Stefan Gottuk
Instruktive Schachendspiele aus der Praxis
Die Entscheidung fällt nach dem 40. Zug
Die Fülle an Werken über das Endspiel ist in der Fachliteratur Legion und läßt Verkaufsregale regelrecht unter ihrem Gewicht aufächzen. Das Spektrum der Anwendungen, Lösungsansätze und kapriziösen Pointen in einem einzelnen Buch erschöpfend aufzugliedern und einem Jünger der Schachkunst didaktisch näherzubringen, ist eine Aufgabe mit tausend Fäden. Anders als beim Mattangriff im Mittelspiel läuft das Endspiel über viele Etappen, und auf die Feinheiten kommt es im Besonderen an, bis ein schlußendliches Ergebnis vorliegt. Das erfordert Feingefühl von jedem Autor, der sich darin versucht, die Spreu vom Weizen zu trennen und die wesentlichen Kernpunkte als Lerninhalte in ein Buchformat zu bannen.
So wie die Seite des Vorteils bestrebt ist, ebendiese Vorzüge zu verstärken und dynamisch auszubauen, hat die unterlegene Seite mit dem Bemühen zu ringen, ihre stellungsgemäßen Verteidigungspotentiale im Spiel zu halten und die Pfade ins Remis zielgenau zu verfolgen. Und anders als der Angreifer, der notfalls in ein Remis einwilligen könnte, hat der Verteidiger keine andere Option, als die besten Züge im Abwehrkampf zu finden, um seine schwierige Position ans rettende Ufer zu bringen.
Am Brett sind Intuition und Plan ausschlaggebende Elemente, der Vorteil allein macht noch keinen Sieg aus. Wer schließlich gewinnt oder das Remis hält, muß sich in der Regel komplexer Manöver bedienen. Ein Lehrbuch, das diesen Namen verdient, sollte die dazu notwendigen Schrittfolgen systematisch, plausibel und nachweislich aufzeigen. Und sicher ist: Es gibt mehr zu lernen als simple Verkehrsregeln. Dafür ist die Endspielkunst enzyklopädisch zu weit verzweigt.
"Instruktive Schachendspiele aus der Praxis" von Stefan Gottuk nimmt sich dieses Anspruchs gewissenhaft an und verwirklicht ihn mit Bravour. So wird anhand theoretisch bedeutsamer Fallbeispiele aus der Meisterpraxis, ohne dabei auf Streifzüge in den Amateurbereich zu verzichten, ein fundiertes Wissen zu Struktur und Dynamik verwickelter Endspielpositionen geboten. Hinzu kommt, dass die diversen Materialverhältnisse von Bauern, Leicht- und Schwerfiguren jeweils gesondert betrachtet werden und, zu Prinzipien kompromiert, einen Leitfaden hergeben, der es auch einem weniger geübten Leser ermöglicht, sich im Dickicht der Schwierigkeiten zurechtzufinden.
Dabei wurde auch nicht vergessen, dass die Verlaufsformen in dieser letzten Partiephase oft wechseln und neue dynamische Stellungsbilder entstehen, die ein modifiziertes bis stark abgewandeltes Vorgehen erfordern. So bleibt das Ergebnis im Endspiel solange offen, bis der letzte Zug getan ist. Die Bezeichnung Endspiel drückt, wie es schon im Untertitel heißt, aus, dass mit vermindertem Material gespielt wird und taktische mehr noch als strategische Motive den Ton angeben.
Verteidigungsanstrengungen konkurrieren immer mit den gegnerischen Gewinnpotentialen. Dieser Kampf gestaltet sich zuweilen stolperig und folgt nicht immer der stringenten Linie. So darf man denn auch den Blick über die Linse auf die Fehlversuche, die einen Sieg verschenken oder ein Remis aus der Hand geben, im Rahmen eines Lehrbuches über Endspiele nicht unberücksichtigt lassen. Auf dem Weg zur Meisterschaft oder zu einem besseren Vereinsspieler ist das Lernen aus Fehlern und Falscheinschätzungen oftmals sogar verdienstvoller als das Präsentieren eines klaren Gewinnweges. Elementare Siegesmanöver passen von der Zahl her auf eine Insel, doch die Menge gescheiterter Versuche bevölkert einen ganzen Kontinent. Wer lernen will, muß seinen Fehlern begegnen und diese in einem laufenden Prozess je nach Erkenntnisgrad korrigieren. Wer etwas auswendig lernen will, ist nie gestürzt. Ein Lehrbuch zum Endspiel ist im Grunde nichts anderes als ebendiese kompromisslose Reise entlang der Abgründe des Irrtums.
Gottuk hat in seinem Werk neben dem Hauptanliegen zur Darstellung wertvoller Endspielkenntnisse nicht darauf verzichtet, den Leser mit mehr als hundert Übungs- und Testaufgaben zu konfrontieren, die die einzelnen Kapitel begleiten, und ihn so zum Selbststudium zu animieren, ohne das niemand auskommt. Das jeweils Erlernte sogleich in der eigenen Praxis zu überprüfen, rundet das Bild nicht nur ab, es verhilft vielmehr zu den ersten Schritten auf diesem schwierigen Terrain.
