Karsten Müller
Typisch Französisch
Effektives Mittelspieltraining
Buchcover: © by Joachim Beyer Verlag
Der Dreh braucht Zeit, aber die Analysestunden müssen auch gewinnbringend investiert sein. Bekanntermaßen gibt die Eröffnung die Strategie vor, zumindest für die erste Phase der Partie gilt dies. Nach der Konstellation der Bauern vor allem im Zentrum gruppieren sich die eigenen Figuren auf den wirksamsten Feldern. Beide Seiten sind bemüht, die Mitte zu besetzen bzw. Kontrolle und Druck darauf auszuüben. Irgendwann, sofern beide Spieler korrekt vorgegangen sind, stellt sich die Frage nach der Mittelspielstrategie, was nichts anderes bedeutet, als einen Durchbruch zu organisieren respektive diesen zu verhindern und selbst die Initiative zu ergreifen.
Und damit fängt das Problem an. Eröffnungsbücher vermitteln diese nun dringend nötige Mittelspielstrategie nämlich nicht im erforderlichen Maße, und der schnelle Griff zu einem Strategiebuch laboriert daran, dass Strategie ein dehnbarer Begriff ist, dessen Bedienung verschiedene Faktoren zu berücksichtigen hat.
Das Exempel einer daraufhin analysierten Partie gibt jedoch nur vor, wie dieser oder jener Meister seinen Erfolg regelrecht durchgesetzt hat. Allein der Leser kann über das einzelne Beispiel kein allgemeines Verständnis zur Strategie gewinnen. Wer einmal eine Mittelspiellektüre studiert hat, weiß, dass der Blick auf spezifische Merkmale zur Verallgemeinerung nicht taugt. So wird der suchende Geist immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen.
Mit "Typisch Sizilianisch" hat der Hamburger Großmeister Karsten Müller im Jahre 2022 bereits eine Idee veröffentlicht, die dieses Malheur beheben könnte. Eben weil Mittelspiellehrbücher aus einem großen Repertoire schöpfen, um die Grundzüge der Strategie an den Mann zu bringen, ist die Auswahl der präsentierten Partien stets willkürlich und nicht eröffnungsspezifisch angelegt, also nicht auf eine bestimmte Eröffnung zugeschnitten.
Müllers Verbesserungsversuch nimmt nun einen zweiten Anlauf mit "Typisch Französisch", und wieder geht es, wie im Untertitel erwähnt, um ein "Effektives Mittelspieltraining". Der Vorzug dieser Art von Behandlung ist, dass Müller den Aspekt zur Einübung in die Welt der Strategie auf eine einzelne Eröffnung beschränkt. Der Leser lernt so, aus der uferlosen Weite die für ihn charakteristische und sinnstiftende Methodik herauszufiltern.
Wie der renommierte Großmeister im Vorwort angibt, macht es keinen Sinn, sich mit den beispielsweise aus dem Damengambit resultierenden Feinheiten dieser Eröffnung auseinanderzusetzen, wenn der Akteur überhaupt kein Damengambit spielt. Für den Leser ist nur interessant: Wie kann ich mit oder gegen die Französische Verteidigung bestehen? Dazu wählt der Autor den Pfad über die französisch-spezifischen Bauernstrukturen im Zentrum.
Im anschließenden Kapitel stellt Müller 110 Aufgaben aus dem französischen Komplex vor, die dann im Lösungsteil ausführlich behandelt und dargestellt werden. Die konkreten Fragestellungen laufen unter unterschiedlichen Rubriken wie "Gewaltmaßnahme oder Drucksteigerung" bzw. "Scherzartikel" und "Einziger Zug". Damit entfällt der für Strategiebücher so hemmende Bierernst, der es schwermacht, in die Materie hereinzuwachsen.
Die Lösungen sind gründlich analysiert und auf den neuesten Stand gebracht. Müller geht auf Nebenvarianten ebenso ein wie er fehlerhafte Motive als solche klarstellt. So wird ein umfangreiches Reservoir im Französischen zu hinterfragender Vorgehensweisen nähergebracht. Die Partien stammen überwiegend aus dem vorigen Jahrhundert, sparen jedoch auch mit Material aus den 2000ern nicht. Abgedeckt wird die ganze Fülle strategierelevanter Pläne und Manöver, um kleinste positionelle Vorteile zu sichern. Denn die Französische Verteidigung ist kein taktischer Degen, wie er in der Sizilianischen Verteidigung geläufig ist. Das macht die Sache, auf die federführende Strategie zu kommen, leicht.
Das Hinarbeiten auf einen Schlüsselzug ist genauso bedeutsam wie die Einhaltung der strategischen Richtlinien. Typisch für den Schwarzspieler ist das Problem mit dem "französischen Läufer", der durch die e6-d5-Bauernstruktur auf die Größe eines Bauern reduziert wird. Diese und andere Faktoren bestimmen das Spiel auf beiden Seiten. Die Pläne müssen daher langfristig sein. Der angestrebte Durchbruch ist ein Kind mühsamer Umsetzungen auf dem Brett.
Dieses Buch will keine Eröffnungsliteratur stiften, kein Studium von Haupt- und Untervarianten anbieten, die ein Gedächtnis oft schwer aufächzen lassen. Allein zum Zweck, das strategische Fragezeichen aus der Richtung einer einzelnen Eröffnung präsentabel zu machen, ist es konzipiert worden. Und hier hat Müller wirklich Umwälzendes in die Welt gebracht, ein Ansatz, der bisher gar nicht oder bestenfalls unreif aufs Papier gebannt wurde.
Man darf hoffen, dass Müllers kühne Behandlungswahl des Themas auf andere Autoren abfärbt und so eine neue Zukunft beschritten wird in der unumgänglichen Frage: Wie werde ich Herr im Hause meiner Strategie und nicht bloß ein Zögling des Zufalls? Respekt vor diesem Werk, dass das Schachdenken auf eine neue Stufe des Lernens stellt.
24. Januar 2025
Karsten Müller
Typisch Französisch
Effektives Mittelspieltraining
Joachim Beyer Verlag 2024
192 Seiten, 22,80 EUR
ISBN 978-3-95920-207-7
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