Roland Voggenauer, Carsten Peters
64 Unsterbliche Schachpartien
Eine Sammlung schachlicher Kunstwerke aus 400 Jahren Schachgeschichte
Buchcover: © by Joachim Beyer Verlag
Ein Kuriosum, heißt es doch im Vorwort: "Warum sollten heute noch Schachbücher geschrieben werden?" Ein Stirnrunzeln dürfte wohl die natürlichste Reaktion darauf sein. Es stimmt schon, auf alle Fragen und etwaige Zweifel sind im Netz Antworten abrufbar oder doch wenigstens Pfade zu entdecken, die zu einer Klärung des Frageinhalts führen können. Dem Autorengespann war dies bewusst, es ging ihm jedoch um etwas anderes.
Das Zentrum ihres Anliegens umfasst all jene Partien, die auf glänzende Weise gewonnen wurden und Lust beim Nachspielen erzeugen. Nun ist der Ansatz, zunächst die Spreu vom Weizen zu trennen, in Fachkreisen nichts Besonderes, zumal Anthologien von Turnierpartien keinen anderen Zweck als ebendiesen erfüllen. So konstruierten die Autoren einen kleinen Umweg zum Herzen der Leser, indem sie beteuerten, ihr Ansatz lasse die verschiedenen Zeitachsen und Epochen vor der Schwelle zum Turnierbetrieb und danach umso besser darstellen und dem Wissenseifer näherbringen.
Eine löbliche Begründung für ein Buch, sofern Anspruch und Akribie nicht selbstverständlich sein sollten. Voggenauer und Peters unterteilten die Schachgeschichte in sie prägende Abschnitte, die Einblicke gewähren sollen in die vorherrschenden Modeerscheinungen der Theorie, die damals im Umlauf waren und als Motor der Schachentwicklung dienten. Ansonsten sollten die auserlesenen Partien für sich selbst sprechen.
Man erfährt im 1. Kapitel 'Alte Meister', gemeint sind die Schachdenker vor 1800, salopp gesagt, dass sie eine neue Orientierung weg von den taktischen Schlachten am Brett und hin zu einer profunden strategischen Überlegung einleiteten. Diese Kinderstube des modernen Schachgedankens sei bestimmt von der frühen Klassifizierung der Eröffnungssysteme, die gleichwohl seinerzeit noch oft willkürlich, bestenfalls instinktiv gespielt wurden.
Die Zeit davor wäre nämlich von der arabischen Interpretation des Schachspiels beeinflusst gewesen, die Figuren zogen kurzschrittig und ein eigentlicher Plan sei noch gar nicht entwickelt worden. Dass es sich bei dieser Sichtweise um einen Allgemeinplatz ohne nähere Recherche und Gedankenarbeit handelt, dürfte nur einem blutigen Laien unbekannt sein. Gleiches gilt für den Umstand, dass Dame und Läufer in der Renaissance eine größere Reichweite und damit Schlagkraft erhielten und die Rochade als Novum Eingang ins Regelwerk fand.
Historisch gesehen ist in der Fachwelt gesichert, dass die Iberische Halbinsel die Geburtsstätte des europäischen Schachs war und in der Folge die Hochburgen in Italien, dann in Frankreich, England und schließlich in Deutschland und im Zarenreich standen. Was diesen Wechsel ausgelöst hat und welche Umdeutungen des strategischen Ziels damit verbunden waren, erfährt der aufmerksame Leser unterdessen nicht.
Das 2. Kapitel zeigt auf, dass das Schach im bürgerlichen Kontext überwiegend in Kaffeestuben um Wetteinsätze gespielt wurde und so in einem entfernten Sinne die Entwicklung des Berufsschachspielertums begünstigte, was sodann in die länderübergreifenden Turniere einmündete, die man heute kennt. Das 18. Jahrhundert wies den Autoren zufolge also die spätere Richtung zu den renommierten Meistern wie Louis La Bourdonnais, Alexander McDonell, Harold Staunton, Adolf Anderssen, Paul Morphy, Wilhelm Steinitz und Emanuel Lasker, sie erst spielten hervorragende moderne Partien und stellten das Schachspiel wohlweislich auf gesunde strategische Füße.
