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REZENSION/023: Karsten Müller - Angriff. Faustregeln für die Praxis (SB)


Karsten Müller


Angriff

Faustregeln für die Praxis





Buchcover: Angriff. Faustregeln für die Praxis - © by Joachim Beyer Verlag

Buchcover: © by Joachim Beyer Verlag


Dass ein ausgewiesener Endspielexperte ein Fachbuch zum Angriffsspiel verfasst, ein Thema übrigens, das in der Schachliteratur nicht nur gängig und geläufig und seit mehr als hundert Jahren geradezu überbevölkert ist, kann nur im ersten Moment überraschen. Karsten Müller hat sich in seiner langen Turnierpraxis auch als Autor überaus hochgeschätzter Lehrbücher mit den Angriffsmechanismen im Schachspiel auf hohem Niveau konfrontiert. Vor das Endspiel haben die Götter bekanntlich das Mittelspiel gesetzt. Beides gehört zusammen, obschon die jeweiligen Strategien wechseln und die kombinatorischen Schwerpunkte ein anderes Gesicht bekommen.

Es bedarf der Erwähnung nicht, dass jeder Amateur davon träumt, einmal im Leben eine schillernde Tal-Partie mit Krach und Opferreigen zu spielen. Solche Siege fallen jedoch nicht vom Himmel. So gesehen ist es unverzichtbar für den weiteren Verlauf im Turnierbetrieb, sich mit den taktischen Grundlagen näher zu beschäftigen und sich vor allem Blick und Gespür für typische Angriffsstrukturen anzueignen. Der Autor hat aus der Fülle des Angebots nicht allein des großmeisterlichen Reservoirs geeignete Beispiele für wichtige Motivlagen und Lenkmechanismen herausgesucht und diese so kompakt wie möglich und dem Stoffe angemessen in ein Lehrbuch zum Thema verpackt.

Der Leser lernt, dass die Situation auf dem Brett mit ungleichfarbigen Läufern in erster Linie den Angreifer begünstigt, dass der Spieler mit Initiative auf den Abtausch von Material eher verzichten sollte, dass der Druck auf einen schwachen Felderkomplex zum Dreh- und Angelpunkt werden kann. So bedeutend die Kenntnis von Zentralisierung und Linienöffnung auch ist, so darf gleichzeitig nicht vergessen werden, dass Regeln ohne Ausnahmen nicht auskommen. Eine verwickelte Stellung mag den Funken zum Sieg in sich bergen, der Zeitpunkt zum Losschlagen gründet sich gleichwohl auf genaue Berechnung und nicht auf ein lapidares Gefühl.

Wer zu früh angreift, verrennt sich und läuft im schlimmsten Falle in einen Konter des Gegners. Manchmal ist die persönliche Entscheidung zum Angriff eine Gratwanderung zwischen Intuition und banaler Fehleinschätzung. Sich vor dem Turnierstart oder einer freundschaftlichen Partie ohne wettkampforientierte Ambitionen mit den verschiedenen Optionen und Voraussetzungen in der Angriffskunst vertraut zu machen, spiegelt den ganzen didaktischen Impetus in diesem Buch wider. Schach wird eben nicht mit Würfeln gespielt.

Den gegnerischen König in Schach zu setzen oder auf Materialgewinn auszugehen, macht nur Sinn, wenn das Hauptziel des Angreifers nicht aus dem Blick gerät. Daher sind Zugfolgen zu wählen, welche die Anzahl der Steine in einem Angriffsunternehmen erhöhen. Übereilung kommt vor dem Stolpern und Sturz. Karsten Müller hat es sehr gut verstanden, im Vorfeld einer Themenbehandlung zunächst einige Beispiele aus der Großmeisterpraxis zu präsentieren, gewissermaßen zum Warmlaufen und zur Einstimmung, um sodann Testaufgaben anzuschließen, die mit "Weiß am Zuge" bzw. "Schwarz am Zuge" vermerkt sind. Hier gilt es, das Auge zu schulen und den Verstand in der Berechnung der Züge herauszufordern. Im Lösungsteil kann der Leser dann seine individuellen Ergebnisse auf ihre Echtheit hin überprüfen.

Der Bauernhebel, das Springer- und das Läuferopfer, überhaupt die Öffnung von Angriffsstraßen als auch das Erkennen typischer Angriffsmotive aus der älteren und jüngeren Turnierpraxis gehören ebenfalls zum Lehrprogramm wie das Grundreihenmatt und die Stärken und Schwächen des Isolanis. Im Kapitel 8 widmet sich der Autor ausschließlich dem Kombinationsgenie von Michael Tal. Vorgestellt werden ganze Partien, von Karsten Müller exakt analysiert und auf den aktuellen Stand gebracht. Aufgaben zum Thema Tals magische Angriffe sind nicht leicht zu lösen, es kostet Schweiß, um zur Quintessenz vorzustoßen, indes wird der Leser für seine Mühe hinreichend entlohnt.

Im folgenden Kapitel, wie sollte es anders sein, kommt der Autor auf die Mattangriffe im Endspiel zu sprechen. In diesem späten Abschnitt der Partie bekommt der eigene König einen enormen Machtzuwachs. Der Eckensteher im Mittelspiel wandelt sich zu einer höchstaktiven Figur. Weniger bekannt ist die sogenannte 4. Partiephase, die entsteht, wenn beide Seiten eine neue Dame erlangen. Warum dann das erste Schachgebot gewinnt, wird von Karsten Müller anschaulich dargestellt.

Das Schlußkapitel steht ganz im Zeichen der Turniererfahrungen des Autors selbst. Dieser kulinarische Nachtisch wird für den Leser ein besonderer Leckerbissen sein. Aus eigenen Partien läßt sich das Brettgeschehen ohne übliches rhetorisches Brimborium wesentlich exakter und präziser schildern, weil der Autor Spieler und Zeuge zugleich war. Die Kurzpartie gegen Wolfgang Uhlmann aus der Österreichischen Staatsliga 2001 ist schon deshalb reizvoll, weil der Seniormeister hier ausgerechnet über seine geliebte Französische Verteidigung stolperte.

Die letzte Seite ist gelesen und die Hirnleistung auf ihre Kosten gekommen, an ein Innehalten ist jedoch nicht zu denken. Die Motive und Konstellationen des Angriffs schwirren im Kopf herum, die Zeit bis zur nächsten Partie kommt einem verdammt lang vor. Ein besseres und auch verdienstvolleres Lob an die Adresse des Autors läßt sich kaum ausmalen. Karsten Müller hätte dem Leser, dem Verlag und der Buchtradition im Schach kein schöneres Geschenk machen können.

30. Oktober 2023


Karsten Müller
Angriff
Faustregeln für die Praxis
Joachim Beyer Verlag 2023
142 Seiten
ISBN 978-3-95920-182-7


veröffentlicht in der Online Ausgabe des Schattenblick vom 4. November 2023


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