Endspiele mit Bauern, Springern, Läufern und Türmen folgen unterschiedlichen Motiven und sind ebenso unverzichtbar wie die Kenntnis von Ablenkung und Zwischenschach. Eingedenk dessen, dass das Endspiel nicht selten den herausfordernsten Teil einer Schachpartie ausmacht, hat der Autor und FIDE-Meister und seit 1994 Träger der B-Trainer-Lizenz des Deutschen Schachbundes (DSB) ein Werk geschaffen, dass dem Leser einen hilfreichen Kompass zur Richtungsbestimmung an die Hand gibt.
Dies gilt um so mehr, als der weltweit anerkannte Endspielexperte Dr. Karsten Müller bei der Gestaltung des Buches und der Analyse der Stellungsproblematiken mit Rat und Tat zur Seite stand. Auf die mögliche Frage, warum ein weiteres Endspielbuch so dringend nötig gewesen sei, antwortet Müller im Geleitwort, dass es zwar etliche Bücher zur Endspieltheorie gäbe, wo vor allem die Grundlagen zu Bauern- und Turmendspielen in voller Breite erfasst sind, die jeder Turnierspieler kennen muss, dass in dem Buch von Gottuk jedoch ausgewählte Beispiele aus der aktuellen Turnierpraxis vorgestellt werden, "die eine Vielzahl lehrreicher Aspekte beinhalten" (S. 9).
Empfehlenswert ist zudem, dass die charakteristischen Motive zu den einzelnen Endspieltypen am Ende des Buches in einem gesonderten Motivverzeichnis versammelt sind, was dem Leser die Suche leicht macht und einem Trainer einen Orientierungsfaden in die Hand gibt, um Lerninhalte besser zusammenstellen zu können. Davon, dass Müller und Gottuk schon sehr lange befreundet sind - beide spielten eine Zeitlang für den SC Diogenes -, und sich auch später "regelrechte Analyseduelle" (S. 9) geliefert haben, profitiert der Leser also in doppelter Hinsicht.
Gestaltung und Gliederung der Kapitel folgen denn auch weniger den Ansprüchen an ein rein akademisches Lehrwerk, es empfiehlt sich vielmehr als ein zur Anregung verfasstes Arbeitsbuch, eines, das gelesen und studiert werden und nicht Staub auffangen will im hintersten Regal. Was dem Buch seinen unverkennbar eigenen Charakter gibt, ist die Aneinanderreihung von strikter Partieanalyse und eingestreuten Exkursen zu Neben- und Untervarianten, die das Lesen zwar etwas erschweren, dafür jedoch in ihrer Umfänglichkeit ein Bild auf das ganze Geschehen werfen.
Zugrunde liegt den Exkursen die in der Endspielliteratur eher selten anzutreffende Idee, in kritischer Stellung ein spezielles Manöver separat und weitreichend zu analysieren und die Konsequenzen daraus wieder auf die gespielte Brettpartie zurückzuschließen. Man versteht so, warum gewisse Züge am Brett verworfen wurden, mag ihre Beurteilung nun richtig oder falsch gewesen sein. Auf jeden Fall erhält man darüber eine größere Klarsicht auf die Umstände und Auswahlprozesse, die den jeweiligen Spieler dazu bewogen, einen bestimmten Zug zu präferieren. Allein von der nackten Notation ist dies nicht zu leisten. So entsteht ein spannendes Wechselspiel zwischen dem, was auf dem Brett geschah, und den Weiten gedanklicher Konzeptionen, die jede Partie begleiten. So mancher Zug, der im Ausschlußverfahren als fehlerhaft aussortiert wurde, wird in seinem eigentlichen Wert erst nachträglich erkannt.
Darüber hinaus besticht die sprachliche Kompetenz, mit der Gottuk die einzelnen Endspieletappen und kritischen Momente aufs nachvollziehbarste darstellt und so Sachverhalte aufklärt, die einem analytisch-mathematischen Verstand auch ohne allzu textliche Begleitung leicht eingehen, einem Wortliebhaber jedoch für ein Begreifen nicht unbedingt ausreichen. Gerade der Verzicht auf den schrillen Mißton einer Schulmeisterei und die Versessenheit auf schnöde heruntergebrochene Faktengewalt macht hier das Lesevergnügen aus.
Dass die einzelnen Kapitel mit einer thematischen Einleitung versehen sind und auch jeder Beispielpartie ein kurzer Geleittext mit den wichtigsten verhandelten Motiven wie beispielsweise Festungsbau, Abzugsschach, Zugzwang oder Freibauer vorangestellt wird, erhöht die Aufmerksamkeit und fokussiert den Blick auf die prägenden Etappen des Kampfes. Auch ein Fazit am Ende einer Analysepartie schärft das Verständnis beim Leser für die Wendepunkte und verpaßten Chancen, den Sturz einer eigentlich remiszertifizierten Stellung in die Niederlage und die hohe Bedeutung eines Eckfeldes für den Ausgang der Partie.
In all diese Abenteuer und Entdeckungen eingeführt zu werden, wäre für sich genommen schon ein großer Zugewinn und ist doch nur der Schatten der in diesem Buch praxis- und greifnah vermittelten Lerneffekte. Wer auf dem Parkett der Endspiele trittsicherer werden möchte, sollte an diesem Buch nicht achtlos vorbeigehen.
29. Mai 2023
Stefan Gottuk
Instruktive Schachendspiele aus der Praxis
Die Entscheidung fällt nach dem 40. Zug
Joachim Beyer Verlag 2023
357 Seiten, 29,80 EUR
ISBN 978-3-95920-161-2
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 179 vom 22. Juli 2023
Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang