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REZENSION/025: Karsten Müller - Typisch Damengambit (SB)


Karsten Müller


Typisch Damengambit

Abtauschvariante - Effektives Mittelspieltraining




Buchcover: Typisch Damengambit - © by Joachim Beyer Verlag

Buchcover: © by Joachim Beyer Verlag

So scheint es sich zu gehören: Man schlägt ein Eröffnungsbuch auf und erwartet wie selbstverständlich, dass die wichtigsten Abspiele dieses Systems tief und gründlich erläutert werden und eine sachkundige Expertise geliefert wird. Von diesem Anrecht auf Routine weicht Karsten Müller in seinem Werk "Typisch Damengambit", wo er sich explizit mit der Abtauschvariante beschäftigt, kurioserweise aus. Bekannt in den Turnierhallen wurde sie wegen ihrer hohen Remisbreite und weil sie die Möglichkeiten für Weiß zulässt, dennoch auf Sieg zu spielen.

Müller beginnt, etwas überraschend, mit speziellen Aufgaben aus dem Fundus dieser Variante, 120 an der Zahl, ehe er ein Wörtchen über die in diesem Komplex prototypische "Karlsbader Struktur" verliert. Der Leser runzelt die Stirn und fragt sich: Was ist mit der Einführung in diese konkrete Eröffnungsvariante, warum bekomme ich nicht erklärt, welche Mittelspielstrategie hinter dem weißen bzw. schwarzen Konzept steht? Und überhaupt: Ist der Minoritätsangriff nicht nahezu verpflichtend für die Abtauschvariante im Damengambit?

Und der Autor nimmt eine weitere Neuerung in sein Werk auf. Im Lösungsteil widmet er sich dieser Variante von der Pike auf, vor allem beschäftigt ihn allerdings die dahinterstehende Strategie. Wie lässt sich ein probater Angriff mit Weiß aufbauen und auf dem Brett umsetzen? Wie können Verteidigungsblockaden und initiative Gegenangriffe im Keim erstickt werden?

Müller geht sehr gewissenhaft vor, indem er in den Kern dieser Strategie vorstößt, mit starken Zügen nicht spart und auch Nebenlösungen zu untersuchen nicht vergisst. So entsteht das Bild einer Partie, die planvoll voranschreitet. Die Strategie geht immer aus der Eröffnung hervor, ansonsten gerät sie ins Groteske, neigt zu fehlerhaften Zügen und entkräfteten Kombinationen.

Schon die erste Partie zwischen Anastasian und Grabliauskas vermittelt den Eindruck einer zielgenauen Orientierung auf die strategischen Ziele. Die Partieanalyse endet in einer Spiegelung auf die jeweiligen Möglichkeiten beider Seiten. Der Hamburger Großmeister setzt die innewohnende Idee in seinem Werk Partie für Partie fort und entblättert dabei das große Reservoir taktischer und strategischer Inhalte.

Mal sind es Stellungen an der Schwelle zu endspieltypischen Fragestellungen, mal werden Mittelspielkomplexe bis aufs Skelett untersucht. Renommierte Großmeisterpartien kommen ebenso zu Wort wie Eleven der Schachkunst an den Anfängen ihrer Karriere wie der erst achtjährige Guseinov in seiner Begegnung mit Oihovik. Wie im Nebenflug werden die Fallstricke und Gruben dieser Eröffnung ans Licht gebracht. Der Leser lernt von Anbeginn, dass es auf Feinheiten ankommt und strukturelle Besonderheiten ihr eigenes Gesetz schreiben.

Die Analyse erstreckt sich bis in die 2000er Jahre, verzichtet aber auch nicht auf Partien aus den 1990ern. Das jüngste Fallbeispiel datiert aus dem Jahre 2018. Ein gewisser Makel besteht wohl darin, dass die reine Eröffnungsphase bestenfalls bestreift wird. Nun, eben darin besteht Müllers Anliegen nicht. Ihm ging es im Wesentlichen darum, die Elemente der Strategie unters Mikroskop zu ziehen und so einem Leserpublikum zugänglich zu machen. Unüblich für den großen Endspielexperten, erhält die Schlussphase der Partie aus diesem Grunde nur einen geringen Raum.

Bewertet man das Buch aus der Perspektive der Spielstrategien, so erweisen sich die Kunstgriffe des Autors als vortrefflich. Ein Büffeln der Haupt- und Nebenvarianten entfällt völlig. Der Leser wird in den Stand versetzt, sich auf den Autobahnen und Landstraßen der Abtauschvariante zurechtzufinden, weil er mehr lernt, als sein Gedächtnis zu schulen.

Der von Müller empfohlene Ansatz geht neue und originelle Wege des Erlernens, die weiter greifen, als es für ein Eröffnungsbuch oder Lehrwerk typisch ist. Müller strebt vielmehr einen umfangreichen Erkenntnisgewinn an. Überhaupt sind abweichende Vermittlungswege in der Fachliteratur eher eine Seltenheit. Hier hat sich der Autor selbst überflügelt und möglicherweise für seine Kollegen ein weites Feld aufgetan, um künftig Wissen anders, aber nicht weniger lohnenswert weiterzugeben.

Der Untertitel des Buchs "Effektives Mittelspieltraining" drückt die Quintessenz des Vorhabens aus. Die Eröffnung war und ist immer schon das angeratene Mittel zur Aneignung strategischer Richtlinien gewesen. Zebrastreifen sind für die Grundschule unerlässlich. Mit der wachsenden Reife überquert man die Fahrbahn mit der Übersicht eines Menschen, der sich etwas zutraut. So ist das Buch ans Herz jener gelegt, die tatsächlich aus einem Fachwerk lernen wollen, statt nur das Alphabet zu verinnerlichen.

5. Juni 2024


Karsten Müller
Typisch Damengambit
Abtauschvariante - Effektives Mittelspieltraining
Joachim Beyer Verlag 2023
178 Seiten, 22,80 EUR
ISBN 978-3-95920-196-4


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 181 vom 29. Juni 2024


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