneut um die Krone spielen zu können. So wurde gewährleistet, dass mindestens ein Sowjetmeister im WM-Kampf stand, und da der Herausforderer seinerzeit auch aus der UdSSR kam, spielten über lange Phasen stets zwei Sowjetbürger um den höchsten Titel im Schach.
SB: Um diesen Erfolg in einen Begriff zu pressen, sprach man stets von der sowjetischen Schachschule, die man allerdings auch als ein Gesellschaftsprojekt auffassen könnte durch die Einbindung der Schachmeister in die Jugendförderung.
KM: Ja, ich denke auch, vor allem durch die Botwinnik-Lehrgänge [8]. Der Überbau durch die gesamte gesellschaftliche Organisation und natürlich auch die große Wertschätzung für das Schach in der Sowjetunion waren dafür prägend. Die Weltmeister waren die Helden des Landes. Zudem gab es dafür, sich für Schach zu interessieren, eine hohe Motivation, nämlich ins Ausland reisen zu dürfen, sogar ins westlich-kapitalistische Ausland, was sonst für normale Sowjetbürger so gut wie unmöglich war. Auch Andrew Soltis hat es in seinem Buch über die Sowjetische Schachschule so dargestellt und erklärt, dass diese eher auf eine Organisationsform zurückgeht. Entwickelt wurde so vor allem der Austausch von Ideen, insbesondere zwischen den Hochburgen Moskau und Leningrad. Dies hat der Sowjetunion sicher auch geholfen, nicht nur im Schach, sondern auch in den verschiedenen Wissenschaften, Großes zu entdecken. So ist Georgien immer schon stark im Frauenschach gewesen, was auch für die Ukraine gilt und die zentralasiatischen wie auch die baltischen Republiken. Die Sowjetunion war eine Supermacht im Schach. Diese Dominanz wird nie wieder kommen. Bobby Fischer hatte diesen Knoten, der sich um die Welt gelegt hatte, zerschlagen. Aber auch er bekam Ideen von anderen, mit denen er zusammenarbeitete. Doch im Wesentlichen war er ein Individualist. Der WM-Kampf Fischer gegen Boris Spassky stand im politischen Kontext des Kalten Krieges, war insofern ein Stellvertreterkrieg, aber zivilisierter ausgetragen als mit Atombomben. Diesen Umstand können die modernen Spieler nicht reproduzieren, weil die Welt jetzt nicht mehr bipolar ist.
SB: Für einen Mathematiker wie Sie besteht die Welt aus Zahlen mit dem Faktor der Unendlichkeit. Das Schach kennt zwar astronomisch viele Zugmöglichkeiten, aber das Spiel selbst ist endlich durch Matt oder Remis. Was reizt Sie als Mathematiker am Schach im Besonderen?
KM: Als Mathematiker reizt mich Schach gar nicht so sehr. Es gibt natürlich immer wieder Werke zu Schach und Mathematik. Im Schach gibt es endlich viele Stellungen, die können wir alle bewerten. So gesehen ist das Schach mathematisch schon gelöst. Aber man kann mit Schach und Mathematik natürlich vieles machen. So ist vor kurzem ein neues Buch von Christian Hesse auf Englisch erschienen über die Logicals [9]. Ich habe zu jedem der Logicals ein Schachproblem gebaut, was seinen eigenen Reiz hatte. Es gibt noch ein paar andere ganz gute Bücher rund um das Thema. Auch ein anderer Aspekt ist reizvoll: Was ist Schönheit im Schach und in der Mathematik? Gibt es überhaupt Unterschiede? Diese Frage könnte sehr interessant sein. Man kann Schach als ein Untergebiet der Mathematik ansehen. Was im Schach als Schönheit auftaucht, kann mathematisch auch bestimmt werden, aber umgekehrt muss das natürlich nicht gelten. Nicht alles, was wir in der Mathematik als schön empfinden, lässt sich im Schach abbilden, gerade für die unendlichen Schönheiten gilt dies insbesondere.
SB: Gehen Sie an eine Partie mit einem mathematischen Verständnis heran?
