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REZENSION/021: Müller, Engel, Rafiee - Spielertypen. Das Testbuch (SB)


Karsten Müller / Luis Engel / Makan Rafiee


Spielertypen

Das Testbuch





Buchcover: © Spielertypen.Das Testbuch - by © Joachim Beyer Verlag

Buchcover: © by Joachim Beyer Verlag


Als der Hamburger Endspielexperte Karsten Müller zusammen mit seinem Großmeisterkollegen Luis Engel das Buch "Spielertypen - Das Testbuch" verfaßte, lag die Betonung auf der strikten Unterscheidung der Charakteristika von Aktivspieler, Reflektor, Pragmatiker und Theoretiker. Das hatte durchaus Sinn und war logisch begründet. Es galt, das vom Dänen Lars Bo Hansen aufgeworfene und im angelsächischen Raum verbreitete Modell der vier Spielertypen auch einer deutschsprachigen Leserschaft näherzubringen. Entlehnt war diese Konzeption der Wirtschaftspädagogik, wo es darum ging, geeignete Fachkräfte für Betriebe und Firmen, in der Forschung als auch beim Bankwesen zu finden und den Kreis der Kandidaten für eine Anwerberschaft einzugrenzen.

Auf die Schachkunst übertragen hieß dies, die beiden Hauptachsen, logisch-intuitive Denkweise und stilistische Präferenz, aussagekräftig zu bestimmen und über einen bloßen Entwurf hinaus praxisrelevant einzuordnen. Dieses Erstlingswerk zum Thema aus der Feder von Müller und Engel erregte eine breite Aufmerksamkeit, anerkennende Zustimmung zur Arbeit, aber auch Zweifel und Skepsis auf Seiten der Kritiker.

Ließ sich ein Profi-Schachmeister überhaupt mittels eines methodischen Unterscheidungssystems in eindeutige Kategorien des Denkens fassen, ohne dabei wesentliche Gesichtspunkte wie die Wahl der Eröffnung/Verteidigung, die Tagesform oder den psycho-sozialen Hintergrund ins unberücksichtigte Dunkel zu verdrängen. Mitunter reicht ein Staubkorn, um den Blick zu trüben. Beispielhaft gefragt: Warum sollte Garri Kasparow als eingestufter Aktivspieler nicht in der Lage sein, strategische Stellungsprobleme zuweilen wie ein Reflektor zu behandeln?

Möglicherweise beschlichen die Autoren nach Erscheinen des Buches Bedenken hinsichtlich des Werts ihrer Ausarbeitung, Bedenken, die mit der Zeit anwuchsen und schließlich zur Entscheidung reiften, ein Nachfolgewerk unter dem Titel "Spielertypen - Das Testbuch" zu veröffentlichen. Das Modell der Spielertypen wurde nicht grundsätzlich in Frage gestellt, es lassen sich immer Hauptmerkmale im Spiel der Meister finden, die eine über Praxis und Stil hinausgehende Klassifizierung zulassen.

Im zweiten Band werden die Fragen allerdings weiterentwickelt in dem Sinne, dass der Leser selbst ins Szenario einbezogen wird. Anhand gezielter Testaufgaben samt Lösungsteil hat der Leser die Möglichkeit, seinen eigenen Stil zu hinterfragen. Auf den ersten Seiten werden taktische Fragen vorangestellt, in denen der Leser der Praxis entnommene Positionen zu lösen hat, die ihm nebenbei das Modell der Spielertypen eingehender verständlich machen. Fragen in der Art: "Wie kann Schwarz im Gegenangriff gewinnen?" oder "Wie hält Weiß remis?" ermitteln den Grad der Lösungsbefähigung beim Leser. Der nachfolgende Lösungsteil geht erfreulicherweise in die Tiefe, ohne ins Ausufernde zu geraten. Die wichtigsten Etappen der Gewinnführung bzw. der Verankerung des Remis sind ebenso anschaulich dargestellt wie die Fehlschlüsse auf komplexem Terrain.