Das Zeitalter der Haudegen mit ihren taktischen Klingen hatte ausgedient und wich den positionellen Denkern, die den Ausgang der Partie vom ersten Zug an nicht mehr dem Schlachtenglück und genialen Einfall anvertrauten, sondern dem "Plan" und der rationalen Überprüfbarkeit. Beide Kapitel werden von einer Reihe ausgesuchter Partien begleitet, um die einzelnen Evolutionsschritte im Verständnis des Königlichen Spiels herauszuarbeiten.
Die Biografien der Meister sind knapp und kurzgehalten, dürftig, aber nicht oberflächlich. Die Kommentierung selbst verzichtet auf langatmige Analysen und Nebenwege, um den Genuss und die Freude an der jeweiligen Partie nicht zu schmälern. Die folgenden Kapitel beschäftigen sich nach dem gleichen Webmuster mit den neuen Schulen vor allem nach dem Ersten Weltkrieg, als eine Art Globalisierung ins Schachspiel einzog. Insbesondere sei es Lasker gewesen, der die Professionalisierung der Schachmeister vorantrieb.
Wie ein einzelner Mensch dies zustande bringen sollte, bleibt ebenso ein Geheimnis wie zum Beispiel die Sowjetische Schachschule und ihr Erfolg auf den großen Turnieren heruntergebrochen wird auf eine staatlich geförderte Propagandamaßnahme gegenüber dem kapitalistischen Westen. Ob dies tatsächlich bestätigt, "dass es im Schach meist Perioden gab, in denen einzelne Nationen bzw. Schulen die Szene beherrschten" (S. 117), wird nicht näher erläutert oder mit Argumenten abgestützt.
Bobby Fischer freilich passt nicht wirklich in diesen Leitfaden, da er insofern im Alleingang das System Schach herausforderte, als er den Typus des sturen Individualisten vertritt, aber auch er knüpfte Kontakte und seltene Freundschaften, bediente sich mit Bedacht der vorhandenen Verbandsstrukturen und weltweiten Turnierlandschaft. Später erfährt man im Buch, dass mit der Niederlage von Garry Kasparow im epochalen Wettkampf gegen die Denkmaschine Deep Blue eine in ihren Folgen gar nicht abzuschätzende Zäsur stattgefunden habe.
Um den Kreis zum Vorwort zurückzuschließen: Im Nachwort kommt endlich heraus, was Ziel und Idee des Buches war, nämlich, "dass eine gute Schachpartie ein Genussmittel ist, und dass der Genuss sich am ehesten einstellt, wenn man die Partien an einem wirklichen Brett und mittels der Bewegung echter Figuren nachspielt" (S. 208).
Wer läge nicht die Hand ins Feuer zur Bekräftigung dieser These. Nach wie vor ist das haptische Empfinden, mit dem Kleinkinder anfangen, ihre Welt zu erkunden, im Erwachsenen noch präsent und penibel eingeübt. Um keine Vorwürfe an das Buch wachzurufen: Gemessen daran, dass der historische Teil marginal bearbeitet ist und weiterführende Fragen nicht zur Option standen, haben die beiden Autoren ihr Bestes gegeben.
Meisterwerken der Schachkunst in voller Würdigung ihres Werts für die Schachentwicklung vor allem mit dem Blick auf den Genuss, der in unserer hochgetakteten Welt sicherlich zu kurz kommt, eine Stimme und ein handfestes Profil zu verleihen, war die zugrundeliegende Absicht der Verfasser. Knappheit kann ein legitimes Mittel sein, mitunter jedoch auch ein Ausdruck dafür, dass man nicht mehr zu sagen hat. Für den Genuss ist an dieser Tafel jedenfalls gesorgt.
24. Januar 2025
Roland Voggenauer, Carsten Peters
64 Unsterbliche Schachpartien
Eine Sammlung schachlicher Kunstwerke aus 400 Jahren Schachgeschichte
Joachim Beyer Verlag 2024
220 Seiten, 27,80 EUR
ISBN 978-3-95920-211-4
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