KM: Meine Werkzeuge sind andere, ich bin generell eher ein etwas intuitiver Typ, den manchmal die letzten Details nicht so interessieren. Wenn man mit der Unendlichkeit klarkommen will, braucht man natürlich andere Mittel. Im Schach kann man zur Not immer mit den Zügen argumentieren. Das geht in der Mathematik noch nicht, aber ich finde, dass die Künstliche Intelligenz auch in der Mathematik in bestimmten Bereichen sehr bemerkenswerte Fortschritte gemacht hat. Im Schach sind die Programme viel stärker als der beste Mensch. Na ja, ich sag mal so, im gesellschaftlichen Rahmen kann das Motiv, die KI zu entwickeln, ein anderes sein als im Schach, wo es um endliche Lösungen geht. Selbst die Programme spielen endlich viele Partien gegeneinander und untersuchen letztlich endlich viele Muster. In der Mathematik ist das nicht so einfach, weil wir unter anderem mit der Unendlichkeit zu tun haben. Wenn wir das aber mathematisch endlich abbilden können, sind auch heutige KIs mitunter schon ziemlich gut, auch auf Untergebieten der Mathematik wie zum Beispiel in der Geometrie, wo Programme Beweise selbstständig entwickeln können. Und natürlich gibt es auch Programme, wo Mensch und Computer zusammenarbeiten, um Theoreme zu beweisen wie früher im Schach die interaktive Analyse, nur dass jetzt im Schach der Mensch nicht mehr so nötig ist. In der Mathematik ist der Mensch noch ein bisschen nötig, um die Grenzen der KI zu sprengen, und so rechne ich durchaus damit, dass KI und Mathematik in vielen Lebensbereichen in den nächsten Jahren noch erhebliche Entwicklungen möglich machen werden.
SB: In dem Filmklassiker "Terminator" wird die Auseinandersetzung zwischen Mensch und Technik auf die Spitze getrieben. Wie schätzen Sie die möglichen bedrohlichen Entwicklungen heute ein?
KM: Wir können davon ausgehen, dass die Militärs diverser Staaten hierzu schon Antworten gefunden haben. In dieser Richtung wird zur Zeit viel entwickelt und geforscht. Natürlich hoffe ich, dass irgendwann der Frieden und keine Kriege das Ziel sein werden. Sicherlich wäre es vernünftiger, die KI-Forschung auf die Gebiete Medizin oder Verkehr auszudehnen. Heutzutage ist die KI nicht mehr rückgängig zu machen. In der Neurochirurgie ist sie sogar unersetzlich geworden, und dennoch würde man die KI nicht direkt operieren lassen. Da stößt die Technologie auf Grenzen. Recht selten spricht man darüber, die KI für die globale Weltkrise oder die ökologischen Nöte einzusetzen. Vielleicht kann ein Computer irgendwann ein Auto fahren oder in der Küche Handarbeiten übernehmen, vielleicht sogar bis zu 99 Prozent, aber für dieses eine Prozent wird man auf den Menschen nicht verzichten können. Der Mensch kann zweifeln, er kann sagen, hier stimmt etwas nicht, das ist wahrscheinlich evolutionsbiologisch entstanden. Diesen letzten Zweifel kann man einer KI nicht beibringen. Es sei denn, der Zweifel unterliegt irgendwelchen Mustern, die im Moment jedoch für die KI nicht greifbar sind. Aber auf allen anderen Feldern wird die KI den Menschen klar dominieren. Wie intelligent das eingesetzt wird, hängt natürlich von den Interessen der Gesellschaft und der Politik ab. Auch beim Kampf gegen den Klimawandel kann der Einsatz der KI viel bewirken. Vielleicht wird die KI irgendwann sogar Rechtsanwälte oder Richter ersetzen. Natürlich will niemand, dass eine KI ein Urteil spricht wie zum Beispiel in den USA die Todesstrafe, aber sie könnte dem Anwalt und dem Richter sehr viel Arbeit abnehmen und Recherchezeit einsparen.
SB: Gibt es angesichts der leistungsstarken Engines heutzutage noch Geheimnisse im Endspiel, die selbst ein Computer nicht lüften kann?
KM: Die modernen Engines sind wirklich so gut, dass man sich praktisch auf sie verlassen kann. Es gibt noch ganz wenige festungsartige Konfigurationen, wo sie nicht rankommen. Frederic Friedel hatte Endspiel-Rätsel auf der ChessBase-Webseite während der Corona-Zeit eingeführt. Das ist auch sehr gut angekommen. 2020 habe ich noch sehr viele Analyseduelle ausgefochten, aber schon seit einem Jahr ist nichts Neues mehr gekommen, was zeigt, dass die Engines einfach zu stark geworden sind. Und selbst die Musterlösungen basieren in der Regel auf dem Einsatz starker Engines mit einem gewissen menschlichen Input. Die Engines haben tatsächlich einen Quantensprung vollzogen. Sicher, es gibt noch Restzweifel bei den Festungen [2], wo sie sich verstolpern. Die alten Engines, die im Wesentlichen aus einer Materialbewertung und einer Alpha-Beta-Vorwärtssuche bestanden, sind natürlich an allen Festungen gescheitert, aber die neue Stockfish-Generation hat es irgendwie geschafft, die Festungsmuster zu verstehen. Jetzt müsste man schon tief in die Trickkiste greifen bei Festungen, die eben nicht auf triviale Weise gebrochen werden können, wo man erst vielfältig herummanövrieren muss. Das ist für die heutigen Engines immer noch zu schwierig.
SB: Welche Endspielstellung auf menschlichen Turnieren der letzten Jahre hat Sie regelrecht verblüfft und in Erstaunen versetzt?
