Matthias Aumüller
Das Schachspiel in der europäischen Literatur
Von den Anfängen bis zu den großen Schach-Poemen der Frühen Neuzeit
Buchcover: © by Joachim Beyer Verlag
Literatur kann ohne Kunst auskommen, aber die Kunst bedarf des Schrifttums, will sie ihr verstecktes Kämmerchen verlassen oder nicht in Vergessenheit geraten. Die Hand, die malt, gleicht der Hand, die schreibt, aber die Prämissen liegen jeweils woanders. Ein arg vernachlässigtes literarisches Feld im Königlichen Spiel sind freilich die dem Schachmotiv gewidmeten Poeme. Bekannt ist vielleicht noch, dass seit dem 10. Jahrhundert literarische Zeugnisse nachweisbar sind. Das Mittelalter war eine Zeit, die dem Schach sehr zugetan war und das weite Spektrum zwischen moralischer Belehrung und erotischem Vergnügen abdeckte.
Sich mit den frühen Schachgedichten auseinanderzusetzen, hat Matthias Aumüller für sein beachtenswertes Buch "Das Schachspiel in der europäischen Literatur" zur Feder gegriffen. Leider ein Dunkelfeld im öffentlichen Bewußtsein als auch bei den Schachjüngern selbst bietet sein Arbeitsthema aus vielerlei Gründen Anregendes für den Geist wie auch Erkenntnisgewinn für den Verstand.
Schon Literatur zu beurteilen und dabei kritische Gedanken miteinzuflechten, fordert den Forscher ungemein heraus. Beim Schach kommt hinzu, dass es ohne strikten gesellschaftlichen Bezug, Religiosität und Ordnung nicht zu denken ist, solange man sich im Mittelalter bewegt. Erschwerend macht die Sache, dass Spezialdisziplinen wie Katalanistik, Latinistik, Polonistik, Italianistik und Anglistik in ihren älteren Verfasstheiten, also in der Sprache der Poeme, von Linguisten bereits das Äußerste abverlangen.
Aumüller hat bei seiner Reise in die literarische Schachgeschichte, die er mit Bedacht als populärwissenschaftlich ausweist, mit einer leicht verständlichen Tinte geschrieben. Ohne diese Behutsamkeit müssten Laien ansonsten an dem Buch verzweifeln. So allerdings erfährt man, dass der früheste Beleg im christlichen Europa das mittelalterliche Schachgedicht "Versus de scachis" markiert, das im Kloster Einsiedeln aufbewahrt wird.
Allerdings geht es hierbei im Wesentlichen um die Regeln des Schachspiels. Die vier nachfolgenden Werke weisen mehr Gehalt auf. Insbesondere das vom Dominikanermöch Jacobus de Cessolis gestiftete Traktat hat die Literaturgeschichte stark geprägt und für mehrere Jahrhunderte als Vorbild gedient. Aumüller zeigt indes auf, dass weder von Cessolis noch seinem Original allzu viel bekannt ist. Zum einen, weil man seinen Text stellenweise fehlerhaft abgeschrieben, übersetzt, nacherzählt hat, dass Verse gar umgedichtet wurden. Aumüller spricht daher vom "Cessolis-Komplex".
Wie es sich für einen Geistlichen seiner Zeit gehörte, hat sich Cessolis vor allem über die Sitten der Menschen und die Pflichten des Adels und des Volkes ausgelassen und dabei das Schachspiel als Manifestation einer göttlichen Domäne genommen. Im Widerstreit dazu standen die späteren Poeme von Marco Girolamo Vida, Jan Kochanowski, Giambattista Marino und William Jones, die neue Kontexte schufen und das Schach dem Zeitgeist anpassten, sei es in der aufklärerischen Tradition oder als heimliches Liebesabenteuer.
Es kann nicht überraschen, dass die Wandlung im Stil, die gezogenen Konsequenzen und der Angleich an Humanismus, Neuzeit und Moderne in allen europäischen Königreichen und Staaten verschiedene Wege gingen und so mag man nicht in der Haut des Autors stecken wollen, dem trotz dieser schier unnahbaren Aufgabe keine grauen Haare wuchsen.
Schach wurde nicht nur auf dem Brett gespielt, es hat die Seele Europas, Schrift, Sprache und und ihre Gedankenwelten nicht minder beeinflusst. Wer von dieser Genesis in der europäischen Literaturgeschichte etwas erfahren möchte und auch schwierige Texte nicht scheut, wird hier eine wahre Fundgrube finden. Das Buch hat Jahrhunderte auf 266 Seiten komprimiert. Und man muss bedenken, dass die frühen Autoren im Wesentlichen eine Schachpartie in Poesie gekleidet haben.
Was für eine famose Idee, zu der unsere Altvorderen noch imstande waren. So trifft der Leser, lang bevor das Schach zu einer "Beschäftigung von Außenseitern mit hohem Spezialisierungsgrad" (S. 243) wurde, auf längst verflossene Zeiten. Und einmal mehr zeigt sich, dass das Schach nicht wegzudenken ist aus der Literatur- und Gesellschaftsgeschichte auf dem Boden Europas. Was Menschen tun, denken und schaffen gehörte immer schon zusammen. Dies aufgedeckt zu haben, gebührt Aumüller höchster Respekt.
5. Juni 2024
Matthias Aumüller
Das Schachspiel in der europäischen Literatur
Von den Anfängen bis zu den großen Schach-Poemen der Frühen Neuzeit
Joachim Beyer Verlag 2023
266 Seiten, 34,80 EUR
ISBN 978-3-95920-190-2
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 181 vom 29. Juni 2024
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