Interessant ist vor allem Kapitel 6 mit Testfragen, die der Bestimmung des eigenen Spielertyps dienen. Hier muß der Leser zwei mal zwanzig Stellungsdiagramme analysieren und eine Antwort aus einer Anzahl von Vorschlägen ankreuzen. Er bekommt es mit einem Potpourri aller vier Spielertypen zu tun, freilich nur versehen mit "Weiß am Zuge" bzw. "Schwarz am Zuge". Bewusst wurde darauf verzichtet, die Namen der Akteure zu verraten, um jede Einflußnahme bzw. Voreingenommenheit auszuschließen. Der Leser ist explizit auf sich allein gestellt und muß am kritischen Siedepunkt entscheiden, ob er zum Beispiel erstens 'Ich spiele 1.Sd2, um den Springer über b3 nach c5 zu manövrieren' oder zweitens 'Ich spiele 1.h4, um den Königsflügel unter Druck zu setzen' wählt. Je nach Antwort erhält man jeweils Punkte, zum Beispiel AP für Aktivspieler oder TP für Theoretiker. Summiert man am Ende alle Punkte zusammen, ergibt sich als Ergebnis, welchem Spielertyp man mehr zugeneigt ist und welchem weniger.

Welchen Nutzen hat solch eine individuelle Auswertung, könnte man mit einem Stirnrunzeln einwenden. Sie ist insofern hilfreich, als der Leser seine eigene Spielauffassung besser verstehen lernt. Trifft er seine Entscheidungen am Brett eher intuitiv und wie schätzt er sein Gespür für Harmonie und Koordination ein? Einblicke in seine Stärken zu gewinnen ist gleichermaßen nützlich wie das Aufdecken von Schwächen unverzichtbar ist. Natürlich erhält man so nur eine grobe Richtschnur, die es einem dennoch ermöglicht, sein eigenes Trainingsprogramm entsprechend anzupassen. Im Vorwort von Vincent Keymer heißt es dazu: "So wird die Weiterentwicklung der eigenen Spielerpersönlichkeit zu einem universellen Spieler, der alle Spielertypen in sich vereinigt, vielleicht eine Utopie bleiben, allerdings eine, die zu verfolgen sich lohnt." (S. 6)

Auch in Turniersituationen vor der nächsten Partie kann es sich als wertvoll erweisen, die eingeschätzten Stärken und Schwächen des anderen, wie zielführend auch immer, mit in die Kalkulation aufzunehmen. Als gelungenes Beispiel dafür wird Wladimir Kramnik genannt, der bei seinem WM-Kampf in London 2000 dem Titelverteidiger Kasparow jede Möglichkeit nahm, Stellungen anzustreben, in denen er auf Angriff und Initiative gehen konnte. Es muß nicht extra erwähnt werden, dass Kramnik bei seinem sensationellen Sieg mehr finden musste als den richtigen Dreh. Ein Aktivspieler gewinnt nicht pro forma gegen einen Theoretiker und ein Reflektor hält nicht alle Trümpfe in seiner Hand gegen einen Pragmatiker.

Wer Spielercharaktere allzu prototypisch darstellt, läuft indes Gefahr, das Schachspiel zu einer formellen Mathematik herunterzubrechen. Man darf allerdings nicht vergessen, dass ein Spielertypus, wie sehr er auch an den Rändern mit Unterscheidungen operiert, letztlich eine statische Größe wiedergibt, nicht mehr. So heißt es in der Einleitung nicht zufällig und richtigerweise, dass die Beschäftigung mit dem Buch und seiner didaktischen Struktur das vornehmste Ziel hat, dass der Leser erkennt, "wie die eigenen Fähigkeiten verteilt sind" (S. 8). Es gibt viele verschiedene Zugänge und Stile zum Schachspiel. Jeder Amateur und Profi wählt dabei einen individuellen Weg und doch ist der humanistische Anspruch der Universalität immer stets gewährleistet.

Aus diesen und vielen anderen Gründen hat sich der Rezensent tatsächlich in dieses Buch verliebt. Neben all den wissenswerten Anregungen und Denkansätzen hat ihn vor allen Dingen überzeugt, dass hier ein aus der antiken Philosophie stammender Ausspruch - Erkenne dich selbst - eine ins Schachspiel übersetzbare Anwendung findet.

30. Oktober 2023


Karsten Müller / Luis Engel / Makan Rafiee
Spielertypen
Das Testbuch
Joachim Beyer Verlag 2022
209 Seiten
ISBN 978-3-95920-174-2


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 180 vom 4. November 2023


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