KM: Die Endspielstellung von Alexei Shirov aus dem Turnier in München 1993 gegen Joel Lautier ist immer noch mein absoluter Favorit. Das wird wahrscheinlich auch mein Leben lang so bleiben, weil ich einen persönlichen Bezug zu der ganzen Geschichte habe als Sekundant von Shirov, was mit einer Hängepartieanalyse begann. Ansonsten war das Endspiel Carlsen gegen Wesley so hochinteressant, wo er auf C4 und C3 Doppelbauern hatte und dennoch einen Sieg herausspielen konnte. Dazu war eine längerfristige Strategie nötig, um zu beweisen, dass der Doppelbauer gar nicht schwach ist.
Der Siegeszug
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SB: Woran liegt es, dass ein rechenstarker Computer gegen ein anderes Programm verliert?
KM: Man lässt Computer oder Programme gegeneinander spielen oder aber AlphaZero spielt gegen sich selber. Anfangs kennt AlphaZero nur die Regeln und macht irgendwelche Zufallszüge. Da ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass er verliert. AlphaZero hat gar keinen Programmierer. Das System lernt Schach, indem es nur gegen sich selber spielt. Auch Kasparow hat anfangs nur die Regeln gelernt und ist nachher zum Weltmeister geworden, nur dass ein Mensch nicht so gut gegen sich selber spielen kann wie die Computer. Das Schachlernen der neuronalen Netze wie AlphaZero und die Mustererkennung des menschlichen Gehirns und die Vernetzung der menschlichen Neuronen können sich ähnlich sein. AlphaZero hat keine Eröffnungsbibliothek. Dann hat man ihn acht Stunden lang gegen sich selber spielen lassen und danach war er besser als der beste Schachmeister. Und nicht nur das, er war außerdem besser als das beste Computerprogramm.
SB: Gilt das immer noch?
KM: Nein, das galt bis vor zehn Jahren. Jetzt muss es gegen die anderen neuronalen Netzwerke antreten. Das macht die Sache härter. Jetzt würden acht Stunden nicht mehr reichen, jetzt müsste es vielleicht acht Jahre laufen. Die neuronalen Netzwerke waren eine Revolution für sich und befeuern inzwischen die ganze KI-Entwicklung, weil sie näher am menschlichen Gehirn dran sind. Aber man kann es nicht beweisen. Der Beweis ist, dass es funktioniert. Und deswegen hat früher die KI mit den eigenen Computerarchitekturen nie funktioniert.
SB: In den neunziger Jahren gab es im Schach verschiedene Anti-Computer-Strategien, die vielversprechend waren.
KM: Ja, das war in einem gewissen Zeitfenster möglich, weil die Alpha-Beta-Engines bestimmte systematische Schwächen hatten. Man konnte bestimmte gedeckte Königsangriffe unternehmen in geschlossenen Stellungen, nichts tauschen, den Gegner möglichst lange im Unsicheren lassen, alles für einen Mattangriff mobilisieren und dann losschlagen, wenn man voll mobilisiert war. Das ist schon seit vielen Jahren nicht mehr möglich. Die Computer sind einfach besser geworden. Die neuronalen Netze würden schnell lernen, was vorgeht, oder begreifen, warum ihre Kollegen verloren haben. Warum das so ist, weiß keiner. Da gibt es irgendwelche Dateien, die kein Mensch je verstanden hat, weil er die Muster nicht computerverständlich übersetzen kann.
SB: Vielen Dank für dieses interessante Gespräch.
Anmerkungen:
[1] Unter Engines wird eine Computersoftware verstanden, die in einer Schachposition die optimalen Züge berechnet.
[2] Festungen entstehen im Endspiel, wenn ein Spieler seine unterlegenen Kräfte hinter einem Verteidigungsring verschanzt, der nur sehr schwer oder gar nicht zu durchbrechen ist, um ein Remis zu halten.
[3] Frederic Friedel ist ein Wissenschaftsjournalist speziell für Computerschach.
[4] FIDE - Fédération Internationale des Échecs: zu deutsch Internationaler Schachverband oder Weltschachverband.
[5] Das Elo-System ist eine Rangliste im Weltschach, bei der die Platzierung und damit die Spielstärke von den Punkten abhängt, die ein Meister auf internationalen Turnieren erringt oder im Negativfall verliert und so seine Bewertung im Ranking sinkt.
[6] Chess960, auch Schach960 oder FischerRandom, ist eine von Bobby Fischer entwickelte Freestyle-Spielvariante mit 960 unterschiedlichen Ausgangsstellungen.
[7] Als Abwicklung ins Endspiel wird die Strategie bezeichnet, gezielt Figuren zu tauschen, um eine günstige Endspielposition zu erreichen.
[8] Michail Botwinnik war sowjetischer Weltmeister und gab Lehrgänge für Schachtalente.
[9] Im Schach werden unter Logicals mathematisch oder logisch durchaus anspruchsvolle Rätsel verstanden.
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 183 vom 5. Juli 2025
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